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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Ein Apostel der Geniezeit.

weise von andrer Seite Vernommenen, nicht ausgeschlossen ist. Ans diesen beiden
Gründen, also aus dem Widerspruch zu dem sonst über Kaufmann Bekannten
und aus der Unsicherheit einer späten Erinnerung, glauben wir schließen zu
dürfen, daß diese Briefstelle nicht als Hauptquelle für die Lösung der oben ge¬
stellten Frage zu verwenden sei, und daß ein sorgfältiger Forscher hier sich mit
einem Mu liaust zu bescheiden habe. Düntzer verwertet dieselbe als eine durch¬
aus begründete Angabe, indem er sie als "in den Hauptzügen (!) zuverlässig"
bezeichnet.

Seines Apostelamtes ziemlich müde, suchte und sand Kaufmann hilfreichen
Beistand bei dem Grafen von Haugwitz, dessen Freundschaft er sich bereits vor
seiner Reise uach Rußland erworben hatte. Er erhielt von demselben eine
Jahrespensivn, welche ihm nunmehr in der Schweiz, wohin ihn die Seinen
dringend zurückriefen, für bie Gründung eines Hausstandes und den Betrieb der
Landwirtschaft, der er sich zu widmen gedachte, von wesentlichem Nutzen war.
So kehrte er denn, begleitet von Ehrmann, welcher inzwischen in Dessau am
Philanthropin geblieben war, im Oktober 1777 wieder in die Heimat zurück.

Was war der Erfolg, den er auf seinem langen Zuge errungen hatte?
Die Antwort muß lauten: Nichts. Menschen aufzuspüren, sie zur Natur zurück¬
zuführen, war er ausgezogen; als er aber heimkehrte, waren die im Flug ge¬
wonnenen Freunde fast alle an ihm irre geworden oder wurden es binnen
kurzem. An die Stelle des vorigen Lobes und überfliegender Begeisterung trat
bald Spott und Verachtung, der "Einzige," der "Edle" ward als "Lump"
gebrandmarkt, und Satire folgte auf Satire. Dieser Umschlag ist ebenso wunderbar
wie die ehemalige Begeisterung. Wenn wir vermuten, daß die harten Tadels-
wvrte, die uns jetzt über Kaufmann entgegentönen, teilweise ihren Grund in
der eignen Beschämung darüber hatten, daß man sich von einem unreifen und
unklaren Wirrkopf derartig hatte einnehmen lassen, so finden wir dies durch
eine Äußerung Goethes an Lavater bestätigt. Auch der Fürst von Dessau, be¬
richtet er diesem, sei jetzo verwundert, "daß man sich von dem falschen Pro¬
pheten konnte die Eingeweide bewegen lassen. Alle, auf die der Kerl gewirkt
hat, kommen mir vor wie vernünftige Menschen, die einmal des Nachts vom
Alp beschwert worden sind, und bei Tage sich davon keine Rechenschaft zu gebe"
vermögen." So ging es Goethe und so manchem seiner Genossen mit Kauf¬
manns Erscheinung wie mit ihrem eignen genialen Treiben. Als der Rausch
vorüber war und Maß und Besonnenheit an die Stelle der genialen Ungebunden-
heit getreten war, kam ihnen ihr ganzes frühere Thun und Treiben als etwas
Unbegreifliches vor, sodaß sie es möglichst von sich fernzuhalten suchte". Und
darin liegt Kaufmanns historische Bedeutung, daß er, gewissermaßen die äußerste
Konsequenz von Sturm und Drang, die Originalität um jeden Preis, verkör¬
pernd, dieselbe gleichsam g-dsuräum führte und ihre UnHaltbarkeit aller Welt
offenkundig darthat.


Ein Apostel der Geniezeit.

weise von andrer Seite Vernommenen, nicht ausgeschlossen ist. Ans diesen beiden
Gründen, also aus dem Widerspruch zu dem sonst über Kaufmann Bekannten
und aus der Unsicherheit einer späten Erinnerung, glauben wir schließen zu
dürfen, daß diese Briefstelle nicht als Hauptquelle für die Lösung der oben ge¬
stellten Frage zu verwenden sei, und daß ein sorgfältiger Forscher hier sich mit
einem Mu liaust zu bescheiden habe. Düntzer verwertet dieselbe als eine durch¬
aus begründete Angabe, indem er sie als „in den Hauptzügen (!) zuverlässig"
bezeichnet.

Seines Apostelamtes ziemlich müde, suchte und sand Kaufmann hilfreichen
Beistand bei dem Grafen von Haugwitz, dessen Freundschaft er sich bereits vor
seiner Reise uach Rußland erworben hatte. Er erhielt von demselben eine
Jahrespensivn, welche ihm nunmehr in der Schweiz, wohin ihn die Seinen
dringend zurückriefen, für bie Gründung eines Hausstandes und den Betrieb der
Landwirtschaft, der er sich zu widmen gedachte, von wesentlichem Nutzen war.
So kehrte er denn, begleitet von Ehrmann, welcher inzwischen in Dessau am
Philanthropin geblieben war, im Oktober 1777 wieder in die Heimat zurück.

Was war der Erfolg, den er auf seinem langen Zuge errungen hatte?
Die Antwort muß lauten: Nichts. Menschen aufzuspüren, sie zur Natur zurück¬
zuführen, war er ausgezogen; als er aber heimkehrte, waren die im Flug ge¬
wonnenen Freunde fast alle an ihm irre geworden oder wurden es binnen
kurzem. An die Stelle des vorigen Lobes und überfliegender Begeisterung trat
bald Spott und Verachtung, der „Einzige," der „Edle" ward als „Lump"
gebrandmarkt, und Satire folgte auf Satire. Dieser Umschlag ist ebenso wunderbar
wie die ehemalige Begeisterung. Wenn wir vermuten, daß die harten Tadels-
wvrte, die uns jetzt über Kaufmann entgegentönen, teilweise ihren Grund in
der eignen Beschämung darüber hatten, daß man sich von einem unreifen und
unklaren Wirrkopf derartig hatte einnehmen lassen, so finden wir dies durch
eine Äußerung Goethes an Lavater bestätigt. Auch der Fürst von Dessau, be¬
richtet er diesem, sei jetzo verwundert, „daß man sich von dem falschen Pro¬
pheten konnte die Eingeweide bewegen lassen. Alle, auf die der Kerl gewirkt
hat, kommen mir vor wie vernünftige Menschen, die einmal des Nachts vom
Alp beschwert worden sind, und bei Tage sich davon keine Rechenschaft zu gebe»
vermögen." So ging es Goethe und so manchem seiner Genossen mit Kauf¬
manns Erscheinung wie mit ihrem eignen genialen Treiben. Als der Rausch
vorüber war und Maß und Besonnenheit an die Stelle der genialen Ungebunden-
heit getreten war, kam ihnen ihr ganzes frühere Thun und Treiben als etwas
Unbegreifliches vor, sodaß sie es möglichst von sich fernzuhalten suchte». Und
darin liegt Kaufmanns historische Bedeutung, daß er, gewissermaßen die äußerste
Konsequenz von Sturm und Drang, die Originalität um jeden Preis, verkör¬
pernd, dieselbe gleichsam g-dsuräum führte und ihre UnHaltbarkeit aller Welt
offenkundig darthat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/246>, abgerufen am 03.07.2024.