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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Über nationale Geschichtschreibung.

verständnisvolle Anhänger und eifrige Nachbeter, und selbst nach dem Schicksals¬
spruch von 1866 und 1870 fehlte es nicht ganz an Vertretern jenes politischen
Dogmas, nach welchem der Fridericianismus und die auf ihm beruhende Ent¬
wicklung wenn nicht geradezu ein Unglück, so doch jedenfalls kein Segen für
Deutschland gewesen sein soll. Noch hört man oft genug diese historisch-politische
Weisheit variiren, und ihre Vertreter werden noch immer nicht müde, von ihrem
Standpunkte aus die praktischen Konsequenzen zu ziehen, welche sich für die
Gegenwart daraus ergeben sollen.

Mit dem Zeitalter der Befreiungskriege aber, dem lichtesten Punkte in der Ver¬
gangenheit Deutschlands bis auf die größern Ereignisse 1870--1871, ist es nicht
wesentlich besser bestellt. In der napoleonischen Zeit ist der dem Keime nach ja
immer vorhandene Gegensatz zwischen dem Norden und dem Süden von Deutsch¬
land organisirt und zu einem politischen Systeme ausgebildet worden, dessen
Vorteile freilich dem ganzen Deutschland so wenig wie seinen Teilen, sondern
außerdeutschen oder doch halbdeutschen Mächten zu gute kamen. Die Schlachten
der Befreiungskriege sind ja nun einmal nicht bloß gegen die Franzosen, sondern
auch gegen den Süden geschlagen worden, und das Auseinandergehen nach ganz
verschiednen Richtungen, das gleich darnach in der Entwicklung beider eintrat,
verschärfte den immer bestehenden Gegensatz und ließ das alle Zeit vorhandene
Gemeinsame so weit vergessen, daß selbst nach der günstigen Wendung, die unsre
nationale Entwicklung neuerdings genommen, die Verständigung auf dem Boden
der Geschichte erschwert bleibt und eine gerechte gegenseitige Würdigung oft ver¬
mißt wird. Finden wir den starken Nachklang davon doch selbst in einem der
glänzendsten und verdienstlichsten Werke über die neueste deutsche Geschichte,
welches mit seinem hohen sittlich-patriotischen Pathos, seiner edeln nationalen
Gesinnung, seiner praktisch-politischen Weisheit mit Recht als eine der Zierden
unsrer historischen Literatur gefeiert wird und dem Ideal eines nationalen Ge-
schichtswerkes in manchem Punkte ganz nahe kommt, während es doch auf der
andern Seite durch die unleugbare Voreingenommenheit und Unbilligkeit des
Urteiles über wichtige Lebensformen und Lebensbethätigungen des nichtpreu¬
ßischen Südens verletzt und anstößt und sich den ungegründeten Vorwurf tenden¬
ziöser Geschichtsmacherei zugezogen hat.

Auf eine mehr als tausendjährige, an großen und glänzenden Thaten über¬
reiche Entwicklung zurückblickend, haben wir Deutschen eine eigentlich nationale
Geschichtschreibung bei uns doch noch nicht entstehen sehen. Denn bisher erzählte
diese tausendjährige Geschichte nicht von den Thaten und Leiden einer Nation,
sondern von den wechselnd gruppirten Stämmen und Staaten des einen, viel¬
geteilten Volkes, welche einander anziehend, aber auch wieder abstoßend, froh
der Gemeinsamkeit in den wichtigsten Lebensmomenten, in andern, praktisch
augenblicklich viel wichtigern, unfähig sich zu verständigen, den Drang zu natio¬
naler Zusammenschließuug mächtig empfinden und dann wieder in den klein-


Über nationale Geschichtschreibung.

verständnisvolle Anhänger und eifrige Nachbeter, und selbst nach dem Schicksals¬
spruch von 1866 und 1870 fehlte es nicht ganz an Vertretern jenes politischen
Dogmas, nach welchem der Fridericianismus und die auf ihm beruhende Ent¬
wicklung wenn nicht geradezu ein Unglück, so doch jedenfalls kein Segen für
Deutschland gewesen sein soll. Noch hört man oft genug diese historisch-politische
Weisheit variiren, und ihre Vertreter werden noch immer nicht müde, von ihrem
Standpunkte aus die praktischen Konsequenzen zu ziehen, welche sich für die
Gegenwart daraus ergeben sollen.

Mit dem Zeitalter der Befreiungskriege aber, dem lichtesten Punkte in der Ver¬
gangenheit Deutschlands bis auf die größern Ereignisse 1870—1871, ist es nicht
wesentlich besser bestellt. In der napoleonischen Zeit ist der dem Keime nach ja
immer vorhandene Gegensatz zwischen dem Norden und dem Süden von Deutsch¬
land organisirt und zu einem politischen Systeme ausgebildet worden, dessen
Vorteile freilich dem ganzen Deutschland so wenig wie seinen Teilen, sondern
außerdeutschen oder doch halbdeutschen Mächten zu gute kamen. Die Schlachten
der Befreiungskriege sind ja nun einmal nicht bloß gegen die Franzosen, sondern
auch gegen den Süden geschlagen worden, und das Auseinandergehen nach ganz
verschiednen Richtungen, das gleich darnach in der Entwicklung beider eintrat,
verschärfte den immer bestehenden Gegensatz und ließ das alle Zeit vorhandene
Gemeinsame so weit vergessen, daß selbst nach der günstigen Wendung, die unsre
nationale Entwicklung neuerdings genommen, die Verständigung auf dem Boden
der Geschichte erschwert bleibt und eine gerechte gegenseitige Würdigung oft ver¬
mißt wird. Finden wir den starken Nachklang davon doch selbst in einem der
glänzendsten und verdienstlichsten Werke über die neueste deutsche Geschichte,
welches mit seinem hohen sittlich-patriotischen Pathos, seiner edeln nationalen
Gesinnung, seiner praktisch-politischen Weisheit mit Recht als eine der Zierden
unsrer historischen Literatur gefeiert wird und dem Ideal eines nationalen Ge-
schichtswerkes in manchem Punkte ganz nahe kommt, während es doch auf der
andern Seite durch die unleugbare Voreingenommenheit und Unbilligkeit des
Urteiles über wichtige Lebensformen und Lebensbethätigungen des nichtpreu¬
ßischen Südens verletzt und anstößt und sich den ungegründeten Vorwurf tenden¬
ziöser Geschichtsmacherei zugezogen hat.

