Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Problem des Lebens.

zesse, aus denen sich der Aufbau des Lebens ergiebt. "Mikroskopisch klein sind
die chemischen Werkstätten, unbedeutend die Stoffauswahl, über die sie verfügen,
minimal die absoluten Mengen, mit denen gearbeitet wird, nichtssagend die
äußern Hilfsmittel, die zu Gebote stehen, überaus großartig dagegen erscheinen
die Erfolge in deu Augen eines jeden Chemikers, wenn er sie mit den Resul¬
taten seines Laboratoriums in Parallele stellt. Die einfachste Pflanzenzelle
offenbart ihm da eine Darstcllungskunst, welche auch die Gelehrtesten und Ge¬
schicktesten seines Faches ihr nicht abzulernen vermocht, eine Kunst, die eine so
genaue Stoffkenntnis voraussetzt, wie sie nie ein Chemiker besitzen wird, "ud
eine so sichere Handhabung der Stoffe, zu der es nie ein Sterblicher bringen
wird." (Dressel, Der belebte und unbelebte Stoff, S. 31.)

Dieser Assimilationsprozeß der Pflanze hat eine ganz bestimmte Richtung.
Einmal geht er darauf hinaus, zuletzt in den atomreichsten Eiweißkombinationen
mit der größten innern Atomverschiebbarkeit die größte chemische Spannkraft oder
Reaktionsfähigkeit zu erreichen, durch welche diese Stoffe von innen heraus dis-
ponirt werden, bei der ersten besten Gelegenheit sich und andre Stoffe in den
lebhaftesten Strudel chemischer Atombewegung hineinzustürzen. Zweitens wird
in der Assimilation mit dem Stoffumsatz eine immer wachsende Einnahme von
Wärme und damit an Kraft erzielt. Es folgt dies letztere nicht nur aus
dem allgemeinen theoretischen Satz von der Erhaltung d^r Kraft und der Ma¬
terie, die Thermochemie hat es sogar durch Experimente nachgewiesen und hat
die bei der Assimilation gewonnene Wärme und die durch sie dargestellte Energie
genau gemessen. Aus keiner andern Quelle stammt sie als aus der Sonne,
der Trägerin und Erzeugerin der gesamten Energie, die in unserm Erdsystcm
aufgespeichert wird.

Mit dem Vorgange der Assimilation ist zugleich der der Desassimilation
verbunden. Neben einer Aneignung von Atomen geht eine Freilassung derselben
ans dem Organismus des Protoplasteu unmittelbar nebenher, nicht plötzlich und
stürmisch, sondern langsam und geordnet, indem die ausscheidenden Stoffe durch
den Protoplasten in immer einfachere, energieärmere Verbindungen hinabgeführt
werden, bis sie in vollständiger Freiheit wieder in den ihrer Assimilation voran¬
gehenden Zustand versetzt sind. Bei entwickelten Organismen nennt man diesen
Vorgang Atmung. Daß diese freiwerdende Energie eben zum Zweck der Selbst-
bewegung von dein Protoplasten gebraucht wird und daß, wie in den Tieren
jede Bewegungsarbeit der Muskeln eine ihr proportionale Verbrennung or¬
ganischer Substanz und eine ihr äquivalente Kmfterzengnng zur Voraussetzung
hat, so auch in der Zelle bei jeder Protoplasmakoutraktiou ein Teil der Plasma¬
substanz verbrannt und vcratmet wird, haben Kühnes Untersuchungen überzeugend
dargethan.

Die Wichtigkeit der Assimilation und Desassimilation für das Leben der
Zelle ist also klar: die Assimilation bereitet die Bewegung der Zelle vor, die


Das Problem des Lebens.

zesse, aus denen sich der Aufbau des Lebens ergiebt. „Mikroskopisch klein sind
die chemischen Werkstätten, unbedeutend die Stoffauswahl, über die sie verfügen,
minimal die absoluten Mengen, mit denen gearbeitet wird, nichtssagend die
äußern Hilfsmittel, die zu Gebote stehen, überaus großartig dagegen erscheinen
die Erfolge in deu Augen eines jeden Chemikers, wenn er sie mit den Resul¬
taten seines Laboratoriums in Parallele stellt. Die einfachste Pflanzenzelle
offenbart ihm da eine Darstcllungskunst, welche auch die Gelehrtesten und Ge¬
schicktesten seines Faches ihr nicht abzulernen vermocht, eine Kunst, die eine so
genaue Stoffkenntnis voraussetzt, wie sie nie ein Chemiker besitzen wird, »ud
eine so sichere Handhabung der Stoffe, zu der es nie ein Sterblicher bringen
wird." (Dressel, Der belebte und unbelebte Stoff, S. 31.)

