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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die deutsche und die französische Volksdichtung.

zu der eignen in Frankreich erzielten, dem Umstände zuschreibt, daß die Knorren
und Auswüchse, welche jede echte Volksdichtung wie der Baum des Waldes
zeigt, unter der glatten Übersetzung verschwunden seien, daß also auch hier nicht
der Inhalt, sondern die Form das Glück des Liedes machte. "Das reimt ja
nicht" lautete die charakteristische Antwort eines gebildeten Franzosen, welchen
ich mit der ländlichen Muse seines Heimatlandes, deren innere Schönheit mich
entzückte, bekannt zu machen suchte. Ein gebildeter Franzose, sagt Edouard
Schure, wird schon bei dem Namen des Volksliedes sich die Ohren verstopfen
und bitten, ihn um Himmelswillen mit dein Vortrag desselben zu verschonen;
wüste Bilder tauchen in ihm auf: eine lärmende Hochzeit, wo Bauern und
Bäuerinnen im unverständlichsten Patois ein Lied i" herzzerreißender Weise vor¬
tragen, oder ein Bettler, welcher auf dem Jahrmarkt ein jämmerlich Lied singt,
welches er auf einer Violine 5 äcmx ooräss begleitet.

Woher diese befremdende Erscheinung in Frankreich, während wir in Deutsch¬
land doch neben der Volks- und Kunstpoesie eine wahrhaft volkstümliche Dichtung
besitzen, welche, jenen beiden Quellen entstammend, gleichmäßig in alle Schichten
unsers Volkes gedrungen ist?

Es ist dies nicht, wie man wohl meinen möchte, ein Verdienst unsers
Volkswesens allein. Daß dieses nicht der Fall ist, zeigt uus deutlich Moe, der
eifrige Sammler norwegischer Volkslieder und Märchen, in seiner Vorrede, wo
er von der seltsamen Erscheinung spricht, daß die norwegische Kunstpoesie ein
von der Volksdichtung getrenntes Leben führe, derselben fremd gegenüber¬
stehe. Es ist dies vielmehr ganz wesentlich ein persönliches Verdienst unsrer
größten Schriftsteller, unsrer edelsten Dichter, welche uns diese Liebe zur Volks¬
dichtung anerzogen haben, da sie deren Wert auch für die Kunstdichtung voll¬
ständig erkannten.

Auch für Deutschland gab es eine Zeit, wo das Volkslied, wie noch heute
in Frankreich, der Paria in der Literatur war, wo wir, in der Nachahmung
des Auslandes und namentlich Frankreichs befangen, den volkstümlichen Boden
verlassen hatten, auf welchen bereits Luther unsre Literatur gestellt hatte. Herder
war es, der das große Verdienst für sich in Anspruch nehmen darf, unsre er¬
wachende literarische Selbständigkeit, unsre selbständig gewordene Literatur auf
diesen Boden, in welchem jede Literatur wurzeln muß, hingelenkt zu haben. Als
echter Deutscher Kosmopolit, begnügte er sich jedoch nicht mit den heimischen
Blüten, sondern sammelte in seinen "Stimmen der Völker" Volkslieder aller
Nationen, und es ist sehr bezeichnend für den Standpunkt der französischen
Volksdichtung, daß in dieser reichen Sammlung sich nur wenig französische Lieder
befinden und unter diesen wenigen höchstens zwei oder drei, welche auf den
Namen eines Volksliedes wirklichen Anspruch erheben dürfen. Herder wies
darauf hin, daß in dieser Poesie, welche keinerlei fremde Einflüsse zeige, auch
die Kunstpoesie wurzeln müsse, daß die Kunstpoesie zurückkehren müsse zu der


Die deutsche und die französische Volksdichtung.

zu der eignen in Frankreich erzielten, dem Umstände zuschreibt, daß die Knorren
und Auswüchse, welche jede echte Volksdichtung wie der Baum des Waldes
zeigt, unter der glatten Übersetzung verschwunden seien, daß also auch hier nicht
der Inhalt, sondern die Form das Glück des Liedes machte. „Das reimt ja
nicht" lautete die charakteristische Antwort eines gebildeten Franzosen, welchen
ich mit der ländlichen Muse seines Heimatlandes, deren innere Schönheit mich
entzückte, bekannt zu machen suchte. Ein gebildeter Franzose, sagt Edouard
Schure, wird schon bei dem Namen des Volksliedes sich die Ohren verstopfen
und bitten, ihn um Himmelswillen mit dein Vortrag desselben zu verschonen;
wüste Bilder tauchen in ihm auf: eine lärmende Hochzeit, wo Bauern und
Bäuerinnen im unverständlichsten Patois ein Lied i» herzzerreißender Weise vor¬
tragen, oder ein Bettler, welcher auf dem Jahrmarkt ein jämmerlich Lied singt,
welches er auf einer Violine 5 äcmx ooräss begleitet.

Woher diese befremdende Erscheinung in Frankreich, während wir in Deutsch¬
land doch neben der Volks- und Kunstpoesie eine wahrhaft volkstümliche Dichtung
besitzen, welche, jenen beiden Quellen entstammend, gleichmäßig in alle Schichten
unsers Volkes gedrungen ist?

Es ist dies nicht, wie man wohl meinen möchte, ein Verdienst unsers
Volkswesens allein. Daß dieses nicht der Fall ist, zeigt uus deutlich Moe, der
eifrige Sammler norwegischer Volkslieder und Märchen, in seiner Vorrede, wo
er von der seltsamen Erscheinung spricht, daß die norwegische Kunstpoesie ein
von der Volksdichtung getrenntes Leben führe, derselben fremd gegenüber¬
stehe. Es ist dies vielmehr ganz wesentlich ein persönliches Verdienst unsrer
größten Schriftsteller, unsrer edelsten Dichter, welche uns diese Liebe zur Volks¬
dichtung anerzogen haben, da sie deren Wert auch für die Kunstdichtung voll¬
ständig erkannten.

Auch für Deutschland gab es eine Zeit, wo das Volkslied, wie noch heute
in Frankreich, der Paria in der Literatur war, wo wir, in der Nachahmung
des Auslandes und namentlich Frankreichs befangen, den volkstümlichen Boden
verlassen hatten, auf welchen bereits Luther unsre Literatur gestellt hatte. Herder
war es, der das große Verdienst für sich in Anspruch nehmen darf, unsre er¬
wachende literarische Selbständigkeit, unsre selbständig gewordene Literatur auf
diesen Boden, in welchem jede Literatur wurzeln muß, hingelenkt zu haben. Als
echter Deutscher Kosmopolit, begnügte er sich jedoch nicht mit den heimischen
Blüten, sondern sammelte in seinen „Stimmen der Völker" Volkslieder aller
Nationen, und es ist sehr bezeichnend für den Standpunkt der französischen
Volksdichtung, daß in dieser reichen Sammlung sich nur wenig französische Lieder
befinden und unter diesen wenigen höchstens zwei oder drei, welche auf den
Namen eines Volksliedes wirklichen Anspruch erheben dürfen. Herder wies
darauf hin, daß in dieser Poesie, welche keinerlei fremde Einflüsse zeige, auch
die Kunstpoesie wurzeln müsse, daß die Kunstpoesie zurückkehren müsse zu der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/693>, abgerufen am 23.07.2024.