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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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I>er Diktator von Wilna.

laut gegen alles, was in den westlichen Grenzgebieten nicht echt russisch nach
Blut und Glaube ist. Man versteigt sich so weit, ganz ernsthaft vorzuschlagen,
daß, um die Einwanderung der Deutschen aufzuhalten, Rußland sich zum Be¬
schützer der Irländer auswerfen und diesen unglücklichen Leuten ein großes Asyl
in Polen-Littauer öffnen möge. Dies ist allein ein Beweis dafür, daß man
nachgerade hat einsehen müssen, wie vergeblich es ist, mit Gewalt, mit halber
Gewalt eine höher stehende nationale Kultur durch eine zurückstehende Nationalität
zu verdrängen. Es ist ein Eingeständnis dafür, daß das System, welches
Murawjew in Littaueu, Miljutiu und Tscherlaßki in Polen einführten, voll¬
kommen gescheitert ist. Und diese Memoiren des einstigen nationalen Helden,
so leer, selbstzufrieden und einseitig beschränkt sie sind, mögen doch die Einsicht
reifen lassen, daß es vergeblich sei, mit bloßem nationalen Selbstgefühl Völker
andern Stammes und andern Glaubens in die Bahnen des Moskanertums und
der Orthodoxie zwängen zu wollen. Ist Murawjew denn nicht mit allen ge¬
priesenen Werken vollkommen gescheitert? Hat dieses System, die polnische
Sprache, den katholischen Glauben in Littauer auszurotten, durch Bereicherung
des Bauern auf Kosten des Adels, durch Vertreibung der Polen aus aller
Verwaltung das Land russisch zu macheu, nicht völlig Schiffbruch gelitten?
Wenn heute - was übrigens thatsächlich vorläufig nicht wohl möglich ist -- der
Aufstand von 1863 sich wiederholte, wäre man denn in Petersburg der Herr¬
schaft sicherer als damals? Mnrawjew erzählt uns unbefangen, wie in Peters¬
burg, wie in der kaiserlichen Familie selbst im Jahre 1863 bereits alle Hoffnung
aufgegeben war, Polen zu halten, wie selbst Kaiser Alexander II. nur wenig
Vertrauen hatte, im Besitz Littaucns bleiben zu können. Und wir haben unser¬
seits oft erzählen hören, der Kaiser habe damals Polen dem Könige von
Preußen angeboten, der dieses Geschenk jedoch nicht habe annehmen wollen.
Murawjew rühmt sich der Wiederherstellung nicht nur der russischen Gewalt in
Littauer, sondern auch der russischen Nationalität. Ein Blick aber auf die
Wirklichkeit genügt, um zu sehen, daß wohl die Gewalt vorhanden ist, daß aber
die Bemühungen um Befestigung russischen Wesens im Volke nichts weiter ge¬
wesen sind als sehr teure, dem russischen Staat an Geld und Menschen, an
Ehre und Moral sehr teure Opfer, die vollkommen vergeblich waren. Was
nachgeblieben ist von diesem gerühmten Murawjewschen System, ist zum guten
Teil wirtschaftliche Mißregiernng, unnütze Quellen des Hasses gegen die russische
Regierung, die verstärkte Sehnsucht, von ihr loszukommen.

Was hat es genützt, daß nach dem System Mnrawjews man sich vorlog,
die Mehrzahl des Manischen Landvolkes sei eigentlich russisch nach Herkunft
und Glauben? Wie viele hat man denn in die russischen Kirchen hineingelockt,
die allenthalben mit dem Opfer vieler Millionen erbaut wurden? Werden diese
Kirchen nicht noch heute an Feiertagen notdürftig gefüllt mit abkommandirten
russischen Kanzlisten und Garnisvnsoldaten? Hofft man wirklich, daß, weil


I>er Diktator von Wilna.

laut gegen alles, was in den westlichen Grenzgebieten nicht echt russisch nach
Blut und Glaube ist. Man versteigt sich so weit, ganz ernsthaft vorzuschlagen,
daß, um die Einwanderung der Deutschen aufzuhalten, Rußland sich zum Be¬
schützer der Irländer auswerfen und diesen unglücklichen Leuten ein großes Asyl
in Polen-Littauer öffnen möge. Dies ist allein ein Beweis dafür, daß man
nachgerade hat einsehen müssen, wie vergeblich es ist, mit Gewalt, mit halber
Gewalt eine höher stehende nationale Kultur durch eine zurückstehende Nationalität
zu verdrängen. Es ist ein Eingeständnis dafür, daß das System, welches
Murawjew in Littaueu, Miljutiu und Tscherlaßki in Polen einführten, voll¬
kommen gescheitert ist. Und diese Memoiren des einstigen nationalen Helden,
so leer, selbstzufrieden und einseitig beschränkt sie sind, mögen doch die Einsicht
reifen lassen, daß es vergeblich sei, mit bloßem nationalen Selbstgefühl Völker
andern Stammes und andern Glaubens in die Bahnen des Moskanertums und
der Orthodoxie zwängen zu wollen. Ist Murawjew denn nicht mit allen ge¬
priesenen Werken vollkommen gescheitert? Hat dieses System, die polnische
Sprache, den katholischen Glauben in Littauer auszurotten, durch Bereicherung
des Bauern auf Kosten des Adels, durch Vertreibung der Polen aus aller
Verwaltung das Land russisch zu macheu, nicht völlig Schiffbruch gelitten?
Wenn heute - was übrigens thatsächlich vorläufig nicht wohl möglich ist — der
Aufstand von 1863 sich wiederholte, wäre man denn in Petersburg der Herr¬
schaft sicherer als damals? Mnrawjew erzählt uns unbefangen, wie in Peters¬
burg, wie in der kaiserlichen Familie selbst im Jahre 1863 bereits alle Hoffnung
aufgegeben war, Polen zu halten, wie selbst Kaiser Alexander II. nur wenig
Vertrauen hatte, im Besitz Littaucns bleiben zu können. Und wir haben unser¬
seits oft erzählen hören, der Kaiser habe damals Polen dem Könige von
Preußen angeboten, der dieses Geschenk jedoch nicht habe annehmen wollen.
Murawjew rühmt sich der Wiederherstellung nicht nur der russischen Gewalt in
Littauer, sondern auch der russischen Nationalität. Ein Blick aber auf die
Wirklichkeit genügt, um zu sehen, daß wohl die Gewalt vorhanden ist, daß aber
die Bemühungen um Befestigung russischen Wesens im Volke nichts weiter ge¬
wesen sind als sehr teure, dem russischen Staat an Geld und Menschen, an
Ehre und Moral sehr teure Opfer, die vollkommen vergeblich waren. Was
nachgeblieben ist von diesem gerühmten Murawjewschen System, ist zum guten
Teil wirtschaftliche Mißregiernng, unnütze Quellen des Hasses gegen die russische
Regierung, die verstärkte Sehnsucht, von ihr loszukommen.

