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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Das Problem des Lebens.

den faktischen Ausgangspunkt zu allen, auch den höchst organisirten Pflanzen-
und Tierleibern haben. In dem Protoplasma selbst ruht ein rundliches, ge¬
heimnisvolles Gebilde, der Zellenkern, aus ungleichen Schichten zusammengesetzt,
die in bestimmter Weise geformt und gebildet sind. Meistens hat jede Zelle
ihren Kern, es giebt jedoch Zellen, die keinen, und solche, welche Hunderte und
tausende von Kernen in sich tragen. Strasburger hält es für ausgemacht,
daß jeder Zellenkern nur wieder aus einem andern Zellenkern entspringen könne,
und daß zweitens bei einer Teilung der Zelle nur diejenigen Tochterzellen lebens-
und entwicklungsfähig seien, welche einen solchen Kern erhalten. Das Leben der
Zelle ist also an den Zellenkern gebunden. An und in dem Protoplasma
selbst herrscht ein ewiges Bewegen, nichts ist starr und fest, solid und kompakt.
Die Körnchen rutschen hin und her, bald langsamer, bald schneller, zwischen
ihnen fließen Bächlein in entgegengesetztem Lauf gegen einander. Der Zellenkern
folgt ruhelos den Verschiebungen, die sich der feinen Fädchen und Bänder des
Protoplasmas bemächtigt haben und in denen er nnr frei aufgehängt ist, er
verrät am deutlichsten die ganze Bewegsamkeit des Zellenlcibes, welche mit der
eines Tierkörpers ungemein viel Ähnlichkeit hat. Die Untersuchungen an
Pflanzen- und Tierzellen haben sogar keinen bemerkenswerten Unterschied er¬
geben, sodaß auf dieser Stufe der Entwicklung die Einheit und Gleichheit der
Lebenserscheinungen auch die Einheit des Ursprunges von Pflanze und Tier zu
offenbaren scheint.

In diesem Zellenbewohner, den man mit Hanstein füglich "Protoplast"
nennen kann, vollzieht sich nun ein ganz bestimmter Kreislauf von Bewegungen,
die bereits an entwickelten Organismen studirt waren: die sogenannte Assimi¬
lation und Desassimilation. Es sind dies Bewegungen chemischer Natur.
Die Substanz des Protoplasten ist in einer unaufhörlichen stofflichen Um¬
wälzung; die Stoffe, welche in diesem Moment noch' seinen Leib an einem be¬
stimmten Punkte zusammensetzen, sind im nächsten auseinandergesprengt und durch
neue ersetzt. Zwischen Aufbau und Abbruch, zwischen Assimilation und Des¬
assimilation wogt der chemische Stoffumsatz hin und her; Reinke hat ihn sehr
bezeichnend mit einem "Strom und Wirbel durcheinander stürmender Atom-
bewegungcn" verglichen. Der Vorgang der Assimilation entspricht dem, was
wir im gewöhnlichen Leben Nahrungsaufnahme nennen; er ist wesentlich eine
chemische Reduktion, d. h. er löst gewisse Grundstoffe, wie Kohlenstoff, Wasser¬
stoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor, aus ihren hoch oxydirten, einfach und
fest gefügten Verbindungen und verwendet sie einesteils dazu, den Leib des
Protoplasten und sein GeHänse herzustellen, andernteils dazu, seine Speisevorräte
anzulegen. Zu den Substanzen ersterer Bestimmung zählen die Eiweißsubstanzen
mit dem "Plastin" an der Spitze, zu der zweiten vorzugsweise die Zellfaser¬
substanz oder Cellulose, und zu der dritten -- der Anlegung der Speisevorräte --
das Stärkemehl und Glykogen. Eine wunderbare Kette der komplizirtesten Pro-


Das Problem des Lebens.

den faktischen Ausgangspunkt zu allen, auch den höchst organisirten Pflanzen-
und Tierleibern haben. In dem Protoplasma selbst ruht ein rundliches, ge¬
heimnisvolles Gebilde, der Zellenkern, aus ungleichen Schichten zusammengesetzt,
die in bestimmter Weise geformt und gebildet sind. Meistens hat jede Zelle
ihren Kern, es giebt jedoch Zellen, die keinen, und solche, welche Hunderte und
tausende von Kernen in sich tragen. Strasburger hält es für ausgemacht,
daß jeder Zellenkern nur wieder aus einem andern Zellenkern entspringen könne,
und daß zweitens bei einer Teilung der Zelle nur diejenigen Tochterzellen lebens-
und entwicklungsfähig seien, welche einen solchen Kern erhalten. Das Leben der
Zelle ist also an den Zellenkern gebunden. An und in dem Protoplasma
selbst herrscht ein ewiges Bewegen, nichts ist starr und fest, solid und kompakt.
Die Körnchen rutschen hin und her, bald langsamer, bald schneller, zwischen
ihnen fließen Bächlein in entgegengesetztem Lauf gegen einander. Der Zellenkern
folgt ruhelos den Verschiebungen, die sich der feinen Fädchen und Bänder des
Protoplasmas bemächtigt haben und in denen er nnr frei aufgehängt ist, er
verrät am deutlichsten die ganze Bewegsamkeit des Zellenlcibes, welche mit der
eines Tierkörpers ungemein viel Ähnlichkeit hat. Die Untersuchungen an
Pflanzen- und Tierzellen haben sogar keinen bemerkenswerten Unterschied er¬
geben, sodaß auf dieser Stufe der Entwicklung die Einheit und Gleichheit der
Lebenserscheinungen auch die Einheit des Ursprunges von Pflanze und Tier zu
offenbaren scheint.

