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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Reichshauptstadt im Roman.

so unglücklicher Weise als Egerien der Berliner Gesellschaft in den Vorder¬
grund, schildern die ganze Existenz Berlins so ausschließlich als die Existenz
eines großen politischen Klubs, daß schon dadurch bei aller Wahrheit im ein¬
zelnen ein falscher Totaleindruck entsteht. Die spätern Spielhagenschen Romane
"Hammer und Ambos," "Sturmflut," die immer nur zum kleinern Teile in
Berlin spielen, erfassen allerdings auch andre Probleme als die vorübergehenden
Politischen Kämpfe des Tages, spiegeln das Leben und die ursprünglichere Em¬
pfindung andrer Kreise wieder als die des politisch erregten Berlin. In Mon¬
tanes und Karl Frenzels Lebensbildern ("LAdultera," "Frau Venus") tritt
noch viel energischer zu Tage, daß die Reichshauptstadt keineswegs nur eine
Kette von Bezirksvereinen und Konsumvereinen ist, und daß trotz der Berliner
Neigung, dem allgemeinen Zug und Strom zu folgen, wahrhaftig genug indi¬
viduelle und individuell wertvolle Menschencharaktere und Menschenschicksale in
der Masse vorhanden sind. Der Roman oder besser die Folge von Romanen,
welche den Mikrokosmos der Reichshauptstadt in erschöpfender, charakteristisch
bedeutender und poetisch getragener Weise darstellt, soll noch geschrieben werden.

Von Zeit zu Zeit taucht zu dieser noch zu erringenden Krone ein Prätendent
auf. Seit einigen Jahren verkündet eine gewisse Kritik, daß auch Berlin seinen
"Zola," seinen großen Naturalisten gefunden habe, welcher "dem einzigen Ideale,
das der Menschheit geblieben ist, nachdem sie ihre Götter und Idole hat all¬
gemach versinken sehen, dem Ringen nach Wahrheit, nach ungeschminkter, unver¬
hüllter Wahrheit" ausschließlich huldige und staunenswerte Meisterschöpfnngen
hervorbringe. Der so verkündete Autor nennt sich Max Kretzer, und wir
lernten denselben vor etwa zwei Jahre" in einer Volkserzählung "Die Genossen"
zuerst kennen, welcher bei mancher UnWahrscheinlichkeit der Erfindung und
einer gewissen Neigung des Verfassers zum Platten Moralisiren doch die Vorzüge
frischer Anschaulichkeit und schlichtkrästigen Vortrags nicht fehlten. (S. Grenz¬
boten, 1881, IV, S. 29.) Inzwischen ist das Talent, welches der Verfasser
unzweifelhaft kundgab, von gar manchen entdeckt und als ein vielversprechendes
begrüßt worden. Der Autor hat rasch hintereinander einige Berliner Romane
pnblizirt, von denen der neueste Die Verkommenen (Berlin, Friedrich Lnck-
hardt, 1883) uns vorliegt. Handelte es sich in ihm um ein Buch, das einfach
aufträte, so würde jede Kritik sagen müssen, daß in dieser Erzählung aus den
Schichten der Berliner Arbeiterbevölkerung, dieser Wiedergabe ihrer Beziehungen
zu der thatsächlich oder vermeintlich über ihr stehenden Welt eine Reihe vor¬
trefflicher, lebenswahrer Schilderungen, wenn auch der unerquicklichsten Art,
nicht fehlen und daß der Verfasser mit tapfrer Ehrlichkeit um Schonung.
Duldung und Hilfe für diejenigen kämpft, welche an dem Widerspruch, der
unsittlichen Ungleichheit der moralischen Maßstäbe für die verschiednen Gesell¬
schaftsklassen, an der Sinn- und mitleidlosen Erfolg- und Genußjagd des modernen
Lebens zu Grunde gehen und verkomme". Doch mit solcher Anerkennung ist


