Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die deutsche und die französische Volkdichtung.

genügend bekannt und gehörig gewürdigt worden ist? Um nur ein Beispiel
statt vieler anzuführen: Wenn Ernest Prarond von der französischen Volks¬
dichtung der Picardie seltsamerweise sagt: n'al risn trouvs as ng.it' 8orei ass
övtrMks an xsuxlö Kto., so weiß ich diesen Ausdruck nicht entsprechender
wiederzugeben als durch "hervorgegangen aus dem Gemüt, dem Gemütsleben
des Volkes." Und wie an das Wort, so werden wir uns auch daran gewöhnen
müssen, dem Franzosen die Sache, d.h. eine Volksdichtung, zuzugestehen, in
welcher sich sein Gemüt auf seine Weise, aber nicht minder reich und anmutig
wiederspiegelt als das deutsche.

Worin liegt nun der Grund, daß die französische Volksdichtung eine ver¬
hältnismäßig so unbekannte Sache ist, nicht bloß für den Deutschen -- das
wäre begreiflich --, sondern auch, was wir kaum zu fassen vermögen, für den
Franzosen?

Wenn ich bei der Beantwortung dieser Frage scheinbar länger verweile,
als es durch den Gegenstand geboten erscheint, so geschieht es, weil die Stellung
der französischen Volksdichtung innerhalb der französischen Nation sich am
klarsten aus der gegensätzlichen Schilderung deutscher Verhältnisse ergeben wird.

Als einst im deutschen Reichstage Fürst Bismarck von sozialdemokratischer
Seite angegriffen wurde und der Ausdruck fiel, er gehöre nicht zum Volke, da
erhob er sich in seiner ganzen Größe, um diesen Vorwurf, denn als solchen
faßte er ihn auf, weit von sich abzuwehren. Ich werde nicht mißverstanden
werden, wenn ich sage, daß beide Teile gleich recht oder gleich unrecht hatten.
Wir alle gehören und gehören auch wieder nicht zum Volke. Wir ge¬
hören ihm insofern zu, als wir seine Sprache sprechen, seine Geschicke teilen,
uns als Glied der großen deutschen Nation empfinden, nicht bloß soweit die
deutschen Marken reichen, sondern soweit die deutsche Zunge klingt. Wir ge¬
hören aber nicht zum Volke, insoweit man unter demselben jenen Teil der Ge¬
samtheit einer Nation versteht, welcher keine gelehrte, fremdartige Bildung em¬
pfangen hat, sondern, wenn überhaupt eine Bildung, eine solche, welche den
volkstümlichen Boden nicht verlassen hat. Denn daß die Bildung der Gebildeten
keine rein volkstümliche, daß sie sich zusammensetzt aus den verschiedenartigsten
und dem Volke im engern Sinne völlig unbekannten Elementen, dies noch aus¬
führlicher darzulegen, hieße Eulen nach Athen tragen. Rom und Griechenland
haben uns genährt, die Errungenschaften der modernen Völker auf den ver¬
schiedenartigsten Gebieten der-Wissenschaft und Kunst sind unser geistiges Eigen¬
tum geworden, und als Fazit dieser Einflüsse ergiebt sich eine sprech- und
Denkweise und ein Ideenkreis, der sich in seiner Tiefe und Vielgestaltigkeit von
dem Gedankenkreise des Volkes und seiner sprech- und Denkweise wesentlich
unterscheidet.

Dieser verschieden potenzirten Bildungssphäre entsprechend hat denn auch
jeder Teil des Volkes seine eigne Poesie, und wir unterscheiden demgemäß eine


Die deutsche und die französische Volkdichtung.

genügend bekannt und gehörig gewürdigt worden ist? Um nur ein Beispiel
statt vieler anzuführen: Wenn Ernest Prarond von der französischen Volks¬
dichtung der Picardie seltsamerweise sagt: n'al risn trouvs as ng.it' 8orei ass
övtrMks an xsuxlö Kto., so weiß ich diesen Ausdruck nicht entsprechender
wiederzugeben als durch „hervorgegangen aus dem Gemüt, dem Gemütsleben
des Volkes." Und wie an das Wort, so werden wir uns auch daran gewöhnen
müssen, dem Franzosen die Sache, d.h. eine Volksdichtung, zuzugestehen, in
welcher sich sein Gemüt auf seine Weise, aber nicht minder reich und anmutig
wiederspiegelt als das deutsche.

Worin liegt nun der Grund, daß die französische Volksdichtung eine ver¬
hältnismäßig so unbekannte Sache ist, nicht bloß für den Deutschen — das
wäre begreiflich —, sondern auch, was wir kaum zu fassen vermögen, für den
Franzosen?

Wenn ich bei der Beantwortung dieser Frage scheinbar länger verweile,
als es durch den Gegenstand geboten erscheint, so geschieht es, weil die Stellung
der französischen Volksdichtung innerhalb der französischen Nation sich am
klarsten aus der gegensätzlichen Schilderung deutscher Verhältnisse ergeben wird.

