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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die deutsche und die französische Volksdichtung.

Kunstpoesie, welche in dem mit höherer Bildung getränkten Teile der Nation
ihren Ursprung nimmt, und eine Volkspoesie, deren Prinzip, wie es de la Ville-
marque treffend ausführt, das menschliche Gemüt in seiner ganzen Unwissenheit
ist, wo die Abwesenheit jeder Erziehung, um mit Champfleury zu reden, nur
dazu dient, die Eindrücke der Seele desto kräftiger auszugestalten, eine Poesie,
deren Schönheiten zu genießen, nach dem Rate eines spanischen Autors, das
Beiseitelegen aller gelehrten Erinnerungen erheischt.

Wir sehen also -- und es ist dies eine Erscheinung, welche sich nicht bloß
bei einem Volke findet, sondern zu allen Zeiten und bei allen Völkern wieder¬
holt -- innerhalb einer jeden Nation zwei scharf durch ihren Bildungsgang
getrennte Gruppen einander gegenüberstehen -- ein Verhältnis, welches, auf
die Spitze getrieben, selbst politische Gefahren in sich bergen kann, wie wir dies
am besten aus den Bestrebungen der Sozialdemokratie erkennen, welche diese
Kluft, die der Vaterlandsfreund zu überbrücken strebt, künstlich zu erweitern
suchen, um so zu einem völligen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse zu ge¬
langen. Indessen stehen sich in Deutschland diese beiden Gruppen nicht so un¬
vermittelt gegenüber; in dem deutschen Liede ist uns ein Schatz überliefert,
welcher nicht bloß demjenigen Teile des Volkes angehört, aus welchem er hervor¬
gegangen, sondern recht eigentlich dem Gesamtvolke. Durch alle Wandlungen
unsers Lebens, von der Wiege bis zum Sarge, begleitet uns das Lied fröhlich
mit den Fröhlichen, weint es mit den Trauernden, am häuslichen Herd und mit
doppelter Kraft in der Fremde, auf der Schulbank wie auf der Hochschule, auf
Höhen wie dort "unten im Thale," in dem Getriebe des Werktages wie bei
festlichen Gelegenheiten, überall ist es der getreue Ausdruck unsrer Stimmung,
das Band, welches uns an die gemeinsame Heimat, das gemeinsame Vater¬
land knüpft.

Auch der Franzose hat eine Volkspoesie; sie leugnen wollen hieße leugnen,
daß er ein Herz gleich andern Menschen habe, daß er unfähig sei, seine Leiden
und Freuden, die Gefühle, welche sein Herz bestürmen, in Liedern auszutönen.
Der Franzose besitzt auch, wie hinlänglich bekannt, eine Kunstpoesie; sie ist lange
genug nicht bloß das Vorbild von Deutschland, ja der ganzen gebildeten Welt
gewesen. Allein weder die eine noch die andre dieser Poesien ist in dem
deutschen Sinne volkstümlich. Volks- und Kunstpoesie stehen sich in Frankreich,
zur Stunde wenigstens, noch unvermittelt gegenüber. Wie einst im alten Rom
ist die Kunstpoesie nur für die Schichten der obern Zehntausend vorhanden, in
das Volk steigt sie nicht herab; sie würde sich damit etwas zu vergeben glauben.
Das Volk, das ungelehrte Volk wäre auch nicht fähig, die glatte Rundung, die
fein zugespitzten Gedanken derselben zu erfassen. Die Volksdichtung wiederum
ist dem gebildeten Franzosen, man kann sagen, eine tsrrg. nov^una. Sie ist
ihm in ihrer einfachen Schöne unverständlich. Sehr lehrreich ist in dieser Be¬
ziehung, daß Graf Puymaigre den Erfolg, welchen fremde Volkspoesien im Gegensatz


Die deutsche und die französische Volksdichtung.

Kunstpoesie, welche in dem mit höherer Bildung getränkten Teile der Nation
ihren Ursprung nimmt, und eine Volkspoesie, deren Prinzip, wie es de la Ville-
marque treffend ausführt, das menschliche Gemüt in seiner ganzen Unwissenheit
ist, wo die Abwesenheit jeder Erziehung, um mit Champfleury zu reden, nur
dazu dient, die Eindrücke der Seele desto kräftiger auszugestalten, eine Poesie,
deren Schönheiten zu genießen, nach dem Rate eines spanischen Autors, das
Beiseitelegen aller gelehrten Erinnerungen erheischt.

Wir sehen also — und es ist dies eine Erscheinung, welche sich nicht bloß
bei einem Volke findet, sondern zu allen Zeiten und bei allen Völkern wieder¬
holt — innerhalb einer jeden Nation zwei scharf durch ihren Bildungsgang
getrennte Gruppen einander gegenüberstehen — ein Verhältnis, welches, auf
die Spitze getrieben, selbst politische Gefahren in sich bergen kann, wie wir dies
am besten aus den Bestrebungen der Sozialdemokratie erkennen, welche diese
Kluft, die der Vaterlandsfreund zu überbrücken strebt, künstlich zu erweitern
suchen, um so zu einem völligen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse zu ge¬
langen. Indessen stehen sich in Deutschland diese beiden Gruppen nicht so un¬
vermittelt gegenüber; in dem deutschen Liede ist uns ein Schatz überliefert,
welcher nicht bloß demjenigen Teile des Volkes angehört, aus welchem er hervor¬
gegangen, sondern recht eigentlich dem Gesamtvolke. Durch alle Wandlungen
unsers Lebens, von der Wiege bis zum Sarge, begleitet uns das Lied fröhlich
mit den Fröhlichen, weint es mit den Trauernden, am häuslichen Herd und mit
doppelter Kraft in der Fremde, auf der Schulbank wie auf der Hochschule, auf
Höhen wie dort „unten im Thale," in dem Getriebe des Werktages wie bei
festlichen Gelegenheiten, überall ist es der getreue Ausdruck unsrer Stimmung,
das Band, welches uns an die gemeinsame Heimat, das gemeinsame Vater¬
land knüpft.

