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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Lin Apostel der Geniezeit.

und hcrgezerrt wird und nicht weiß, wem er glauben, auf wen er hören soll.
Während der verständige, ruhig und klar denkende Jselin ihm rät, alle seine
intellektuellen und moralischen Fähigkeiten nach Kräften auszubilden, ihm sogar
einen vollständigen Studiengang vorschreibt, die Werke, welche er durcharbeiten
soll, anempfiehlt und ihn vor der Beschäftigung mit andern warnt, läßt Schlosser,
selbst schwankend über das gegenseitige Wertverhältnis von Natur und Kultur,
ihn erkennen, wie wenig mit einer bloßen Verstandeskultur gethan sei, welch geringer
Nutze" für das wahre Glück des Menschen aus der Verwirklichung von Basedows
Projekten entspringe" würde, wie überhaupt alle Erziehung niemals die ursprüng¬
liche Natur ändern könne. Kaufmann war nicht in der Lage, diese" Fragen
gegenüber irgend welche selbständige Stellung einzunehmen. Seiner Seele fehlte
nach seinem eignen Geständnis alle Festigkeit. In ungewöhnlichem Maße zeigte
er sich dem Eindruck des Augenblicks unterworfen. Über der Lektüre von Goethes
"Werther" n"d "Stella" ward ihm ganz empfindsam zu Mute; er versetzte sich
so in den Zustand der dargestellten Personen, daß er selbst in die Werther-
stimmung geriet und von tief innerliche" Schmerzen ergriffen zu sein glaubte.
So durfte ihm Mvchel mit Recht in einem durchaus sachlich gehaltenen Schreibe",
in dem er dem Freunde seiue Schwächen und Thorheiten, namentlich aber das
Schwankende seines Charakters vorhält, den Vorwurf machen: bei Goethe sei er
Goethe, bei Jselin Jselin, bei Schlosser Schlosser, bei Lavater Lavater, ja bei
Basedow werde er in kurzer Zeit auch Basedow sein. Aber schon fruchteten
solche Mahnungen nichts mehr, Kaufmann zog, wie er sagt, "ewig Würke",
Handeln, Thun" allem andern vor, und so erteilte er Mochel auf seine Zurecht¬
weisungen nur die Antwort, er vermöge ihn nicht zu verstehen. Er wirkte also,
ziemlich unbekümmert darum, worauf sich sein Wirken erstreckte. So wünschte
er eine Predigtsammlung unter die Landgeistlichen der Schweiz zu verteilen,
welche ihm seine Freunde liefern und worin die Bestimmung des Menschen,
der Wert der Freundschaft, Wahrheit und Gerechtigkeit, der Einfluß des öko¬
nomischen Wohles auf das moralische, Erziehung, Menschenliebe, teils mit, teils
ohne Beweisstellen aus der Bibel, die Themata bilden sollten. Aber mich für
die jungen Leute in der Stadt sorgte er, indem er sich mit der Errichtung
eines Theaters in Winterthur trug.

Dieses wilde, verworrene Wesen wurde durch Lavater noch gesteigert. Ihm
war Kaufmann das Ideal eines Kraftmenschen, den der Physiognomiker schon
in seiner ungewöhnlichen äußern Erscheinung zu erkennen meinte. Das Unge¬
lernte, Unentlehute, Unlernbare, Unentlehnbare, innig Eigentümliche, Unnach¬
ahmliche, Göttliche, das Jnspirationsmäßige erkannte er ja als Kennzeichen des
Genies; Momentaneitüt, Offenbarung, Erscheinung, Gegebenheit, Übernatur,
Überkunst, Übergelehrsamkeit, Übertaleut, Selbstleben forderte er von dem Genie,
und alle diese Tollheiten in unsern Augen, gewaltige Vorzüge in den seinen,
fand er bei Kaufmann oder ahnte sie in ihm, sodaß seine Vergötterung des Mannes