In diesem Zellenbewohner, den man mit Hanstein füglich „Protoplast"
nennen kann, vollzieht sich nun ein ganz bestimmter Kreislauf von Bewegungen,
die bereits an entwickelten Organismen studirt waren: die sogenannte Assimi¬
lation und Desassimilation. Es sind dies Bewegungen chemischer Natur.
Die Substanz des Protoplasten ist in einer unaufhörlichen stofflichen Um¬
wälzung; die Stoffe, welche in diesem Moment noch' seinen Leib an einem be¬
stimmten Punkte zusammensetzen, sind im nächsten auseinandergesprengt und durch
neue ersetzt. Zwischen Aufbau und Abbruch, zwischen Assimilation und Des¬
assimilation wogt der chemische Stoffumsatz hin und her; Reinke hat ihn sehr
bezeichnend mit einem „Strom und Wirbel durcheinander stürmender Atom-
bewegungcn" verglichen. Der Vorgang der Assimilation entspricht dem, was
wir im gewöhnlichen Leben Nahrungsaufnahme nennen; er ist wesentlich eine
chemische Reduktion, d. h. er löst gewisse Grundstoffe, wie Kohlenstoff, Wasser¬
stoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor, aus ihren hoch oxydirten, einfach und
fest gefügten Verbindungen und verwendet sie einesteils dazu, den Leib des
Protoplasten und sein GeHänse herzustellen, andernteils dazu, seine Speisevorräte
anzulegen. Zu den Substanzen ersterer Bestimmung zählen die Eiweißsubstanzen
mit dem „Plastin" an der Spitze, zu der zweiten vorzugsweise die Zellfaser¬
substanz oder Cellulose, und zu der dritten — der Anlegung der Speisevorräte —
das Stärkemehl und Glykogen. Eine wunderbare Kette der komplizirtesten Pro-


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[0292] Das Problem des Lebens. den faktischen Ausgangspunkt zu allen, auch den höchst organisirten Pflanzen- und Tierleibern haben. In dem Protoplasma selbst ruht ein rundliches, ge¬ heimnisvolles Gebilde, der Zellenkern, aus ungleichen Schichten zusammengesetzt, die in bestimmter Weise geformt und gebildet sind. Meistens hat jede Zelle ihren Kern, es giebt jedoch Zellen, die keinen, und solche, welche Hunderte und tausende von Kernen in sich tragen. Strasburger hält es für ausgemacht, daß jeder Zellenkern nur wieder aus einem andern Zellenkern entspringen könne, und daß zweitens bei einer Teilung der Zelle nur diejenigen Tochterzellen lebens- und entwicklungsfähig seien, welche einen solchen Kern erhalten. Das Leben der Zelle ist also an den Zellenkern gebunden. An und in dem Protoplasma selbst herrscht ein ewiges Bewegen, nichts ist starr und fest, solid und kompakt. Die Körnchen rutschen hin und her, bald langsamer, bald schneller, zwischen ihnen fließen Bächlein in entgegengesetztem Lauf gegen einander. Der Zellenkern folgt ruhelos den Verschiebungen, die sich der feinen Fädchen und Bänder des Protoplasmas bemächtigt haben und in denen er nnr frei aufgehängt ist, er verrät am deutlichsten die ganze Bewegsamkeit des Zellenlcibes, welche mit der eines Tierkörpers ungemein viel Ähnlichkeit hat. Die Untersuchungen an Pflanzen- und Tierzellen haben sogar keinen bemerkenswerten Unterschied er¬ geben, sodaß auf dieser Stufe der Entwicklung die Einheit und Gleichheit der Lebenserscheinungen auch die Einheit des Ursprunges von Pflanze und Tier zu offenbaren scheint. In diesem Zellenbewohner, den man mit Hanstein füglich „Protoplast" nennen kann, vollzieht sich nun ein ganz bestimmter Kreislauf von Bewegungen, die bereits an entwickelten Organismen studirt waren: die sogenannte Assimi¬ lation und Desassimilation. Es sind dies Bewegungen chemischer Natur. Die Substanz des Protoplasten ist in einer unaufhörlichen stofflichen Um¬ wälzung; die Stoffe, welche in diesem Moment noch' seinen Leib an einem be¬ stimmten Punkte zusammensetzen, sind im nächsten auseinandergesprengt und durch neue ersetzt. Zwischen Aufbau und Abbruch, zwischen Assimilation und Des¬ assimilation wogt der chemische Stoffumsatz hin und her; Reinke hat ihn sehr bezeichnend mit einem „Strom und Wirbel durcheinander stürmender Atom- bewegungcn" verglichen. Der Vorgang der Assimilation entspricht dem, was wir im gewöhnlichen Leben Nahrungsaufnahme nennen; er ist wesentlich eine chemische Reduktion, d. h. er löst gewisse Grundstoffe, wie Kohlenstoff, Wasser¬ stoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor, aus ihren hoch oxydirten, einfach und fest gefügten Verbindungen und verwendet sie einesteils dazu, den Leib des Protoplasten und sein GeHänse herzustellen, andernteils dazu, seine Speisevorräte anzulegen. Zu den Substanzen ersterer Bestimmung zählen die Eiweißsubstanzen mit dem „Plastin" an der Spitze, zu der zweiten vorzugsweise die Zellfaser¬ substanz oder Cellulose, und zu der dritten — der Anlegung der Speisevorräte — das Stärkemehl und Glykogen. Eine wunderbare Kette der komplizirtesten Pro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/292>, abgerufen am 01.10.2024.