Als einst im deutschen Reichstage Fürst Bismarck von sozialdemokratischer
Seite angegriffen wurde und der Ausdruck fiel, er gehöre nicht zum Volke, da
erhob er sich in seiner ganzen Größe, um diesen Vorwurf, denn als solchen
faßte er ihn auf, weit von sich abzuwehren. Ich werde nicht mißverstanden
werden, wenn ich sage, daß beide Teile gleich recht oder gleich unrecht hatten.
Wir alle gehören und gehören auch wieder nicht zum Volke. Wir ge¬
hören ihm insofern zu, als wir seine Sprache sprechen, seine Geschicke teilen,
uns als Glied der großen deutschen Nation empfinden, nicht bloß soweit die
deutschen Marken reichen, sondern soweit die deutsche Zunge klingt. Wir ge¬
hören aber nicht zum Volke, insoweit man unter demselben jenen Teil der Ge¬
samtheit einer Nation versteht, welcher keine gelehrte, fremdartige Bildung em¬
pfangen hat, sondern, wenn überhaupt eine Bildung, eine solche, welche den
volkstümlichen Boden nicht verlassen hat. Denn daß die Bildung der Gebildeten
keine rein volkstümliche, daß sie sich zusammensetzt aus den verschiedenartigsten
und dem Volke im engern Sinne völlig unbekannten Elementen, dies noch aus¬
führlicher darzulegen, hieße Eulen nach Athen tragen. Rom und Griechenland
haben uns genährt, die Errungenschaften der modernen Völker auf den ver¬
schiedenartigsten Gebieten der-Wissenschaft und Kunst sind unser geistiges Eigen¬
tum geworden, und als Fazit dieser Einflüsse ergiebt sich eine sprech- und
Denkweise und ein Ideenkreis, der sich in seiner Tiefe und Vielgestaltigkeit von
dem Gedankenkreise des Volkes und seiner sprech- und Denkweise wesentlich
unterscheidet.

