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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Über nationale Geschichtschreibung.

Denn haben wird eine nationale Geschichtschreibung? Konnten wir eine
solche haben? Und wenn nicht -- wie kam das? Und wie kann das anders
werden?

Diese Fragen sei es mir vergönnt an dem heutigen festlichen Tage zu be¬
handeln, wo wir, unserm Kaiser huldigend, auf den irdene- und ergebnisreichsten
Teil der deutschen Geschichte zurückblicken.

Über Begriff und Wesen nationaler Geschichtschreibung überhaupt sich zu
verstündigen, ist wohl nicht so schwer, wie es zunächst scheinen mag. Denn
maßgebend für die Bezeichnung einer Geschichtschreibung als nationale sind in
gleicher Weise Inhalt, Form und Tendenz derselben. Als national wird
man wohl diejenige Geschichtschreibung bezeichnen dürfen, welche einen Stoff be¬
handelt, der in seiner epochemachenden Bedeutung für die Gesamtentwicklung
des betreffenden Volkes allgemein anerkannt ist, und zwar behandelt einmal
in einer Form, welche der Gcsamtvertrctnng der nationalen Bildung ange¬
messen und mit Genuß verständlich ist, und dann in der Absicht und mit dem
Erfolge behandelt, daß der geschichtliche Inhalt desselben erkannt und begriffen
werde als die notwendige und kontinuirlich fortwirkende Grundlage für die in
der Gegenwart bestehende Ordnung und daher auch geachtet werde als ein Mo¬
ment, welches auf die weitere Entwicklung der Nation bestimmend einzuwirken
berufen ist. Nationale Geschichtschreibung, so wenig sie der gelehrten Grund¬
lage entbehren kann, ist daher weder ausschließlich noch vorzugsweise gelehrt,
vielmehr verfolgt sie eine allgemeine, praktisch-politische oder national erziehende
Tendenz. Sie will und soll die lebendige Verbindung herstellen zwischen Ver¬
gangenheit und Gegenwart, indem sie durch den Nachweis seiner historisch ge¬
gebenen Bedingungen über Wesen, Berechtigung und Entwicklungsfähigkeit des
gegenwärtigen Zustandes aufklärt und so die Nation erzieht und anleitet zur
Erfüllung ihrer Pflichten und zur Übung ihrer Rechte in Gegenwart und Zu¬
kunft. Die nationale Geschichtschreibung zieht die Summe aus der Vergangen¬
heit und übermittelt, was darin geirrt und gefehlt, als warnende Lehre, was
darin Großes gewonnen und geleistet worden ist, als kostbares Vermächtnis
und ermunterndes Vorbild der Gegenwart, damit das eine wie das andre Frucht
trage und Segen bringe in der Zukunft.

Von hier aus ergeben sich nun sofort die Bedingungen, von welchen Ent¬
stehung und Entwicklung einer nationalen Geschichtschreibung abhängig sind.

Zunächst und vor allem bedarf es dazu des Vorhandenseins einer Nation,
eines in sich geschlossenen Volkstums, welches sich seiner nationalen Eigenart
bewußt ist und nicht bloß die mit nationaler Existenz verbundenen Rechte zu
üben, sondern auch die davon untrennbaren ernsten und schweren Pflichten zu
erfüllen bereit und zu erfüllen befähigt ist. Zu solchem nationalen Bewußtsein
aber kommt ein Volk selten ohne harte innere Kämpfe und schwere äußere
Heimsuchungen; zur Nation wird es meistens erst geschmiedet durch ein großes,


Über nationale Geschichtschreibung.

Denn haben wird eine nationale Geschichtschreibung? Konnten wir eine
solche haben? Und wenn nicht — wie kam das? Und wie kann das anders
werden?

Diese Fragen sei es mir vergönnt an dem heutigen festlichen Tage zu be¬
handeln, wo wir, unserm Kaiser huldigend, auf den irdene- und ergebnisreichsten
Teil der deutschen Geschichte zurückblicken.

Über Begriff und Wesen nationaler Geschichtschreibung überhaupt sich zu
verstündigen, ist wohl nicht so schwer, wie es zunächst scheinen mag. Denn
maßgebend für die Bezeichnung einer Geschichtschreibung als nationale sind in
gleicher Weise Inhalt, Form und Tendenz derselben. Als national wird
man wohl diejenige Geschichtschreibung bezeichnen dürfen, welche einen Stoff be¬
handelt, der in seiner epochemachenden Bedeutung für die Gesamtentwicklung
des betreffenden Volkes allgemein anerkannt ist, und zwar behandelt einmal
in einer Form, welche der Gcsamtvertrctnng der nationalen Bildung ange¬
messen und mit Genuß verständlich ist, und dann in der Absicht und mit dem
Erfolge behandelt, daß der geschichtliche Inhalt desselben erkannt und begriffen
werde als die notwendige und kontinuirlich fortwirkende Grundlage für die in
der Gegenwart bestehende Ordnung und daher auch geachtet werde als ein Mo¬
ment, welches auf die weitere Entwicklung der Nation bestimmend einzuwirken
berufen ist. Nationale Geschichtschreibung, so wenig sie der gelehrten Grund¬
lage entbehren kann, ist daher weder ausschließlich noch vorzugsweise gelehrt,
vielmehr verfolgt sie eine allgemeine, praktisch-politische oder national erziehende
Tendenz. Sie will und soll die lebendige Verbindung herstellen zwischen Ver¬
gangenheit und Gegenwart, indem sie durch den Nachweis seiner historisch ge¬
gebenen Bedingungen über Wesen, Berechtigung und Entwicklungsfähigkeit des
gegenwärtigen Zustandes aufklärt und so die Nation erzieht und anleitet zur
Erfüllung ihrer Pflichten und zur Übung ihrer Rechte in Gegenwart und Zu¬
kunft. Die nationale Geschichtschreibung zieht die Summe aus der Vergangen¬
heit und übermittelt, was darin geirrt und gefehlt, als warnende Lehre, was
darin Großes gewonnen und geleistet worden ist, als kostbares Vermächtnis
und ermunterndes Vorbild der Gegenwart, damit das eine wie das andre Frucht
trage und Segen bringe in der Zukunft.