Was hat es genützt, daß nach dem System Mnrawjews man sich vorlog,
die Mehrzahl des Manischen Landvolkes sei eigentlich russisch nach Herkunft
und Glauben? Wie viele hat man denn in die russischen Kirchen hineingelockt,
die allenthalben mit dem Opfer vieler Millionen erbaut wurden? Werden diese
Kirchen nicht noch heute an Feiertagen notdürftig gefüllt mit abkommandirten
russischen Kanzlisten und Garnisvnsoldaten? Hofft man wirklich, daß, weil


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[0405] I>er Diktator von Wilna. laut gegen alles, was in den westlichen Grenzgebieten nicht echt russisch nach Blut und Glaube ist. Man versteigt sich so weit, ganz ernsthaft vorzuschlagen, daß, um die Einwanderung der Deutschen aufzuhalten, Rußland sich zum Be¬ schützer der Irländer auswerfen und diesen unglücklichen Leuten ein großes Asyl in Polen-Littauer öffnen möge. Dies ist allein ein Beweis dafür, daß man nachgerade hat einsehen müssen, wie vergeblich es ist, mit Gewalt, mit halber Gewalt eine höher stehende nationale Kultur durch eine zurückstehende Nationalität zu verdrängen. Es ist ein Eingeständnis dafür, daß das System, welches Murawjew in Littaueu, Miljutiu und Tscherlaßki in Polen einführten, voll¬ kommen gescheitert ist. Und diese Memoiren des einstigen nationalen Helden, so leer, selbstzufrieden und einseitig beschränkt sie sind, mögen doch die Einsicht reifen lassen, daß es vergeblich sei, mit bloßem nationalen Selbstgefühl Völker andern Stammes und andern Glaubens in die Bahnen des Moskanertums und der Orthodoxie zwängen zu wollen. Ist Murawjew denn nicht mit allen ge¬ priesenen Werken vollkommen gescheitert? Hat dieses System, die polnische Sprache, den katholischen Glauben in Littauer auszurotten, durch Bereicherung des Bauern auf Kosten des Adels, durch Vertreibung der Polen aus aller Verwaltung das Land russisch zu macheu, nicht völlig Schiffbruch gelitten? Wenn heute - was übrigens thatsächlich vorläufig nicht wohl möglich ist — der Aufstand von 1863 sich wiederholte, wäre man denn in Petersburg der Herr¬ schaft sicherer als damals? Mnrawjew erzählt uns unbefangen, wie in Peters¬ burg, wie in der kaiserlichen Familie selbst im Jahre 1863 bereits alle Hoffnung aufgegeben war, Polen zu halten, wie selbst Kaiser Alexander II. nur wenig Vertrauen hatte, im Besitz Littaucns bleiben zu können. Und wir haben unser¬ seits oft erzählen hören, der Kaiser habe damals Polen dem Könige von Preußen angeboten, der dieses Geschenk jedoch nicht habe annehmen wollen. Murawjew rühmt sich der Wiederherstellung nicht nur der russischen Gewalt in Littauer, sondern auch der russischen Nationalität. Ein Blick aber auf die Wirklichkeit genügt, um zu sehen, daß wohl die Gewalt vorhanden ist, daß aber die Bemühungen um Befestigung russischen Wesens im Volke nichts weiter ge¬ wesen sind als sehr teure, dem russischen Staat an Geld und Menschen, an Ehre und Moral sehr teure Opfer, die vollkommen vergeblich waren. Was nachgeblieben ist von diesem gerühmten Murawjewschen System, ist zum guten Teil wirtschaftliche Mißregiernng, unnütze Quellen des Hasses gegen die russische Regierung, die verstärkte Sehnsucht, von ihr loszukommen. Was hat es genützt, daß nach dem System Mnrawjews man sich vorlog, die Mehrzahl des Manischen Landvolkes sei eigentlich russisch nach Herkunft und Glauben? Wie viele hat man denn in die russischen Kirchen hineingelockt, die allenthalben mit dem Opfer vieler Millionen erbaut wurden? Werden diese Kirchen nicht noch heute an Feiertagen notdürftig gefüllt mit abkommandirten russischen Kanzlisten und Garnisvnsoldaten? Hofft man wirklich, daß, weil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/405>, abgerufen am 03.07.2024.