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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur kutherfeier.

zahlreichen Schönheiten des Stückes durch die Verschrobenheit und Phantasterei
des Verfassers so oft verdeckt und entstellt, daß zuletzt, wie Julian Schmidt
mit Recht urteilt, "eine wüste, mystische Atmosphäre das historisch-dramatische
Gemälde vollständig überschleiert." *) Nichtsdestoweniger ist das Stück seiner¬
zeit über die bedeutendsten Bühnen gegangen und hat "Epoche gemacht." In
gänzlicher Ermangelung eines bessern sollte man fast wünschen, es wieder her¬
vorgeholt zu sehen. Große Abschnitte des Dramas würden ihren Erfolg auch
heute uicht verfehlen. Vielleicht wäre eine verbessernde Bearbeitung möglich.**)

Freilich hat die dramatische Verwertung von Luthers Leben große Schwierig¬
keiten. "Ein Drama im strengern Sinne -- sagt Julian Schmidt -- läßt sich
ans Luthers Geschichte nicht machen. Die höchst wunderbare Entwicklung dieser
mächtigen, echt deutschen Natur knüpft sich an eine so komplizirte Reihe be¬
deutender und folgenreicher Gemütsbewegungen, daß es unmöglich ist, von dem
geschlossenen Kreise einer bestimmten Handlung aus auf sie zurückzublicken und
dadurch wie in einem Prozeß die Einheit der künstlerischen Idee nachträglich
herzustellen. . . . Eine andre Frage wäre es, ob nicht eine kühne Shcckespearesche
Hand aus der ganzen Breite seiner Laufbahn die hervorstechendsten Charakter-
züge aufwühlen und mit gänzlicher Hintansetzung der Zeitbestimmungen ein an¬
schauliches Charaktergemälde darstellen könnte. Zu der Abrundung eiues Kunst¬
werkes ist diese Gattung nicht geeignet, allein der Stoff würde dem Dichter zu
Hilfe kommen; er würde die Menge fesseln, wenn auch nicht nach strengen dra¬
matischen Gesetzen." Nun, einer Shakespeareschen Hand warten wir Wohl für
jetzt vergebens. Vielleicht könnten aber auf einem andern Wege auch ohne eine
solche die mit Recht hervorgekehrten Schwierigkeiten gehoben und die ebenso
richtig aufgestellten Forderungen in den Hauptpunkten befriedigt werden. Wie,
wenn man zu diesem Zwecke die Hilfe der Musik in Anspruch nähme?

Luther zu feiern ohne wesentliche Herbeiziehung der Musik müßte von
vornherein als unstatthaft erscheinen schon wegen der bekannten Stellung, welche
er selbst zu dieser Kunst eingenommen hat. "Der schönsten und herrlichsten Gaben
Gottes eine ist die Musika. Sie vertreibt den Teufel und macht dieLeute fröhlich.
Man vergißt dabei alles Zorns, Unkeuschheit und andrer Laster. Ich gebe nach
der Theologie der Musik den nächsten loouin und die höchste Ehre." Solchen
und zahlreichen ähnlichen Aussprüchen gemäß hat er die edle Kunst auch praktisch
geübt und zwar mit höchstem, epochemachenden Erfolge. In vollem Rechte ist
H- A. Kostim, wenn er in seiner Geschichte der Musik (S. 136) sagt: "Mit der
Reformation ist die Tonkunst eine Macht im Volke, eine Macht am häuslichen
Herde geworden. Der Mann, welcher der Hort und Begründer der evangelischen




*) Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. II, S. SS f. (2. Aufl.)
Wenn uicht Albert Lindners eben in diesen Tagen erschienenes Stück "Der Re¬
formator" geeigneten Ersatz bietet.
Grenzlwtcu II. 188:!. 5"
Zur kutherfeier.

zahlreichen Schönheiten des Stückes durch die Verschrobenheit und Phantasterei
des Verfassers so oft verdeckt und entstellt, daß zuletzt, wie Julian Schmidt
mit Recht urteilt, „eine wüste, mystische Atmosphäre das historisch-dramatische
Gemälde vollständig überschleiert." *) Nichtsdestoweniger ist das Stück seiner¬
zeit über die bedeutendsten Bühnen gegangen und hat „Epoche gemacht." In
gänzlicher Ermangelung eines bessern sollte man fast wünschen, es wieder her¬
vorgeholt zu sehen. Große Abschnitte des Dramas würden ihren Erfolg auch
heute uicht verfehlen. Vielleicht wäre eine verbessernde Bearbeitung möglich.**)

Freilich hat die dramatische Verwertung von Luthers Leben große Schwierig¬
keiten. „Ein Drama im strengern Sinne — sagt Julian Schmidt — läßt sich
ans Luthers Geschichte nicht machen. Die höchst wunderbare Entwicklung dieser
mächtigen, echt deutschen Natur knüpft sich an eine so komplizirte Reihe be¬
deutender und folgenreicher Gemütsbewegungen, daß es unmöglich ist, von dem
geschlossenen Kreise einer bestimmten Handlung aus auf sie zurückzublicken und
dadurch wie in einem Prozeß die Einheit der künstlerischen Idee nachträglich
herzustellen. . . . Eine andre Frage wäre es, ob nicht eine kühne Shcckespearesche
Hand aus der ganzen Breite seiner Laufbahn die hervorstechendsten Charakter-
züge aufwühlen und mit gänzlicher Hintansetzung der Zeitbestimmungen ein an¬
schauliches Charaktergemälde darstellen könnte. Zu der Abrundung eiues Kunst¬
werkes ist diese Gattung nicht geeignet, allein der Stoff würde dem Dichter zu
Hilfe kommen; er würde die Menge fesseln, wenn auch nicht nach strengen dra¬
matischen Gesetzen." Nun, einer Shakespeareschen Hand warten wir Wohl für
jetzt vergebens. Vielleicht könnten aber auf einem andern Wege auch ohne eine
solche die mit Recht hervorgekehrten Schwierigkeiten gehoben und die ebenso
richtig aufgestellten Forderungen in den Hauptpunkten befriedigt werden. Wie,
wenn man zu diesem Zwecke die Hilfe der Musik in Anspruch nähme?