Auf eine mehr als tausendjährige, an großen und glänzenden Thaten über¬
reiche Entwicklung zurückblickend, haben wir Deutschen eine eigentlich nationale
Geschichtschreibung bei uns doch noch nicht entstehen sehen. Denn bisher erzählte
diese tausendjährige Geschichte nicht von den Thaten und Leiden einer Nation,
sondern von den wechselnd gruppirten Stämmen und Staaten des einen, viel¬
geteilten Volkes, welche einander anziehend, aber auch wieder abstoßend, froh
der Gemeinsamkeit in den wichtigsten Lebensmomenten, in andern, praktisch
augenblicklich viel wichtigern, unfähig sich zu verständigen, den Drang zu natio¬
naler Zusammenschließuug mächtig empfinden und dann wieder in den klein-


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[0684] Über nationale Geschichtschreibung. verständnisvolle Anhänger und eifrige Nachbeter, und selbst nach dem Schicksals¬ spruch von 1866 und 1870 fehlte es nicht ganz an Vertretern jenes politischen Dogmas, nach welchem der Fridericianismus und die auf ihm beruhende Ent¬ wicklung wenn nicht geradezu ein Unglück, so doch jedenfalls kein Segen für Deutschland gewesen sein soll. Noch hört man oft genug diese historisch-politische Weisheit variiren, und ihre Vertreter werden noch immer nicht müde, von ihrem Standpunkte aus die praktischen Konsequenzen zu ziehen, welche sich für die Gegenwart daraus ergeben sollen. Mit dem Zeitalter der Befreiungskriege aber, dem lichtesten Punkte in der Ver¬ gangenheit Deutschlands bis auf die größern Ereignisse 1870—1871, ist es nicht wesentlich besser bestellt. In der napoleonischen Zeit ist der dem Keime nach ja immer vorhandene Gegensatz zwischen dem Norden und dem Süden von Deutsch¬ land organisirt und zu einem politischen Systeme ausgebildet worden, dessen Vorteile freilich dem ganzen Deutschland so wenig wie seinen Teilen, sondern außerdeutschen oder doch halbdeutschen Mächten zu gute kamen. Die Schlachten der Befreiungskriege sind ja nun einmal nicht bloß gegen die Franzosen, sondern auch gegen den Süden geschlagen worden, und das Auseinandergehen nach ganz verschiednen Richtungen, das gleich darnach in der Entwicklung beider eintrat, verschärfte den immer bestehenden Gegensatz und ließ das alle Zeit vorhandene Gemeinsame so weit vergessen, daß selbst nach der günstigen Wendung, die unsre nationale Entwicklung neuerdings genommen, die Verständigung auf dem Boden der Geschichte erschwert bleibt und eine gerechte gegenseitige Würdigung oft ver¬ mißt wird. Finden wir den starken Nachklang davon doch selbst in einem der glänzendsten und verdienstlichsten Werke über die neueste deutsche Geschichte, welches mit seinem hohen sittlich-patriotischen Pathos, seiner edeln nationalen Gesinnung, seiner praktisch-politischen Weisheit mit Recht als eine der Zierden unsrer historischen Literatur gefeiert wird und dem Ideal eines nationalen Ge- schichtswerkes in manchem Punkte ganz nahe kommt, während es doch auf der andern Seite durch die unleugbare Voreingenommenheit und Unbilligkeit des Urteiles über wichtige Lebensformen und Lebensbethätigungen des nichtpreu¬ ßischen Südens verletzt und anstößt und sich den ungegründeten Vorwurf tenden¬ ziöser Geschichtsmacherei zugezogen hat. Auf eine mehr als tausendjährige, an großen und glänzenden Thaten über¬ reiche Entwicklung zurückblickend, haben wir Deutschen eine eigentlich nationale Geschichtschreibung bei uns doch noch nicht entstehen sehen. Denn bisher erzählte diese tausendjährige Geschichte nicht von den Thaten und Leiden einer Nation, sondern von den wechselnd gruppirten Stämmen und Staaten des einen, viel¬ geteilten Volkes, welche einander anziehend, aber auch wieder abstoßend, froh der Gemeinsamkeit in den wichtigsten Lebensmomenten, in andern, praktisch augenblicklich viel wichtigern, unfähig sich zu verständigen, den Drang zu natio¬ naler Zusammenschließuug mächtig empfinden und dann wieder in den klein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/684>, abgerufen am 23.07.2024.