Von hier aus ergeben sich nun sofort die Bedingungen, von welchen Ent¬
stehung und Entwicklung einer nationalen Geschichtschreibung abhängig sind.

Zunächst und vor allem bedarf es dazu des Vorhandenseins einer Nation,
eines in sich geschlossenen Volkstums, welches sich seiner nationalen Eigenart
bewußt ist und nicht bloß die mit nationaler Existenz verbundenen Rechte zu
üben, sondern auch die davon untrennbaren ernsten und schweren Pflichten zu
erfüllen bereit und zu erfüllen befähigt ist. Zu solchem nationalen Bewußtsein
aber kommt ein Volk selten ohne harte innere Kämpfe und schwere äußere
Heimsuchungen; zur Nation wird es meistens erst geschmiedet durch ein großes,


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[0677] Über nationale Geschichtschreibung. Denn haben wird eine nationale Geschichtschreibung? Konnten wir eine solche haben? Und wenn nicht — wie kam das? Und wie kann das anders werden? Diese Fragen sei es mir vergönnt an dem heutigen festlichen Tage zu be¬ handeln, wo wir, unserm Kaiser huldigend, auf den irdene- und ergebnisreichsten Teil der deutschen Geschichte zurückblicken. Über Begriff und Wesen nationaler Geschichtschreibung überhaupt sich zu verstündigen, ist wohl nicht so schwer, wie es zunächst scheinen mag. Denn maßgebend für die Bezeichnung einer Geschichtschreibung als nationale sind in gleicher Weise Inhalt, Form und Tendenz derselben. Als national wird man wohl diejenige Geschichtschreibung bezeichnen dürfen, welche einen Stoff be¬ handelt, der in seiner epochemachenden Bedeutung für die Gesamtentwicklung des betreffenden Volkes allgemein anerkannt ist, und zwar behandelt einmal in einer Form, welche der Gcsamtvertrctnng der nationalen Bildung ange¬ messen und mit Genuß verständlich ist, und dann in der Absicht und mit dem Erfolge behandelt, daß der geschichtliche Inhalt desselben erkannt und begriffen werde als die notwendige und kontinuirlich fortwirkende Grundlage für die in der Gegenwart bestehende Ordnung und daher auch geachtet werde als ein Mo¬ ment, welches auf die weitere Entwicklung der Nation bestimmend einzuwirken berufen ist. Nationale Geschichtschreibung, so wenig sie der gelehrten Grund¬ lage entbehren kann, ist daher weder ausschließlich noch vorzugsweise gelehrt, vielmehr verfolgt sie eine allgemeine, praktisch-politische oder national erziehende Tendenz. Sie will und soll die lebendige Verbindung herstellen zwischen Ver¬ gangenheit und Gegenwart, indem sie durch den Nachweis seiner historisch ge¬ gebenen Bedingungen über Wesen, Berechtigung und Entwicklungsfähigkeit des gegenwärtigen Zustandes aufklärt und so die Nation erzieht und anleitet zur Erfüllung ihrer Pflichten und zur Übung ihrer Rechte in Gegenwart und Zu¬ kunft. Die nationale Geschichtschreibung zieht die Summe aus der Vergangen¬ heit und übermittelt, was darin geirrt und gefehlt, als warnende Lehre, was darin Großes gewonnen und geleistet worden ist, als kostbares Vermächtnis und ermunterndes Vorbild der Gegenwart, damit das eine wie das andre Frucht trage und Segen bringe in der Zukunft. Von hier aus ergeben sich nun sofort die Bedingungen, von welchen Ent¬ stehung und Entwicklung einer nationalen Geschichtschreibung abhängig sind. Zunächst und vor allem bedarf es dazu des Vorhandenseins einer Nation, eines in sich geschlossenen Volkstums, welches sich seiner nationalen Eigenart bewußt ist und nicht bloß die mit nationaler Existenz verbundenen Rechte zu üben, sondern auch die davon untrennbaren ernsten und schweren Pflichten zu erfüllen bereit und zu erfüllen befähigt ist. Zu solchem nationalen Bewußtsein aber kommt ein Volk selten ohne harte innere Kämpfe und schwere äußere Heimsuchungen; zur Nation wird es meistens erst geschmiedet durch ein großes,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/677>, abgerufen am 23.07.2024.