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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Überseeische Annexionspläne Frankreichs und Englands.

dazu kommen, sich über französische Ländergier zu beklagen; man sollte vielmehr
meinen, was dem einen recht, sei dem andern billig.

Betrachten wir zunächst, was von seiten der Franzosen in Betreff Tonkins
geschehen ist und weiter beabsichtigt wird, so ist nicht mehr zu zweifeln, daß
man allen Ernstes an eine Eroberung dieses Landes oder doch an die Er¬
zwingung eines Protektorats über dasselbe denkt, welches praktisch einer Besitz¬
nahme desselben ungefähr gleichkommen würde. Man hat den Schiffskapitän
de Kergaradec zum außerordentlichen Gesandten am Hofe von Huc ernannt,
und er soll beauftragt werden, dem Könige Tu Duk ein Ultimatum zu übergeben.
Ferner werden die französischen Streitkräfte in Tonkin verstärkt werden. Doch
wird vorläufig an eine Expedition in großem Maßstabe nicht gedacht. Am
24. April fand ein Kabinetsrat statt, der über die Angelegenheit Beschluß faßte.
Nach diesem wird von den Kammern ein Kredit von fünf Millionen Franks zur
Wahrung der Rechte Frankreichs in Tonkin verlangt werden, und zwei Trans¬
portschiffe sollen 1500 Mann nach diesem Lande bringen, sobald der Kredit
bewilligt ist.

Mittlerweile hat der bereits dort befindliche Kommandant Riviere einen
beträchtlichen Vorteil errungen, indem er sich der Festung Nam Din bemächtigt
hat. Dieselbe ist die Hauptstadt eines der reichsten und fruchtbarsten Bezirke
von Tonkin und liegt in einer weitgedehnten, von zahlreichen Kanälen durch¬
schnittenen Ebene, die eine Bevölkerung von mehr als zwei Millionen Seelen
hat. Sie war ferner bisher der Mittelpunkt aller den französischen Interessen
besonders feindlichen Elemente des Landes, der cmnamitischen und der Mandarinen¬
partei. Ihre Bedeutung wurde dadurch anerkannt, daß FraneMs Garnier sie
während der Expedition von 1873 besetzte, und daß dies als eines der wich¬
tigsten Ereignisse jenes Feldzugs bezeichnet wurde. Aber Nam Din ist auch
aus rein strategischen Gründen ein höchst wünschenswerter Besitz. Die Haupt¬
stadt Tonkins läßt sich auf andern Wegen erreichen, unter denen der am häu¬
figsten benutzte der Songtschikannl und der Arm des Kuakamflusfes ist, an dessen
Mündung der jetzt mit einer französischen Besatzung versehene Hafen von Haifong
liegt. Nam Din aber beherrscht den Hauptarm des Bode oder des Roten
Stromes, und wenn sich Riviere seiner nicht bemächtigt hätte, so würde er jeden
Augenblick einem gefährlichen Angriffe von seiten der Banden ausgesetzt gewesen
sein, welche die südliche Hälfte von Tonkin mit einer Besetzung bedrohten. Man
hofft jetzt franzosischerseits, Riviere werde in südlicher Richtung vorgehen und
sich beeilen, Um Bin, die wichtigste Stadt des Bezirks gleichen Namens, weg¬
zunehmen, die als der Schlüssel von Tonkin auf der Seite von Arran betrachtet
wird. Um Bin ist die südlichste Provinz des Landes, und da es auf der Süd¬
seite von waldbedeckten Gebirgen eingeschlossen ist. so kann man sich ihm von
Kochinchina nur auf einer Straße am Meere nähern, die von seiner Hauptstadt
beherrscht wird, welche am untersten Arme des Roten Flusses liegte. Sobald


Überseeische Annexionspläne Frankreichs und Englands.

dazu kommen, sich über französische Ländergier zu beklagen; man sollte vielmehr
meinen, was dem einen recht, sei dem andern billig.

Betrachten wir zunächst, was von seiten der Franzosen in Betreff Tonkins
geschehen ist und weiter beabsichtigt wird, so ist nicht mehr zu zweifeln, daß
man allen Ernstes an eine Eroberung dieses Landes oder doch an die Er¬
zwingung eines Protektorats über dasselbe denkt, welches praktisch einer Besitz¬
nahme desselben ungefähr gleichkommen würde. Man hat den Schiffskapitän
de Kergaradec zum außerordentlichen Gesandten am Hofe von Huc ernannt,
und er soll beauftragt werden, dem Könige Tu Duk ein Ultimatum zu übergeben.
Ferner werden die französischen Streitkräfte in Tonkin verstärkt werden. Doch
wird vorläufig an eine Expedition in großem Maßstabe nicht gedacht. Am
24. April fand ein Kabinetsrat statt, der über die Angelegenheit Beschluß faßte.
Nach diesem wird von den Kammern ein Kredit von fünf Millionen Franks zur
Wahrung der Rechte Frankreichs in Tonkin verlangt werden, und zwei Trans¬
portschiffe sollen 1500 Mann nach diesem Lande bringen, sobald der Kredit
bewilligt ist.