Die Reichshauptstadt im Roman.

so unglücklicher Weise als Egerien der Berliner Gesellschaft in den Vorder¬
grund, schildern die ganze Existenz Berlins so ausschließlich als die Existenz
eines großen politischen Klubs, daß schon dadurch bei aller Wahrheit im ein¬
zelnen ein falscher Totaleindruck entsteht. Die spätern Spielhagenschen Romane
„Hammer und Ambos," „Sturmflut," die immer nur zum kleinern Teile in
Berlin spielen, erfassen allerdings auch andre Probleme als die vorübergehenden
Politischen Kämpfe des Tages, spiegeln das Leben und die ursprünglichere Em¬
pfindung andrer Kreise wieder als die des politisch erregten Berlin. In Mon¬
tanes und Karl Frenzels Lebensbildern („LAdultera," „Frau Venus") tritt
noch viel energischer zu Tage, daß die Reichshauptstadt keineswegs nur eine
Kette von Bezirksvereinen und Konsumvereinen ist, und daß trotz der Berliner
Neigung, dem allgemeinen Zug und Strom zu folgen, wahrhaftig genug indi¬
viduelle und individuell wertvolle Menschencharaktere und Menschenschicksale in
der Masse vorhanden sind. Der Roman oder besser die Folge von Romanen,
welche den Mikrokosmos der Reichshauptstadt in erschöpfender, charakteristisch
bedeutender und poetisch getragener Weise darstellt, soll noch geschrieben werden.

Von Zeit zu Zeit taucht zu dieser noch zu erringenden Krone ein Prätendent
auf. Seit einigen Jahren verkündet eine gewisse Kritik, daß auch Berlin seinen
„Zola," seinen großen Naturalisten gefunden habe, welcher „dem einzigen Ideale,
das der Menschheit geblieben ist, nachdem sie ihre Götter und Idole hat all¬
gemach versinken sehen, dem Ringen nach Wahrheit, nach ungeschminkter, unver¬
hüllter Wahrheit" ausschließlich huldige und staunenswerte Meisterschöpfnngen
hervorbringe. Der so verkündete Autor nennt sich Max Kretzer, und wir
lernten denselben vor etwa zwei Jahre» in einer Volkserzählung „Die Genossen"
zuerst kennen, welcher bei mancher UnWahrscheinlichkeit der Erfindung und
einer gewissen Neigung des Verfassers zum Platten Moralisiren doch die Vorzüge
frischer Anschaulichkeit und schlichtkrästigen Vortrags nicht fehlten. (S. Grenz¬
boten, 1881, IV, S. 29.) Inzwischen ist das Talent, welches der Verfasser
unzweifelhaft kundgab, von gar manchen entdeckt und als ein vielversprechendes
begrüßt worden. Der Autor hat rasch hintereinander einige Berliner Romane
pnblizirt, von denen der neueste Die Verkommenen (Berlin, Friedrich Lnck-
hardt, 1883) uns vorliegt. Handelte es sich in ihm um ein Buch, das einfach
aufträte, so würde jede Kritik sagen müssen, daß in dieser Erzählung aus den
Schichten der Berliner Arbeiterbevölkerung, dieser Wiedergabe ihrer Beziehungen
zu der thatsächlich oder vermeintlich über ihr stehenden Welt eine Reihe vor¬
trefflicher, lebenswahrer Schilderungen, wenn auch der unerquicklichsten Art,
nicht fehlen und daß der Verfasser mit tapfrer Ehrlichkeit um Schonung.
Duldung und Hilfe für diejenigen kämpft, welche an dem Widerspruch, der
unsittlichen Ungleichheit der moralischen Maßstäbe für die verschiednen Gesell¬
schaftsklassen, an der Sinn- und mitleidlosen Erfolg- und Genußjagd des modernen
Lebens zu Grunde gehen und verkomme». Doch mit solcher Anerkennung ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/39>, abgerufen am 01.07.2024.