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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die deutsche und die französische volksdichtnng,

Wahrheit des Gefühls, zu der tiefen Innerlichkeit, welche sich in der Volks¬
dichtung für jeden bemerklich mache, der Augen zu sehen und Ohren zu hören
habe, Deutschland lächelte aber das Glück, nicht bloß den Manu gefunden zu
haben, welcher der deutschen Dichtung den Weg zu ihrer Neugestaltung auf der
Grundlage der Volksdichtung wies, sondern daß ihm in Goethe mich der Genius
geboren ward, der Herders Gedanken zur That werden ließ, der wie der Königs-
sohn im Dornröschen die jahrhundertelang schlummernde Volksmuse zu neuem
Leben küßte. Mit Leidenschaft warf sich Goethe auf die Dichtungen, welche
Herder ihm mitgeteilt hatte. Er sammelte selbst auf seinen Ausflügen im Elsaß
diese duftigen Blüten, er wiegte sich in ihren Harmonien, er durchdrang sich
mit ihrem Geiste, und er fand bestätigt, was Herder ihm gesagt, daß sich in
ihnen unter eiuer einfachen und doch höchst anmutigen Form wahres, lauteres
Gefühl berge. Von nun an ward diese arme, kleine Kunst seine Führerin, und
damit zugleich das Vorbild für alle jene Dichter, welche mit und nach ihm dem
Lorbeer der Unsterblichkeit zustrebten. Hinter seinem Werke zu verschwinden, es
als volkstümlich betrachtet zu sehen galt und gilt noch heute als des Dichters
höchster Ruhm.

Um diese Blüte volkstümlicher Poesie bei uns zu erhöhen, kam noch etwas
andres hinzu. Deutschland ist seit lange das erste Land in der Musik gewesen.
Daß es hierin "an der Spitze der Zivilisation marschirt," haben ihm selbst die
Franzosen, die dieses Wort früher so gern für sich in Anspruch nahmen, nie be¬
stritten. Indem sich nun in Dentschland die Musik mit dem Liede auf die
wunderbarste Weise vermählte, trug diese Verschmelzung vor allem dazu bei, das
Lied in aller Herzen fortleben zu lassen; denn, einmal gehört, verschwand es
dem Gedächtnis.

Und die Wirkungen dieser Poesie auf die großen Massen blieben nicht aus,
besonders als jene großartigen Sammlungen deutscher Volkslieder von Arnim
und Brentano und von Uhland, sowie in neuerer Zeit von Scherer und von
Simrock erschienen, welche diese Lieder wie einen lange verschollenen Schatz aus
nicht wieder aus der Tiefe der Volksseele zu Tage förderten.

So ist die zweite Blütezeit unsrer Kunstdichtung hervorgegangen aus der
naiven Dichtung des Volkes, wie der reichgeästete Baum aus der bescheidnen
Wurzel. Und wenn wir auch in neuester Zeit in ein andres, in ein historisches
Zeitalter getreten sind, welchem wesentlich andre Aufgaben zu lösen zugefallen
als den vorausgegangenen Zeitabschnitten, so hat sich doch die innige Ver¬
schmelzung der Kunst- mit der Volksdichtung herübergerettet in unsre Tage. Kein
schöneres Bild dieser innigen Vereinigung in Deutschland weiß ich zu finden,
als zu erinnern an ein Vorkommnis aus jüngerer Vergangenheit. Als bei der
Feier des vierhundertjährigen Bestehens der Universität Tübingen Würtembergs
König die Festgenossen in sein Schloß geladen hatte und sich zwanglos in
ihren Reihen erging, da wurde ihm auf diesem Rundgänge von den Gesang-


Die deutsche und die französische volksdichtnng,

Wahrheit des Gefühls, zu der tiefen Innerlichkeit, welche sich in der Volks¬
dichtung für jeden bemerklich mache, der Augen zu sehen und Ohren zu hören
habe, Deutschland lächelte aber das Glück, nicht bloß den Manu gefunden zu
haben, welcher der deutschen Dichtung den Weg zu ihrer Neugestaltung auf der
Grundlage der Volksdichtung wies, sondern daß ihm in Goethe mich der Genius
geboren ward, der Herders Gedanken zur That werden ließ, der wie der Königs-
sohn im Dornröschen die jahrhundertelang schlummernde Volksmuse zu neuem
Leben küßte. Mit Leidenschaft warf sich Goethe auf die Dichtungen, welche
Herder ihm mitgeteilt hatte. Er sammelte selbst auf seinen Ausflügen im Elsaß
diese duftigen Blüten, er wiegte sich in ihren Harmonien, er durchdrang sich
mit ihrem Geiste, und er fand bestätigt, was Herder ihm gesagt, daß sich in
ihnen unter eiuer einfachen und doch höchst anmutigen Form wahres, lauteres
Gefühl berge. Von nun an ward diese arme, kleine Kunst seine Führerin, und
damit zugleich das Vorbild für alle jene Dichter, welche mit und nach ihm dem
Lorbeer der Unsterblichkeit zustrebten. Hinter seinem Werke zu verschwinden, es
als volkstümlich betrachtet zu sehen galt und gilt noch heute als des Dichters
höchster Ruhm.

