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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Revision der Lutherischen Bibelübersetzung.

christlichen Lehre dem eigentlichen Wortverstande näher kommen könnte. Damals
erhob sich von selten der herrschenden Orthodoxie ein entschiedner Widerspruch
gegen diesen Gedanken, ja der Greifswalder Prokanzler Maier nannte sein Unter¬
nehmen geradezu ein Teufelswerk, ein Grabgelcinte der lutherischen Kirche. Spener,
der Vater des Pietismus, trat für Francke ein, aber auch der Begründer der
mit den Frauckischen Stiftungen in Halle verbundnen Cansteinschen Bibelanstalt,
der Freiherr Karl Hildebrand von Caustein, hielt den Grundsatz aufrecht, daß
alle erst nach Luthers Tode gemachten Textesänderungen zu verwerfen seien,
gestand aber doch zu, daß von den verschiednen Lesarten der zu Luthers Zeiten
erschienenen Originalausgaben diejenigen aufgenommen werden sollten, welche
dem Grundtexte am meisten entsprächen. Nach diesem Grundsatze hat man denn
auch schon früher stillschweigend die Lutherische Übersetzung verbessert, indem man
ältere Übersetzungen Luthers späteren vorzog. In Psalm 16, 6 z. B. hatte er
1524 richtig übersetzt: Mir ist das Los aufs Liebliche (d. h. auf ein liebliches
Land) gefallen, wofür man freilich auch die fehlerhafte Veränderung "aufs lieb¬
lichste" in den Text genommen hat. Später aber hat Luther diese richtige
Übersetzung verworfen und die Stelle so wiedergegeben: "Mir ist das Los
auf Liebliche gefallen," indem er unter den Lieblicher die Unterthanen des
Messias, die gläubigen Heiden (an Stelle der ungläubigen Juden), verstand.
Jedenfalls hat man, trotz mehrfacher Bestrebungen, den Text der Ausgabe von
1545 wiederherzustellen -- z. B. von feiten des Kurfürsten August von Sachsen
und feiner Theologen, von feiten des Freiherrn von Canstein, der würtembergischen
Bibelgesellschaft --, schon längst Luthers Übersetzung nur in revidirter Gestalt
gehabt.

Diese von Anfang an im stillen fortschreitende Revision hatte aber all¬
mählich einen unhaltbaren Zustand herbeigeführt. Unsere Bibelausgaben wichen
so vielfach von einander ab, daß die Befürchtung nahe lag, die Verwirrung
werde immer größer werden, wenn der bisherigen Weise, daß alle Bibelgesell¬
schaften und Bibelherausgeber ihren eignen Text drucken, nicht Einhalt geschehe.
Das Verdienst, auf diesen unhaltbaren Zustand hingewiesen und die Herstellung
einer guten, einheitlichen Textgestalt der Lutherischen Übersetzung mit Nach¬
druck gefordert zu haben, gebührt dem Hauptpastor und Senior v. Mönckeberg
in Hamburg. Seine Anregung fand bei der mit dem Kirchentage zu Stuttgart
im Jahre 1857 verbundnen Konferenz deutscher Bibelgesellschaften günstige Auf¬
nahme; man beschloß eine Revision des deutschen Bibeltextes, ersuchte die Cansteinsche
Bibelanstalt, dieselbe in die Hand zu nehmen und faßte dabei auf des Propstes
v. Nitzsch Antrag auch dringend nötige Berichtigungen an unzweifelhaft falsch
übersetzten Stellen des neuen Testaments ins Auge. Im folgenden Jahre legte
die Cansteinsche Anstalt auf dem Kirchentage zu Hamburg den Bibelgesellschaften
die leitenden Gesichtspunkte für die Arbeit vor, nach welchen sodann 1861 und
1862 als Vorarbeiten zwei Hefte Vorschläge zur Revision der Bibelübersetzung