Dieser Assimilationsprozeß der Pflanze hat eine ganz bestimmte Richtung.
Einmal geht er darauf hinaus, zuletzt in den atomreichsten Eiweißkombinationen
mit der größten innern Atomverschiebbarkeit die größte chemische Spannkraft oder
Reaktionsfähigkeit zu erreichen, durch welche diese Stoffe von innen heraus dis-
ponirt werden, bei der ersten besten Gelegenheit sich und andre Stoffe in den
lebhaftesten Strudel chemischer Atombewegung hineinzustürzen. Zweitens wird
in der Assimilation mit dem Stoffumsatz eine immer wachsende Einnahme von
Wärme und damit an Kraft erzielt. Es folgt dies letztere nicht nur aus
dem allgemeinen theoretischen Satz von der Erhaltung d^r Kraft und der Ma¬
terie, die Thermochemie hat es sogar durch Experimente nachgewiesen und hat
die bei der Assimilation gewonnene Wärme und die durch sie dargestellte Energie
genau gemessen. Aus keiner andern Quelle stammt sie als aus der Sonne,
der Trägerin und Erzeugerin der gesamten Energie, die in unserm Erdsystcm
aufgespeichert wird.

Mit dem Vorgange der Assimilation ist zugleich der der Desassimilation
verbunden. Neben einer Aneignung von Atomen geht eine Freilassung derselben
ans dem Organismus des Protoplasteu unmittelbar nebenher, nicht plötzlich und
stürmisch, sondern langsam und geordnet, indem die ausscheidenden Stoffe durch
den Protoplasten in immer einfachere, energieärmere Verbindungen hinabgeführt
werden, bis sie in vollständiger Freiheit wieder in den ihrer Assimilation voran¬
gehenden Zustand versetzt sind. Bei entwickelten Organismen nennt man diesen
Vorgang Atmung. Daß diese freiwerdende Energie eben zum Zweck der Selbst-
bewegung von dein Protoplasten gebraucht wird und daß, wie in den Tieren
jede Bewegungsarbeit der Muskeln eine ihr proportionale Verbrennung or¬
ganischer Substanz und eine ihr äquivalente Kmfterzengnng zur Voraussetzung
hat, so auch in der Zelle bei jeder Protoplasmakoutraktiou ein Teil der Plasma¬
substanz verbrannt und vcratmet wird, haben Kühnes Untersuchungen überzeugend
dargethan.