Mittlerweile hat der bereits dort befindliche Kommandant Riviere einen
beträchtlichen Vorteil errungen, indem er sich der Festung Nam Din bemächtigt
hat. Dieselbe ist die Hauptstadt eines der reichsten und fruchtbarsten Bezirke
von Tonkin und liegt in einer weitgedehnten, von zahlreichen Kanälen durch¬
schnittenen Ebene, die eine Bevölkerung von mehr als zwei Millionen Seelen
hat. Sie war ferner bisher der Mittelpunkt aller den französischen Interessen
besonders feindlichen Elemente des Landes, der cmnamitischen und der Mandarinen¬
partei. Ihre Bedeutung wurde dadurch anerkannt, daß FraneMs Garnier sie
während der Expedition von 1873 besetzte, und daß dies als eines der wich¬
tigsten Ereignisse jenes Feldzugs bezeichnet wurde. Aber Nam Din ist auch
aus rein strategischen Gründen ein höchst wünschenswerter Besitz. Die Haupt¬
stadt Tonkins läßt sich auf andern Wegen erreichen, unter denen der am häu¬
figsten benutzte der Songtschikannl und der Arm des Kuakamflusfes ist, an dessen
Mündung der jetzt mit einer französischen Besatzung versehene Hafen von Haifong
liegt. Nam Din aber beherrscht den Hauptarm des Bode oder des Roten
Stromes, und wenn sich Riviere seiner nicht bemächtigt hätte, so würde er jeden
Augenblick einem gefährlichen Angriffe von seiten der Banden ausgesetzt gewesen
sein, welche die südliche Hälfte von Tonkin mit einer Besetzung bedrohten. Man
hofft jetzt franzosischerseits, Riviere werde in südlicher Richtung vorgehen und
sich beeilen, Um Bin, die wichtigste Stadt des Bezirks gleichen Namens, weg¬
zunehmen, die als der Schlüssel von Tonkin auf der Seite von Arran betrachtet
wird. Um Bin ist die südlichste Provinz des Landes, und da es auf der Süd¬
seite von waldbedeckten Gebirgen eingeschlossen ist. so kann man sich ihm von
Kochinchina nur auf einer Straße am Meere nähern, die von seiner Hauptstadt
beherrscht wird, welche am untersten Arme des Roten Flusses liegte. Sobald


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[0307] Überseeische Annexionspläne Frankreichs und Englands. dazu kommen, sich über französische Ländergier zu beklagen; man sollte vielmehr meinen, was dem einen recht, sei dem andern billig. Betrachten wir zunächst, was von seiten der Franzosen in Betreff Tonkins geschehen ist und weiter beabsichtigt wird, so ist nicht mehr zu zweifeln, daß man allen Ernstes an eine Eroberung dieses Landes oder doch an die Er¬ zwingung eines Protektorats über dasselbe denkt, welches praktisch einer Besitz¬ nahme desselben ungefähr gleichkommen würde. Man hat den Schiffskapitän de Kergaradec zum außerordentlichen Gesandten am Hofe von Huc ernannt, und er soll beauftragt werden, dem Könige Tu Duk ein Ultimatum zu übergeben. Ferner werden die französischen Streitkräfte in Tonkin verstärkt werden. Doch wird vorläufig an eine Expedition in großem Maßstabe nicht gedacht. Am 24. April fand ein Kabinetsrat statt, der über die Angelegenheit Beschluß faßte. Nach diesem wird von den Kammern ein Kredit von fünf Millionen Franks zur Wahrung der Rechte Frankreichs in Tonkin verlangt werden, und zwei Trans¬ portschiffe sollen 1500 Mann nach diesem Lande bringen, sobald der Kredit bewilligt ist. Mittlerweile hat der bereits dort befindliche Kommandant Riviere einen beträchtlichen Vorteil errungen, indem er sich der Festung Nam Din bemächtigt hat. Dieselbe ist die Hauptstadt eines der reichsten und fruchtbarsten Bezirke von Tonkin und liegt in einer weitgedehnten, von zahlreichen Kanälen durch¬ schnittenen Ebene, die eine Bevölkerung von mehr als zwei Millionen Seelen hat. Sie war ferner bisher der Mittelpunkt aller den französischen Interessen besonders feindlichen Elemente des Landes, der cmnamitischen und der Mandarinen¬ partei. Ihre Bedeutung wurde dadurch anerkannt, daß FraneMs Garnier sie während der Expedition von 1873 besetzte, und daß dies als eines der wich¬ tigsten Ereignisse jenes Feldzugs bezeichnet wurde. Aber Nam Din ist auch aus rein strategischen Gründen ein höchst wünschenswerter Besitz. Die Haupt¬ stadt Tonkins läßt sich auf andern Wegen erreichen, unter denen der am häu¬ figsten benutzte der Songtschikannl und der Arm des Kuakamflusfes ist, an dessen Mündung der jetzt mit einer französischen Besatzung versehene Hafen von Haifong liegt. Nam Din aber beherrscht den Hauptarm des Bode oder des Roten Stromes, und wenn sich Riviere seiner nicht bemächtigt hätte, so würde er jeden Augenblick einem gefährlichen Angriffe von seiten der Banden ausgesetzt gewesen sein, welche die südliche Hälfte von Tonkin mit einer Besetzung bedrohten. Man hofft jetzt franzosischerseits, Riviere werde in südlicher Richtung vorgehen und sich beeilen, Um Bin, die wichtigste Stadt des Bezirks gleichen Namens, weg¬ zunehmen, die als der Schlüssel von Tonkin auf der Seite von Arran betrachtet wird. Um Bin ist die südlichste Provinz des Landes, und da es auf der Süd¬ seite von waldbedeckten Gebirgen eingeschlossen ist. so kann man sich ihm von Kochinchina nur auf einer Straße am Meere nähern, die von seiner Hauptstadt beherrscht wird, welche am untersten Arme des Roten Flusses liegte. Sobald

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/307>, abgerufen am 03.07.2024.