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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Über nationale Geschichtschreibung.

liebsten Sonderbestrebungen auseinandergehen, eine Nation werden möchten und
doch nicht werden können. Ohne das Vorhandensein einer deutschen Nation aber
ist auch eine deutsche nationale Geschichtschreibung nicht möglich.

Wenn es nun aber die Aufgabe der historischen Wissenschaft ist, die
allgemeinen Gesetze der geschichtlichen Entwicklung, die sich in den großen
Erscheinungen des Völkerlebens offenbaren, und ihre je nach den Verhältnissen
wechselnde Wirksamkeit nachzuweisen und zu begreife", so wird sie, will sie dies
erreichen, natürlich vornehmlich die großen historischen Individuen zu Objekten
ihres Studiums macheu, in deren Leben diese Gesetze im größten Maßstabe
und daher am deutlichsten erkennbar zu Tage treten. Diese großen historischen
Individuen aber sind eben die Nationen. Mußte nun aber von diesem Stand¬
punkte aus die deutsche Geschichte, bisher zu keinem erkennbaren Abschlüsse
führend, in sich widerspruchsvoll und rätselhaft, manchem nicht geradezu als
ein besonders ungeeignetes Objekt erscheinen? Und sollte von hier aus nicht der,
ich will nicht sagen uatioualitätslvse, aber doch internationale Zug zu erklären
sein, welcher der deutschen Geschichtschreibung eigen ist? die auffallende Vorliebe
unsrer gefeiertsten Historiker für ans der Fremde entlehnte Stoffe? Ranke hat
die italienische, die französische, die englische Geschichte behandelt, der vater¬
ländischen, welcher er einst sein glücklichstes Werk gewidmet, hat er sich erst
nach einer langen Unterbrechung wieder zugewandt und zwar ausgesprochener-
maßen unter dem Einflüsse, welchen die Entfaltung des nationalen Lebens in
Deutschland auf ihn einübte. Heinrich von Sybel verdankt seinen Ruhm der
Geschichte der französischen Revolution, also der Behandlung eines sozusagen
internationalen Themas. Ich erinnere ferner an das, was Lorenz Hegel,
Reuchlin und Gregorovius für die italienische, Lappenberg, Pauli und Gneist für
die englische, Röpell und Co.ro für die polnische, Strahl und Herrmann für
die russische, Hopf und Mendelssohn-Bartholdy für die griechische, Zinkeisen und
Rohre für die türkische Geschichte gethan haben, an das, was Dahlmann für
die Geschichte Dänemarks, Baumgarten für die Spaniens, Lemcke für die
Portugals geleistet hat. Ich möchte mit diesen Bemerkungen uicht mißverstanden
werden: weit davon entfernt, das Verdienst der genannten Gelehrten herabzusetzen
oder den Beifall, den ihre Werke gefunden, als nicht völlig berechtigt darzustellen,
will ich nur die bezeichnende Thatsache konstatiren, daß von den namhaftesten
Geschichtschreibern Deutschlands die überwiegende Mehrzahl ihren Ruf der Be¬
handlung außerdeutscher Stoffe verdankt.

Haben wir nun darin einen Mangel zu sehen? Ist daraus der Entwicklung
unsres Volkstums ein Schaden erwachsen? Ich meine doch nicht! Sicherlich
nicht, insofern als der Mangel einer nationalen Geschichtschreibung doch nur
dem Mangel an wahrhaft nationaler Existenz entspricht, als die geschichtliche
Literatur, die, wie die Literatur überhaupt, den Gesamtinhalt des geistigen
und sittlichen Lebens eines Volkes wahrheitsgetreu zum Ausdruck bringen soll,


Über nationale Geschichtschreibung.

liebsten Sonderbestrebungen auseinandergehen, eine Nation werden möchten und
doch nicht werden können. Ohne das Vorhandensein einer deutschen Nation aber
ist auch eine deutsche nationale Geschichtschreibung nicht möglich.

Wenn es nun aber die Aufgabe der historischen Wissenschaft ist, die
allgemeinen Gesetze der geschichtlichen Entwicklung, die sich in den großen
Erscheinungen des Völkerlebens offenbaren, und ihre je nach den Verhältnissen
wechselnde Wirksamkeit nachzuweisen und zu begreife», so wird sie, will sie dies
erreichen, natürlich vornehmlich die großen historischen Individuen zu Objekten
ihres Studiums macheu, in deren Leben diese Gesetze im größten Maßstabe
und daher am deutlichsten erkennbar zu Tage treten. Diese großen historischen
Individuen aber sind eben die Nationen. Mußte nun aber von diesem Stand¬
punkte aus die deutsche Geschichte, bisher zu keinem erkennbaren Abschlüsse
führend, in sich widerspruchsvoll und rätselhaft, manchem nicht geradezu als
ein besonders ungeeignetes Objekt erscheinen? Und sollte von hier aus nicht der,
ich will nicht sagen uatioualitätslvse, aber doch internationale Zug zu erklären
sein, welcher der deutschen Geschichtschreibung eigen ist? die auffallende Vorliebe
unsrer gefeiertsten Historiker für ans der Fremde entlehnte Stoffe? Ranke hat
die italienische, die französische, die englische Geschichte behandelt, der vater¬
ländischen, welcher er einst sein glücklichstes Werk gewidmet, hat er sich erst
nach einer langen Unterbrechung wieder zugewandt und zwar ausgesprochener-
maßen unter dem Einflüsse, welchen die Entfaltung des nationalen Lebens in
Deutschland auf ihn einübte. Heinrich von Sybel verdankt seinen Ruhm der
Geschichte der französischen Revolution, also der Behandlung eines sozusagen
internationalen Themas. Ich erinnere ferner an das, was Lorenz Hegel,
Reuchlin und Gregorovius für die italienische, Lappenberg, Pauli und Gneist für
die englische, Röpell und Co.ro für die polnische, Strahl und Herrmann für
die russische, Hopf und Mendelssohn-Bartholdy für die griechische, Zinkeisen und
Rohre für die türkische Geschichte gethan haben, an das, was Dahlmann für
die Geschichte Dänemarks, Baumgarten für die Spaniens, Lemcke für die
Portugals geleistet hat. Ich möchte mit diesen Bemerkungen uicht mißverstanden
werden: weit davon entfernt, das Verdienst der genannten Gelehrten herabzusetzen
oder den Beifall, den ihre Werke gefunden, als nicht völlig berechtigt darzustellen,
will ich nur die bezeichnende Thatsache konstatiren, daß von den namhaftesten
Geschichtschreibern Deutschlands die überwiegende Mehrzahl ihren Ruf der Be¬
handlung außerdeutscher Stoffe verdankt.