Dieser verschieden potenzirten Bildungssphäre entsprechend hat denn auch
jeder Teil des Volkes seine eigne Poesie, und wir unterscheiden demgemäß eine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0691" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/152692"/>
          <fw type="header" place="top"> Die deutsche und die französische Volkdichtung.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2645" prev="#ID_2644"> genügend bekannt und gehörig gewürdigt worden ist? Um nur ein Beispiel<lb/>
statt vieler anzuführen: Wenn Ernest Prarond von der französischen Volks¬<lb/>
dichtung der Picardie seltsamerweise sagt: n'al risn trouvs as ng.it' 8orei ass<lb/>
övtrMks an xsuxlö Kto., so weiß ich diesen Ausdruck nicht entsprechender<lb/>
wiederzugeben als durch &#x201E;hervorgegangen aus dem Gemüt, dem Gemütsleben<lb/>
des Volkes." Und wie an das Wort, so werden wir uns auch daran gewöhnen<lb/>
müssen, dem Franzosen die Sache, d.h. eine Volksdichtung, zuzugestehen, in<lb/>
welcher sich sein Gemüt auf seine Weise, aber nicht minder reich und anmutig<lb/>
wiederspiegelt als das deutsche.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2646"> Worin liegt nun der Grund, daß die französische Volksdichtung eine ver¬<lb/>
hältnismäßig so unbekannte Sache ist, nicht bloß für den Deutschen &#x2014; das<lb/>
wäre begreiflich &#x2014;, sondern auch, was wir kaum zu fassen vermögen, für den<lb/>
Franzosen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2647"> Wenn ich bei der Beantwortung dieser Frage scheinbar länger verweile,<lb/>
als es durch den Gegenstand geboten erscheint, so geschieht es, weil die Stellung<lb/>
der französischen Volksdichtung innerhalb der französischen Nation sich am<lb/>
klarsten aus der gegensätzlichen Schilderung deutscher Verhältnisse ergeben wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2648"> Als einst im deutschen Reichstage Fürst Bismarck von sozialdemokratischer<lb/>
Seite angegriffen wurde und der Ausdruck fiel, er gehöre nicht zum Volke, da<lb/>
erhob er sich in seiner ganzen Größe, um diesen Vorwurf, denn als solchen<lb/>
faßte er ihn auf, weit von sich abzuwehren. Ich werde nicht mißverstanden<lb/>
werden, wenn ich sage, daß beide Teile gleich recht oder gleich unrecht hatten.<lb/>
Wir alle gehören und gehören auch wieder nicht zum Volke. Wir ge¬<lb/>
hören ihm insofern zu, als wir seine Sprache sprechen, seine Geschicke teilen,<lb/>
uns als Glied der großen deutschen Nation empfinden, nicht bloß soweit die<lb/>
deutschen Marken reichen, sondern soweit die deutsche Zunge klingt. Wir ge¬<lb/>
hören aber nicht zum Volke, insoweit man unter demselben jenen Teil der Ge¬<lb/>
samtheit einer Nation versteht, welcher keine gelehrte, fremdartige Bildung em¬<lb/>
pfangen hat, sondern, wenn überhaupt eine Bildung, eine solche, welche den<lb/>
volkstümlichen Boden nicht verlassen hat. Denn daß die Bildung der Gebildeten<lb/>
keine rein volkstümliche, daß sie sich zusammensetzt aus den verschiedenartigsten<lb/>
und dem Volke im engern Sinne völlig unbekannten Elementen, dies noch aus¬<lb/>
führlicher darzulegen, hieße Eulen nach Athen tragen. Rom und Griechenland<lb/>
haben uns genährt, die Errungenschaften der modernen Völker auf den ver¬<lb/>
schiedenartigsten Gebieten der-Wissenschaft und Kunst sind unser geistiges Eigen¬<lb/>
tum geworden, und als Fazit dieser Einflüsse ergiebt sich eine sprech- und<lb/>
Denkweise und ein Ideenkreis, der sich in seiner Tiefe und Vielgestaltigkeit von<lb/>
dem Gedankenkreise des Volkes und seiner sprech- und Denkweise wesentlich<lb/>
unterscheidet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2649" next="#ID_2650"> Dieser verschieden potenzirten Bildungssphäre entsprechend hat denn auch<lb/>
jeder Teil des Volkes seine eigne Poesie, und wir unterscheiden demgemäß eine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0691] Die deutsche und die französische Volkdichtung. genügend bekannt und gehörig gewürdigt worden ist? Um nur ein Beispiel statt vieler anzuführen: Wenn Ernest Prarond von der französischen Volks¬ dichtung der Picardie seltsamerweise sagt: n'al risn trouvs as ng.it' 8orei ass övtrMks an xsuxlö Kto., so weiß ich diesen Ausdruck nicht entsprechender wiederzugeben als durch „hervorgegangen aus dem Gemüt, dem Gemütsleben des Volkes." Und wie an das Wort, so werden wir uns auch daran gewöhnen müssen, dem Franzosen die Sache, d.h. eine Volksdichtung, zuzugestehen, in welcher sich sein Gemüt auf seine Weise, aber nicht minder reich und anmutig wiederspiegelt als das deutsche. Worin liegt nun der Grund, daß die französische Volksdichtung eine ver¬ hältnismäßig so unbekannte Sache ist, nicht bloß für den Deutschen — das wäre begreiflich —, sondern auch, was wir kaum zu fassen vermögen, für den Franzosen? Wenn ich bei der Beantwortung dieser Frage scheinbar länger verweile, als es durch den Gegenstand geboten erscheint, so geschieht es, weil die Stellung der französischen Volksdichtung innerhalb der französischen Nation sich am klarsten aus der gegensätzlichen Schilderung deutscher Verhältnisse ergeben wird. Als einst im deutschen Reichstage Fürst Bismarck von sozialdemokratischer Seite angegriffen wurde und der Ausdruck fiel, er gehöre nicht zum Volke, da erhob er sich in seiner ganzen Größe, um diesen Vorwurf, denn als solchen faßte er ihn auf, weit von sich abzuwehren. Ich werde nicht mißverstanden werden, wenn ich sage, daß beide Teile gleich recht oder gleich unrecht hatten. Wir alle gehören und gehören auch wieder nicht zum Volke. Wir ge¬ hören ihm insofern zu, als wir seine Sprache sprechen, seine Geschicke teilen, uns als Glied der großen deutschen Nation empfinden, nicht bloß soweit die deutschen Marken reichen, sondern soweit die deutsche Zunge klingt. Wir ge¬ hören aber nicht zum Volke, insoweit man unter demselben jenen Teil der Ge¬ samtheit einer Nation versteht, welcher keine gelehrte, fremdartige Bildung em¬ pfangen hat, sondern, wenn überhaupt eine Bildung, eine solche, welche den volkstümlichen Boden nicht verlassen hat. Denn daß die Bildung der Gebildeten keine rein volkstümliche, daß sie sich zusammensetzt aus den verschiedenartigsten und dem Volke im engern Sinne völlig unbekannten Elementen, dies noch aus¬ führlicher darzulegen, hieße Eulen nach Athen tragen. Rom und Griechenland haben uns genährt, die Errungenschaften der modernen Völker auf den ver¬ schiedenartigsten Gebieten der-Wissenschaft und Kunst sind unser geistiges Eigen¬ tum geworden, und als Fazit dieser Einflüsse ergiebt sich eine sprech- und Denkweise und ein Ideenkreis, der sich in seiner Tiefe und Vielgestaltigkeit von dem Gedankenkreise des Volkes und seiner sprech- und Denkweise wesentlich unterscheidet. Dieser verschieden potenzirten Bildungssphäre entsprechend hat denn auch jeder Teil des Volkes seine eigne Poesie, und wir unterscheiden demgemäß eine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/691
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/691>, abgerufen am 23.07.2024.