Lin Apostel der Geniezeit.

und hcrgezerrt wird und nicht weiß, wem er glauben, auf wen er hören soll.
Während der verständige, ruhig und klar denkende Jselin ihm rät, alle seine
intellektuellen und moralischen Fähigkeiten nach Kräften auszubilden, ihm sogar
einen vollständigen Studiengang vorschreibt, die Werke, welche er durcharbeiten
soll, anempfiehlt und ihn vor der Beschäftigung mit andern warnt, läßt Schlosser,
selbst schwankend über das gegenseitige Wertverhältnis von Natur und Kultur,
ihn erkennen, wie wenig mit einer bloßen Verstandeskultur gethan sei, welch geringer
Nutze» für das wahre Glück des Menschen aus der Verwirklichung von Basedows
Projekten entspringe» würde, wie überhaupt alle Erziehung niemals die ursprüng¬
liche Natur ändern könne. Kaufmann war nicht in der Lage, diese» Fragen
gegenüber irgend welche selbständige Stellung einzunehmen. Seiner Seele fehlte
nach seinem eignen Geständnis alle Festigkeit. In ungewöhnlichem Maße zeigte
er sich dem Eindruck des Augenblicks unterworfen. Über der Lektüre von Goethes
„Werther" n»d „Stella" ward ihm ganz empfindsam zu Mute; er versetzte sich
so in den Zustand der dargestellten Personen, daß er selbst in die Werther-
stimmung geriet und von tief innerliche» Schmerzen ergriffen zu sein glaubte.
So durfte ihm Mvchel mit Recht in einem durchaus sachlich gehaltenen Schreibe»,
in dem er dem Freunde seiue Schwächen und Thorheiten, namentlich aber das
Schwankende seines Charakters vorhält, den Vorwurf machen: bei Goethe sei er
Goethe, bei Jselin Jselin, bei Schlosser Schlosser, bei Lavater Lavater, ja bei
Basedow werde er in kurzer Zeit auch Basedow sein. Aber schon fruchteten
solche Mahnungen nichts mehr, Kaufmann zog, wie er sagt, „ewig Würke»,
Handeln, Thun" allem andern vor, und so erteilte er Mochel auf seine Zurecht¬
weisungen nur die Antwort, er vermöge ihn nicht zu verstehen. Er wirkte also,
ziemlich unbekümmert darum, worauf sich sein Wirken erstreckte. So wünschte
er eine Predigtsammlung unter die Landgeistlichen der Schweiz zu verteilen,
welche ihm seine Freunde liefern und worin die Bestimmung des Menschen,
der Wert der Freundschaft, Wahrheit und Gerechtigkeit, der Einfluß des öko¬
nomischen Wohles auf das moralische, Erziehung, Menschenliebe, teils mit, teils
ohne Beweisstellen aus der Bibel, die Themata bilden sollten. Aber mich für
die jungen Leute in der Stadt sorgte er, indem er sich mit der Errichtung
eines Theaters in Winterthur trug.

Dieses wilde, verworrene Wesen wurde durch Lavater noch gesteigert. Ihm
war Kaufmann das Ideal eines Kraftmenschen, den der Physiognomiker schon
in seiner ungewöhnlichen äußern Erscheinung zu erkennen meinte. Das Unge¬
lernte, Unentlehute, Unlernbare, Unentlehnbare, innig Eigentümliche, Unnach¬
ahmliche, Göttliche, das Jnspirationsmäßige erkannte er ja als Kennzeichen des
Genies; Momentaneitüt, Offenbarung, Erscheinung, Gegebenheit, Übernatur,
Überkunst, Übergelehrsamkeit, Übertaleut, Selbstleben forderte er von dem Genie,
und alle diese Tollheiten in unsern Augen, gewaltige Vorzüge in den seinen,
fand er bei Kaufmann oder ahnte sie in ihm, sodaß seine Vergötterung des Mannes