Um diese Blüte volkstümlicher Poesie bei uns zu erhöhen, kam noch etwas
andres hinzu. Deutschland ist seit lange das erste Land in der Musik gewesen.
Daß es hierin „an der Spitze der Zivilisation marschirt," haben ihm selbst die
Franzosen, die dieses Wort früher so gern für sich in Anspruch nahmen, nie be¬
stritten. Indem sich nun in Dentschland die Musik mit dem Liede auf die
wunderbarste Weise vermählte, trug diese Verschmelzung vor allem dazu bei, das
Lied in aller Herzen fortleben zu lassen; denn, einmal gehört, verschwand es
dem Gedächtnis.

Und die Wirkungen dieser Poesie auf die großen Massen blieben nicht aus,
besonders als jene großartigen Sammlungen deutscher Volkslieder von Arnim
und Brentano und von Uhland, sowie in neuerer Zeit von Scherer und von
Simrock erschienen, welche diese Lieder wie einen lange verschollenen Schatz aus
nicht wieder aus der Tiefe der Volksseele zu Tage förderten.

So ist die zweite Blütezeit unsrer Kunstdichtung hervorgegangen aus der
naiven Dichtung des Volkes, wie der reichgeästete Baum aus der bescheidnen
Wurzel. Und wenn wir auch in neuester Zeit in ein andres, in ein historisches
Zeitalter getreten sind, welchem wesentlich andre Aufgaben zu lösen zugefallen
als den vorausgegangenen Zeitabschnitten, so hat sich doch die innige Ver¬
schmelzung der Kunst- mit der Volksdichtung herübergerettet in unsre Tage. Kein
schöneres Bild dieser innigen Vereinigung in Deutschland weiß ich zu finden,
als zu erinnern an ein Vorkommnis aus jüngerer Vergangenheit. Als bei der
Feier des vierhundertjährigen Bestehens der Universität Tübingen Würtembergs
König die Festgenossen in sein Schloß geladen hatte und sich zwanglos in
ihren Reihen erging, da wurde ihm auf diesem Rundgänge von den Gesang-


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[0694] Die deutsche und die französische volksdichtnng, Wahrheit des Gefühls, zu der tiefen Innerlichkeit, welche sich in der Volks¬ dichtung für jeden bemerklich mache, der Augen zu sehen und Ohren zu hören habe, Deutschland lächelte aber das Glück, nicht bloß den Manu gefunden zu haben, welcher der deutschen Dichtung den Weg zu ihrer Neugestaltung auf der Grundlage der Volksdichtung wies, sondern daß ihm in Goethe mich der Genius geboren ward, der Herders Gedanken zur That werden ließ, der wie der Königs- sohn im Dornröschen die jahrhundertelang schlummernde Volksmuse zu neuem Leben küßte. Mit Leidenschaft warf sich Goethe auf die Dichtungen, welche Herder ihm mitgeteilt hatte. Er sammelte selbst auf seinen Ausflügen im Elsaß diese duftigen Blüten, er wiegte sich in ihren Harmonien, er durchdrang sich mit ihrem Geiste, und er fand bestätigt, was Herder ihm gesagt, daß sich in ihnen unter eiuer einfachen und doch höchst anmutigen Form wahres, lauteres Gefühl berge. Von nun an ward diese arme, kleine Kunst seine Führerin, und damit zugleich das Vorbild für alle jene Dichter, welche mit und nach ihm dem Lorbeer der Unsterblichkeit zustrebten. Hinter seinem Werke zu verschwinden, es als volkstümlich betrachtet zu sehen galt und gilt noch heute als des Dichters höchster Ruhm. Um diese Blüte volkstümlicher Poesie bei uns zu erhöhen, kam noch etwas andres hinzu. Deutschland ist seit lange das erste Land in der Musik gewesen. Daß es hierin „an der Spitze der Zivilisation marschirt," haben ihm selbst die Franzosen, die dieses Wort früher so gern für sich in Anspruch nahmen, nie be¬ stritten. Indem sich nun in Dentschland die Musik mit dem Liede auf die wunderbarste Weise vermählte, trug diese Verschmelzung vor allem dazu bei, das Lied in aller Herzen fortleben zu lassen; denn, einmal gehört, verschwand es dem Gedächtnis. Und die Wirkungen dieser Poesie auf die großen Massen blieben nicht aus, besonders als jene großartigen Sammlungen deutscher Volkslieder von Arnim und Brentano und von Uhland, sowie in neuerer Zeit von Scherer und von Simrock erschienen, welche diese Lieder wie einen lange verschollenen Schatz aus nicht wieder aus der Tiefe der Volksseele zu Tage förderten. So ist die zweite Blütezeit unsrer Kunstdichtung hervorgegangen aus der naiven Dichtung des Volkes, wie der reichgeästete Baum aus der bescheidnen Wurzel. Und wenn wir auch in neuester Zeit in ein andres, in ein historisches Zeitalter getreten sind, welchem wesentlich andre Aufgaben zu lösen zugefallen als den vorausgegangenen Zeitabschnitten, so hat sich doch die innige Ver¬ schmelzung der Kunst- mit der Volksdichtung herübergerettet in unsre Tage. Kein schöneres Bild dieser innigen Vereinigung in Deutschland weiß ich zu finden, als zu erinnern an ein Vorkommnis aus jüngerer Vergangenheit. Als bei der Feier des vierhundertjährigen Bestehens der Universität Tübingen Würtembergs König die Festgenossen in sein Schloß geladen hatte und sich zwanglos in ihren Reihen erging, da wurde ihm auf diesem Rundgänge von den Gesang-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/694>, abgerufen am 23.07.2024.