Luther zu feiern ohne wesentliche Herbeiziehung der Musik müßte von
vornherein als unstatthaft erscheinen schon wegen der bekannten Stellung, welche
er selbst zu dieser Kunst eingenommen hat. „Der schönsten und herrlichsten Gaben
Gottes eine ist die Musika. Sie vertreibt den Teufel und macht dieLeute fröhlich.
Man vergißt dabei alles Zorns, Unkeuschheit und andrer Laster. Ich gebe nach
der Theologie der Musik den nächsten loouin und die höchste Ehre." Solchen
und zahlreichen ähnlichen Aussprüchen gemäß hat er die edle Kunst auch praktisch
geübt und zwar mit höchstem, epochemachenden Erfolge. In vollem Rechte ist
H- A. Kostim, wenn er in seiner Geschichte der Musik (S. 136) sagt: „Mit der
Reformation ist die Tonkunst eine Macht im Volke, eine Macht am häuslichen
Herde geworden. Der Mann, welcher der Hort und Begründer der evangelischen




*) Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. II, S. SS f. (2. Aufl.)
Wenn uicht Albert Lindners eben in diesen Tagen erschienenes Stück „Der Re¬
formator" geeigneten Ersatz bietet.
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[0401] Zur kutherfeier. zahlreichen Schönheiten des Stückes durch die Verschrobenheit und Phantasterei des Verfassers so oft verdeckt und entstellt, daß zuletzt, wie Julian Schmidt mit Recht urteilt, „eine wüste, mystische Atmosphäre das historisch-dramatische Gemälde vollständig überschleiert." *) Nichtsdestoweniger ist das Stück seiner¬ zeit über die bedeutendsten Bühnen gegangen und hat „Epoche gemacht." In gänzlicher Ermangelung eines bessern sollte man fast wünschen, es wieder her¬ vorgeholt zu sehen. Große Abschnitte des Dramas würden ihren Erfolg auch heute uicht verfehlen. Vielleicht wäre eine verbessernde Bearbeitung möglich.**) Freilich hat die dramatische Verwertung von Luthers Leben große Schwierig¬ keiten. „Ein Drama im strengern Sinne — sagt Julian Schmidt — läßt sich ans Luthers Geschichte nicht machen. Die höchst wunderbare Entwicklung dieser mächtigen, echt deutschen Natur knüpft sich an eine so komplizirte Reihe be¬ deutender und folgenreicher Gemütsbewegungen, daß es unmöglich ist, von dem geschlossenen Kreise einer bestimmten Handlung aus auf sie zurückzublicken und dadurch wie in einem Prozeß die Einheit der künstlerischen Idee nachträglich herzustellen. . . . Eine andre Frage wäre es, ob nicht eine kühne Shcckespearesche Hand aus der ganzen Breite seiner Laufbahn die hervorstechendsten Charakter- züge aufwühlen und mit gänzlicher Hintansetzung der Zeitbestimmungen ein an¬ schauliches Charaktergemälde darstellen könnte. Zu der Abrundung eiues Kunst¬ werkes ist diese Gattung nicht geeignet, allein der Stoff würde dem Dichter zu Hilfe kommen; er würde die Menge fesseln, wenn auch nicht nach strengen dra¬ matischen Gesetzen." Nun, einer Shakespeareschen Hand warten wir Wohl für jetzt vergebens. Vielleicht könnten aber auf einem andern Wege auch ohne eine solche die mit Recht hervorgekehrten Schwierigkeiten gehoben und die ebenso richtig aufgestellten Forderungen in den Hauptpunkten befriedigt werden. Wie, wenn man zu diesem Zwecke die Hilfe der Musik in Anspruch nähme? Luther zu feiern ohne wesentliche Herbeiziehung der Musik müßte von vornherein als unstatthaft erscheinen schon wegen der bekannten Stellung, welche er selbst zu dieser Kunst eingenommen hat. „Der schönsten und herrlichsten Gaben Gottes eine ist die Musika. Sie vertreibt den Teufel und macht dieLeute fröhlich. Man vergißt dabei alles Zorns, Unkeuschheit und andrer Laster. Ich gebe nach der Theologie der Musik den nächsten loouin und die höchste Ehre." Solchen und zahlreichen ähnlichen Aussprüchen gemäß hat er die edle Kunst auch praktisch geübt und zwar mit höchstem, epochemachenden Erfolge. In vollem Rechte ist H- A. Kostim, wenn er in seiner Geschichte der Musik (S. 136) sagt: „Mit der Reformation ist die Tonkunst eine Macht im Volke, eine Macht am häuslichen Herde geworden. Der Mann, welcher der Hort und Begründer der evangelischen *) Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. II, S. SS f. (2. Aufl.) Wenn uicht Albert Lindners eben in diesen Tagen erschienenes Stück „Der Re¬ formator" geeigneten Ersatz bietet. Grenzlwtcu II. 188:!. 5"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/401>, abgerufen am 03.07.2024.