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[0239] Lin Apostel der Geniezeit. und hcrgezerrt wird und nicht weiß, wem er glauben, auf wen er hören soll. Während der verständige, ruhig und klar denkende Jselin ihm rät, alle seine intellektuellen und moralischen Fähigkeiten nach Kräften auszubilden, ihm sogar einen vollständigen Studiengang vorschreibt, die Werke, welche er durcharbeiten soll, anempfiehlt und ihn vor der Beschäftigung mit andern warnt, läßt Schlosser, selbst schwankend über das gegenseitige Wertverhältnis von Natur und Kultur, ihn erkennen, wie wenig mit einer bloßen Verstandeskultur gethan sei, welch geringer Nutze» für das wahre Glück des Menschen aus der Verwirklichung von Basedows Projekten entspringe» würde, wie überhaupt alle Erziehung niemals die ursprüng¬ liche Natur ändern könne. Kaufmann war nicht in der Lage, diese» Fragen gegenüber irgend welche selbständige Stellung einzunehmen. Seiner Seele fehlte nach seinem eignen Geständnis alle Festigkeit. In ungewöhnlichem Maße zeigte er sich dem Eindruck des Augenblicks unterworfen. Über der Lektüre von Goethes „Werther" n»d „Stella" ward ihm ganz empfindsam zu Mute; er versetzte sich so in den Zustand der dargestellten Personen, daß er selbst in die Werther- stimmung geriet und von tief innerliche» Schmerzen ergriffen zu sein glaubte. So durfte ihm Mvchel mit Recht in einem durchaus sachlich gehaltenen Schreibe», in dem er dem Freunde seiue Schwächen und Thorheiten, namentlich aber das Schwankende seines Charakters vorhält, den Vorwurf machen: bei Goethe sei er Goethe, bei Jselin Jselin, bei Schlosser Schlosser, bei Lavater Lavater, ja bei Basedow werde er in kurzer Zeit auch Basedow sein. Aber schon fruchteten solche Mahnungen nichts mehr, Kaufmann zog, wie er sagt, „ewig Würke», Handeln, Thun" allem andern vor, und so erteilte er Mochel auf seine Zurecht¬ weisungen nur die Antwort, er vermöge ihn nicht zu verstehen. Er wirkte also, ziemlich unbekümmert darum, worauf sich sein Wirken erstreckte. So wünschte er eine Predigtsammlung unter die Landgeistlichen der Schweiz zu verteilen, welche ihm seine Freunde liefern und worin die Bestimmung des Menschen, der Wert der Freundschaft, Wahrheit und Gerechtigkeit, der Einfluß des öko¬ nomischen Wohles auf das moralische, Erziehung, Menschenliebe, teils mit, teils ohne Beweisstellen aus der Bibel, die Themata bilden sollten. Aber mich für die jungen Leute in der Stadt sorgte er, indem er sich mit der Errichtung eines Theaters in Winterthur trug. Dieses wilde, verworrene Wesen wurde durch Lavater noch gesteigert. Ihm war Kaufmann das Ideal eines Kraftmenschen, den der Physiognomiker schon in seiner ungewöhnlichen äußern Erscheinung zu erkennen meinte. Das Unge¬ lernte, Unentlehute, Unlernbare, Unentlehnbare, innig Eigentümliche, Unnach¬ ahmliche, Göttliche, das Jnspirationsmäßige erkannte er ja als Kennzeichen des Genies; Momentaneitüt, Offenbarung, Erscheinung, Gegebenheit, Übernatur, Überkunst, Übergelehrsamkeit, Übertaleut, Selbstleben forderte er von dem Genie, und alle diese Tollheiten in unsern Augen, gewaltige Vorzüge in den seinen, fand er bei Kaufmann oder ahnte sie in ihm, sodaß seine Vergötterung des Mannes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/239>, abgerufen am 03.07.2024.