Die Revision der Lutherischen Bibelübersetzung.

christlichen Lehre dem eigentlichen Wortverstande näher kommen könnte. Damals
erhob sich von selten der herrschenden Orthodoxie ein entschiedner Widerspruch
gegen diesen Gedanken, ja der Greifswalder Prokanzler Maier nannte sein Unter¬
nehmen geradezu ein Teufelswerk, ein Grabgelcinte der lutherischen Kirche. Spener,
der Vater des Pietismus, trat für Francke ein, aber auch der Begründer der
mit den Frauckischen Stiftungen in Halle verbundnen Cansteinschen Bibelanstalt,
der Freiherr Karl Hildebrand von Caustein, hielt den Grundsatz aufrecht, daß
alle erst nach Luthers Tode gemachten Textesänderungen zu verwerfen seien,
gestand aber doch zu, daß von den verschiednen Lesarten der zu Luthers Zeiten
erschienenen Originalausgaben diejenigen aufgenommen werden sollten, welche
dem Grundtexte am meisten entsprächen. Nach diesem Grundsatze hat man denn
auch schon früher stillschweigend die Lutherische Übersetzung verbessert, indem man
ältere Übersetzungen Luthers späteren vorzog. In Psalm 16, 6 z. B. hatte er
1524 richtig übersetzt: Mir ist das Los aufs Liebliche (d. h. auf ein liebliches
Land) gefallen, wofür man freilich auch die fehlerhafte Veränderung „aufs lieb¬
lichste" in den Text genommen hat. Später aber hat Luther diese richtige
Übersetzung verworfen und die Stelle so wiedergegeben: „Mir ist das Los
auf Liebliche gefallen," indem er unter den Lieblicher die Unterthanen des
Messias, die gläubigen Heiden (an Stelle der ungläubigen Juden), verstand.
Jedenfalls hat man, trotz mehrfacher Bestrebungen, den Text der Ausgabe von
1545 wiederherzustellen — z. B. von feiten des Kurfürsten August von Sachsen
und feiner Theologen, von feiten des Freiherrn von Canstein, der würtembergischen
Bibelgesellschaft —, schon längst Luthers Übersetzung nur in revidirter Gestalt
gehabt.

Diese von Anfang an im stillen fortschreitende Revision hatte aber all¬
mählich einen unhaltbaren Zustand herbeigeführt. Unsere Bibelausgaben wichen
so vielfach von einander ab, daß die Befürchtung nahe lag, die Verwirrung
werde immer größer werden, wenn der bisherigen Weise, daß alle Bibelgesell¬
schaften und Bibelherausgeber ihren eignen Text drucken, nicht Einhalt geschehe.
Das Verdienst, auf diesen unhaltbaren Zustand hingewiesen und die Herstellung
einer guten, einheitlichen Textgestalt der Lutherischen Übersetzung mit Nach¬
druck gefordert zu haben, gebührt dem Hauptpastor und Senior v. Mönckeberg
in Hamburg. Seine Anregung fand bei der mit dem Kirchentage zu Stuttgart
im Jahre 1857 verbundnen Konferenz deutscher Bibelgesellschaften günstige Auf¬
nahme; man beschloß eine Revision des deutschen Bibeltextes, ersuchte die Cansteinsche
Bibelanstalt, dieselbe in die Hand zu nehmen und faßte dabei auf des Propstes
v. Nitzsch Antrag auch dringend nötige Berichtigungen an unzweifelhaft falsch
übersetzten Stellen des neuen Testaments ins Auge. Im folgenden Jahre legte
die Cansteinsche Anstalt auf dem Kirchentage zu Hamburg den Bibelgesellschaften
die leitenden Gesichtspunkte für die Arbeit vor, nach welchen sodann 1861 und
1862 als Vorarbeiten zwei Hefte Vorschläge zur Revision der Bibelübersetzung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/135>, abgerufen am 03.07.2024.