Auch der Franzose hat eine Volkspoesie; sie leugnen wollen hieße leugnen,
daß er ein Herz gleich andern Menschen habe, daß er unfähig sei, seine Leiden
und Freuden, die Gefühle, welche sein Herz bestürmen, in Liedern auszutönen.
Der Franzose besitzt auch, wie hinlänglich bekannt, eine Kunstpoesie; sie ist lange
genug nicht bloß das Vorbild von Deutschland, ja der ganzen gebildeten Welt
gewesen. Allein weder die eine noch die andre dieser Poesien ist in dem
deutschen Sinne volkstümlich. Volks- und Kunstpoesie stehen sich in Frankreich,
zur Stunde wenigstens, noch unvermittelt gegenüber. Wie einst im alten Rom
ist die Kunstpoesie nur für die Schichten der obern Zehntausend vorhanden, in
das Volk steigt sie nicht herab; sie würde sich damit etwas zu vergeben glauben.
Das Volk, das ungelehrte Volk wäre auch nicht fähig, die glatte Rundung, die
fein zugespitzten Gedanken derselben zu erfassen. Die Volksdichtung wiederum
ist dem gebildeten Franzosen, man kann sagen, eine tsrrg. nov^una. Sie ist
ihm in ihrer einfachen Schöne unverständlich. Sehr lehrreich ist in dieser Be¬
ziehung, daß Graf Puymaigre den Erfolg, welchen fremde Volkspoesien im Gegensatz


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[0692] Die deutsche und die französische Volksdichtung. Kunstpoesie, welche in dem mit höherer Bildung getränkten Teile der Nation ihren Ursprung nimmt, und eine Volkspoesie, deren Prinzip, wie es de la Ville- marque treffend ausführt, das menschliche Gemüt in seiner ganzen Unwissenheit ist, wo die Abwesenheit jeder Erziehung, um mit Champfleury zu reden, nur dazu dient, die Eindrücke der Seele desto kräftiger auszugestalten, eine Poesie, deren Schönheiten zu genießen, nach dem Rate eines spanischen Autors, das Beiseitelegen aller gelehrten Erinnerungen erheischt. Wir sehen also — und es ist dies eine Erscheinung, welche sich nicht bloß bei einem Volke findet, sondern zu allen Zeiten und bei allen Völkern wieder¬ holt — innerhalb einer jeden Nation zwei scharf durch ihren Bildungsgang getrennte Gruppen einander gegenüberstehen — ein Verhältnis, welches, auf die Spitze getrieben, selbst politische Gefahren in sich bergen kann, wie wir dies am besten aus den Bestrebungen der Sozialdemokratie erkennen, welche diese Kluft, die der Vaterlandsfreund zu überbrücken strebt, künstlich zu erweitern suchen, um so zu einem völligen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse zu ge¬ langen. Indessen stehen sich in Deutschland diese beiden Gruppen nicht so un¬ vermittelt gegenüber; in dem deutschen Liede ist uns ein Schatz überliefert, welcher nicht bloß demjenigen Teile des Volkes angehört, aus welchem er hervor¬ gegangen, sondern recht eigentlich dem Gesamtvolke. Durch alle Wandlungen unsers Lebens, von der Wiege bis zum Sarge, begleitet uns das Lied fröhlich mit den Fröhlichen, weint es mit den Trauernden, am häuslichen Herd und mit doppelter Kraft in der Fremde, auf der Schulbank wie auf der Hochschule, auf Höhen wie dort „unten im Thale," in dem Getriebe des Werktages wie bei festlichen Gelegenheiten, überall ist es der getreue Ausdruck unsrer Stimmung, das Band, welches uns an die gemeinsame Heimat, das gemeinsame Vater¬ land knüpft. Auch der Franzose hat eine Volkspoesie; sie leugnen wollen hieße leugnen, daß er ein Herz gleich andern Menschen habe, daß er unfähig sei, seine Leiden und Freuden, die Gefühle, welche sein Herz bestürmen, in Liedern auszutönen. Der Franzose besitzt auch, wie hinlänglich bekannt, eine Kunstpoesie; sie ist lange genug nicht bloß das Vorbild von Deutschland, ja der ganzen gebildeten Welt gewesen. Allein weder die eine noch die andre dieser Poesien ist in dem deutschen Sinne volkstümlich. Volks- und Kunstpoesie stehen sich in Frankreich, zur Stunde wenigstens, noch unvermittelt gegenüber. Wie einst im alten Rom ist die Kunstpoesie nur für die Schichten der obern Zehntausend vorhanden, in das Volk steigt sie nicht herab; sie würde sich damit etwas zu vergeben glauben. Das Volk, das ungelehrte Volk wäre auch nicht fähig, die glatte Rundung, die fein zugespitzten Gedanken derselben zu erfassen. Die Volksdichtung wiederum ist dem gebildeten Franzosen, man kann sagen, eine tsrrg. nov^una. Sie ist ihm in ihrer einfachen Schöne unverständlich. Sehr lehrreich ist in dieser Be¬ ziehung, daß Graf Puymaigre den Erfolg, welchen fremde Volkspoesien im Gegensatz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/692>, abgerufen am 23.07.2024.