Haben wir nun darin einen Mangel zu sehen? Ist daraus der Entwicklung
unsres Volkstums ein Schaden erwachsen? Ich meine doch nicht! Sicherlich
nicht, insofern als der Mangel einer nationalen Geschichtschreibung doch nur
dem Mangel an wahrhaft nationaler Existenz entspricht, als die geschichtliche
Literatur, die, wie die Literatur überhaupt, den Gesamtinhalt des geistigen
und sittlichen Lebens eines Volkes wahrheitsgetreu zum Ausdruck bringen soll,


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[0685] Über nationale Geschichtschreibung. liebsten Sonderbestrebungen auseinandergehen, eine Nation werden möchten und doch nicht werden können. Ohne das Vorhandensein einer deutschen Nation aber ist auch eine deutsche nationale Geschichtschreibung nicht möglich. Wenn es nun aber die Aufgabe der historischen Wissenschaft ist, die allgemeinen Gesetze der geschichtlichen Entwicklung, die sich in den großen Erscheinungen des Völkerlebens offenbaren, und ihre je nach den Verhältnissen wechselnde Wirksamkeit nachzuweisen und zu begreife», so wird sie, will sie dies erreichen, natürlich vornehmlich die großen historischen Individuen zu Objekten ihres Studiums macheu, in deren Leben diese Gesetze im größten Maßstabe und daher am deutlichsten erkennbar zu Tage treten. Diese großen historischen Individuen aber sind eben die Nationen. Mußte nun aber von diesem Stand¬ punkte aus die deutsche Geschichte, bisher zu keinem erkennbaren Abschlüsse führend, in sich widerspruchsvoll und rätselhaft, manchem nicht geradezu als ein besonders ungeeignetes Objekt erscheinen? Und sollte von hier aus nicht der, ich will nicht sagen uatioualitätslvse, aber doch internationale Zug zu erklären sein, welcher der deutschen Geschichtschreibung eigen ist? die auffallende Vorliebe unsrer gefeiertsten Historiker für ans der Fremde entlehnte Stoffe? Ranke hat die italienische, die französische, die englische Geschichte behandelt, der vater¬ ländischen, welcher er einst sein glücklichstes Werk gewidmet, hat er sich erst nach einer langen Unterbrechung wieder zugewandt und zwar ausgesprochener- maßen unter dem Einflüsse, welchen die Entfaltung des nationalen Lebens in Deutschland auf ihn einübte. Heinrich von Sybel verdankt seinen Ruhm der Geschichte der französischen Revolution, also der Behandlung eines sozusagen internationalen Themas. Ich erinnere ferner an das, was Lorenz Hegel, Reuchlin und Gregorovius für die italienische, Lappenberg, Pauli und Gneist für die englische, Röpell und Co.ro für die polnische, Strahl und Herrmann für die russische, Hopf und Mendelssohn-Bartholdy für die griechische, Zinkeisen und Rohre für die türkische Geschichte gethan haben, an das, was Dahlmann für die Geschichte Dänemarks, Baumgarten für die Spaniens, Lemcke für die Portugals geleistet hat. Ich möchte mit diesen Bemerkungen uicht mißverstanden werden: weit davon entfernt, das Verdienst der genannten Gelehrten herabzusetzen oder den Beifall, den ihre Werke gefunden, als nicht völlig berechtigt darzustellen, will ich nur die bezeichnende Thatsache konstatiren, daß von den namhaftesten Geschichtschreibern Deutschlands die überwiegende Mehrzahl ihren Ruf der Be¬ handlung außerdeutscher Stoffe verdankt. Haben wir nun darin einen Mangel zu sehen? Ist daraus der Entwicklung unsres Volkstums ein Schaden erwachsen? Ich meine doch nicht! Sicherlich nicht, insofern als der Mangel einer nationalen Geschichtschreibung doch nur dem Mangel an wahrhaft nationaler Existenz entspricht, als die geschichtliche Literatur, die, wie die Literatur überhaupt, den Gesamtinhalt des geistigen und sittlichen Lebens eines Volkes wahrheitsgetreu zum Ausdruck bringen soll,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/685>, abgerufen am 23.07.2024.