Die Wichtigkeit der Assimilation und Desassimilation für das Leben der
Zelle ist also klar: die Assimilation bereitet die Bewegung der Zelle vor, die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0293" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153042"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Problem des Lebens.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1182" prev="#ID_1181"> zesse, aus denen sich der Aufbau des Lebens ergiebt. &#x201E;Mikroskopisch klein sind<lb/>
die chemischen Werkstätten, unbedeutend die Stoffauswahl, über die sie verfügen,<lb/>
minimal die absoluten Mengen, mit denen gearbeitet wird, nichtssagend die<lb/>
äußern Hilfsmittel, die zu Gebote stehen, überaus großartig dagegen erscheinen<lb/>
die Erfolge in deu Augen eines jeden Chemikers, wenn er sie mit den Resul¬<lb/>
taten seines Laboratoriums in Parallele stellt. Die einfachste Pflanzenzelle<lb/>
offenbart ihm da eine Darstcllungskunst, welche auch die Gelehrtesten und Ge¬<lb/>
schicktesten seines Faches ihr nicht abzulernen vermocht, eine Kunst, die eine so<lb/>
genaue Stoffkenntnis voraussetzt, wie sie nie ein Chemiker besitzen wird, »ud<lb/>
eine so sichere Handhabung der Stoffe, zu der es nie ein Sterblicher bringen<lb/>
wird."  (Dressel, Der belebte und unbelebte Stoff, S. 31.)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1183"> Dieser Assimilationsprozeß der Pflanze hat eine ganz bestimmte Richtung.<lb/>
Einmal geht er darauf hinaus, zuletzt in den atomreichsten Eiweißkombinationen<lb/>
mit der größten innern Atomverschiebbarkeit die größte chemische Spannkraft oder<lb/>
Reaktionsfähigkeit zu erreichen, durch welche diese Stoffe von innen heraus dis-<lb/>
ponirt werden, bei der ersten besten Gelegenheit sich und andre Stoffe in den<lb/>
lebhaftesten Strudel chemischer Atombewegung hineinzustürzen. Zweitens wird<lb/>
in der Assimilation mit dem Stoffumsatz eine immer wachsende Einnahme von<lb/>
Wärme und damit an Kraft erzielt. Es folgt dies letztere nicht nur aus<lb/>
dem allgemeinen theoretischen Satz von der Erhaltung d^r Kraft und der Ma¬<lb/>
terie, die Thermochemie hat es sogar durch Experimente nachgewiesen und hat<lb/>
die bei der Assimilation gewonnene Wärme und die durch sie dargestellte Energie<lb/>
genau gemessen. Aus keiner andern Quelle stammt sie als aus der Sonne,<lb/>
der Trägerin und Erzeugerin der gesamten Energie, die in unserm Erdsystcm<lb/>
aufgespeichert wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1184"> Mit dem Vorgange der Assimilation ist zugleich der der Desassimilation<lb/>
verbunden. Neben einer Aneignung von Atomen geht eine Freilassung derselben<lb/>
ans dem Organismus des Protoplasteu unmittelbar nebenher, nicht plötzlich und<lb/>
stürmisch, sondern langsam und geordnet, indem die ausscheidenden Stoffe durch<lb/>
den Protoplasten in immer einfachere, energieärmere Verbindungen hinabgeführt<lb/>
werden, bis sie in vollständiger Freiheit wieder in den ihrer Assimilation voran¬<lb/>
gehenden Zustand versetzt sind. Bei entwickelten Organismen nennt man diesen<lb/>
Vorgang Atmung. Daß diese freiwerdende Energie eben zum Zweck der Selbst-<lb/>
bewegung von dein Protoplasten gebraucht wird und daß, wie in den Tieren<lb/>
jede Bewegungsarbeit der Muskeln eine ihr proportionale Verbrennung or¬<lb/>
ganischer Substanz und eine ihr äquivalente Kmfterzengnng zur Voraussetzung<lb/>
hat, so auch in der Zelle bei jeder Protoplasmakoutraktiou ein Teil der Plasma¬<lb/>
substanz verbrannt und vcratmet wird, haben Kühnes Untersuchungen überzeugend<lb/>
dargethan.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1185" next="#ID_1186"> Die Wichtigkeit der Assimilation und Desassimilation für das Leben der<lb/>
Zelle ist also klar: die Assimilation bereitet die Bewegung der Zelle vor, die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0293] Das Problem des Lebens. zesse, aus denen sich der Aufbau des Lebens ergiebt. „Mikroskopisch klein sind die chemischen Werkstätten, unbedeutend die Stoffauswahl, über die sie verfügen, minimal die absoluten Mengen, mit denen gearbeitet wird, nichtssagend die äußern Hilfsmittel, die zu Gebote stehen, überaus großartig dagegen erscheinen die Erfolge in deu Augen eines jeden Chemikers, wenn er sie mit den Resul¬ taten seines Laboratoriums in Parallele stellt. Die einfachste Pflanzenzelle offenbart ihm da eine Darstcllungskunst, welche auch die Gelehrtesten und Ge¬ schicktesten seines Faches ihr nicht abzulernen vermocht, eine Kunst, die eine so genaue Stoffkenntnis voraussetzt, wie sie nie ein Chemiker besitzen wird, »ud eine so sichere Handhabung der Stoffe, zu der es nie ein Sterblicher bringen wird." (Dressel, Der belebte und unbelebte Stoff, S. 31.) Dieser Assimilationsprozeß der Pflanze hat eine ganz bestimmte Richtung. Einmal geht er darauf hinaus, zuletzt in den atomreichsten Eiweißkombinationen mit der größten innern Atomverschiebbarkeit die größte chemische Spannkraft oder Reaktionsfähigkeit zu erreichen, durch welche diese Stoffe von innen heraus dis- ponirt werden, bei der ersten besten Gelegenheit sich und andre Stoffe in den lebhaftesten Strudel chemischer Atombewegung hineinzustürzen. Zweitens wird in der Assimilation mit dem Stoffumsatz eine immer wachsende Einnahme von Wärme und damit an Kraft erzielt. Es folgt dies letztere nicht nur aus dem allgemeinen theoretischen Satz von der Erhaltung d^r Kraft und der Ma¬ terie, die Thermochemie hat es sogar durch Experimente nachgewiesen und hat die bei der Assimilation gewonnene Wärme und die durch sie dargestellte Energie genau gemessen. Aus keiner andern Quelle stammt sie als aus der Sonne, der Trägerin und Erzeugerin der gesamten Energie, die in unserm Erdsystcm aufgespeichert wird. Mit dem Vorgange der Assimilation ist zugleich der der Desassimilation verbunden. Neben einer Aneignung von Atomen geht eine Freilassung derselben ans dem Organismus des Protoplasteu unmittelbar nebenher, nicht plötzlich und stürmisch, sondern langsam und geordnet, indem die ausscheidenden Stoffe durch den Protoplasten in immer einfachere, energieärmere Verbindungen hinabgeführt werden, bis sie in vollständiger Freiheit wieder in den ihrer Assimilation voran¬ gehenden Zustand versetzt sind. Bei entwickelten Organismen nennt man diesen Vorgang Atmung. Daß diese freiwerdende Energie eben zum Zweck der Selbst- bewegung von dein Protoplasten gebraucht wird und daß, wie in den Tieren jede Bewegungsarbeit der Muskeln eine ihr proportionale Verbrennung or¬ ganischer Substanz und eine ihr äquivalente Kmfterzengnng zur Voraussetzung hat, so auch in der Zelle bei jeder Protoplasmakoutraktiou ein Teil der Plasma¬ substanz verbrannt und vcratmet wird, haben Kühnes Untersuchungen überzeugend dargethan. Die Wichtigkeit der Assimilation und Desassimilation für das Leben der Zelle ist also klar: die Assimilation bereitet die Bewegung der Zelle vor, die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/293
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/293>, abgerufen am 01.10.2024.