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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Über nationale Geschichtschreibung.

gewaltiges Schicksal. Es ringt sich zu nationalem Dasein erst empor durch
mühselige und oft lange Zeit unbelohnte Arbeit, zuweilen erst im Verzweiflungs¬
kampfe um seine Existenz. Und gerade solche große Krisen, in welchen eine
Nation sich als solche formirt oder nach Zeiten pflichtvergessener Schwäche sich
gewissermaßen auf sich selbst besinnt, sie bilden naturgemäß den vornehmsten,
nie veraltenden und nie erschöpften Stoff nationaler Geschichtschreibung. So
entfaltet bei den Griechen die nationale Geschichtschreibung in Herodot ihre erste
und zugleich schönste Blüte, unmittelbar nachdem das bisher vielgeteilte und
uneinige Volk gegenüber dem persischen Angriff sich als Nation fühlen gelernt
und in dem gemeinsamen Kampfe für seine Freiheit in unsterblichen Helden¬
thaten als solche bewährt hatte. Ähnliches geschah bei den Römern nach dem
Hannibalischen Kriege, welcher die nationale Kraft des in seiner Existenz be¬
drohten römischen Volkes zu den unvergleichlichsten Anstrengungen gesteigert hatte.
Und Mittelalter und Neuzeit bestätigen diese Beobachtung. Die erste große
nationale That des französischen Volkes, der Kampf um die Behauptung des
heiligen Landes, dessen Last anderthalb Jahrhunderte lang der französische Adel,
wenn auch nicht allein, so doch vorzugsweise getragen hat, und die während
derselben Zeit vollendete Abschließung des nationalen französischen Staates durch
die Eroberung der englischen Besitzungen auf dem Festlande fanden in Villehardouin
und Joinville, der große nationale Kampf gegen die englischen Erbansprüche
und die Neusammlung der zum Tode erschöpften nationalen Kräfte Frankreichs
nach dem hundertjährigen Kriege in Froissard und Philipp Commes ihre na¬
tionalen Historiker. Und besteht nicht noch heutigen Tages ein ganz ähnliches
Verhältnis zwischen der Ära der napoleonischen Kriege und den Werken von
Thiers, den in ihrer Art klassischen Produkten echt französischer nationaler Ge¬
schichtschreibung mit allen ihren Vorzügen, aber auch allen ihren Mängeln?

Gerade diese Beispiele weisen auf eine Eigenschaft hin, ohne welche der an
sich der Behandlung würdigste Stoff nicht wohl Gegenstand einer in dem fest¬
gestellten Sinne national zu nennenden Geschichtschreibung werden kann. Soll
diese nämlich, wie es ihr Wesen erfordert, auf die Gesamtheit der Nation
wirken, so muß sie sich über den Parteien halten, die in der Gegenwart mit
einander streiten. Daher bleiben ihr füglich die Stoffe versagt, welche nicht
behandelt werden können, ohne daß der nationalen Einheit gefährliche Momente
in Wirksamkeit gesetzt werden. Die Entwicklung des Gegensatzes zwischen Athen
und Sparta, das Ringen zwischen Optimalen und Populären, der Kampf der
Rosen in England, die Religions- und Bürgerkriege in Frankreich konnten viele
Generationen hindurch nicht Stoffe nationaler Geschichtschreibung werden. Und
dies gilt überhaupt von allen Stoffen, in deren Behandlung die Gegensätze
Wiederaufleben, welche Jahrzehnte hindurch das Leben einer Nation zerrissen,
vielleicht gar vergiftet haben. Denn erst sehr spät verlieren dieselben die ge¬
fährliche Kraft, den Hader der Vergangenheit in der Gegenwart neu zu ent-


Über nationale Geschichtschreibung.

gewaltiges Schicksal. Es ringt sich zu nationalem Dasein erst empor durch
mühselige und oft lange Zeit unbelohnte Arbeit, zuweilen erst im Verzweiflungs¬
kampfe um seine Existenz. Und gerade solche große Krisen, in welchen eine
Nation sich als solche formirt oder nach Zeiten pflichtvergessener Schwäche sich
gewissermaßen auf sich selbst besinnt, sie bilden naturgemäß den vornehmsten,
nie veraltenden und nie erschöpften Stoff nationaler Geschichtschreibung. So
entfaltet bei den Griechen die nationale Geschichtschreibung in Herodot ihre erste
und zugleich schönste Blüte, unmittelbar nachdem das bisher vielgeteilte und
uneinige Volk gegenüber dem persischen Angriff sich als Nation fühlen gelernt
und in dem gemeinsamen Kampfe für seine Freiheit in unsterblichen Helden¬
thaten als solche bewährt hatte. Ähnliches geschah bei den Römern nach dem
Hannibalischen Kriege, welcher die nationale Kraft des in seiner Existenz be¬
drohten römischen Volkes zu den unvergleichlichsten Anstrengungen gesteigert hatte.
Und Mittelalter und Neuzeit bestätigen diese Beobachtung. Die erste große
nationale That des französischen Volkes, der Kampf um die Behauptung des
heiligen Landes, dessen Last anderthalb Jahrhunderte lang der französische Adel,
wenn auch nicht allein, so doch vorzugsweise getragen hat, und die während
derselben Zeit vollendete Abschließung des nationalen französischen Staates durch
die Eroberung der englischen Besitzungen auf dem Festlande fanden in Villehardouin
und Joinville, der große nationale Kampf gegen die englischen Erbansprüche
und die Neusammlung der zum Tode erschöpften nationalen Kräfte Frankreichs
nach dem hundertjährigen Kriege in Froissard und Philipp Commes ihre na¬
tionalen Historiker. Und besteht nicht noch heutigen Tages ein ganz ähnliches
Verhältnis zwischen der Ära der napoleonischen Kriege und den Werken von
Thiers, den in ihrer Art klassischen Produkten echt französischer nationaler Ge¬
schichtschreibung mit allen ihren Vorzügen, aber auch allen ihren Mängeln?

Gerade diese Beispiele weisen auf eine Eigenschaft hin, ohne welche der an
sich der Behandlung würdigste Stoff nicht wohl Gegenstand einer in dem fest¬
gestellten Sinne national zu nennenden Geschichtschreibung werden kann. Soll
diese nämlich, wie es ihr Wesen erfordert, auf die Gesamtheit der Nation
wirken, so muß sie sich über den Parteien halten, die in der Gegenwart mit
einander streiten. Daher bleiben ihr füglich die Stoffe versagt, welche nicht
behandelt werden können, ohne daß der nationalen Einheit gefährliche Momente
in Wirksamkeit gesetzt werden. Die Entwicklung des Gegensatzes zwischen Athen
und Sparta, das Ringen zwischen Optimalen und Populären, der Kampf der
Rosen in England, die Religions- und Bürgerkriege in Frankreich konnten viele
Generationen hindurch nicht Stoffe nationaler Geschichtschreibung werden. Und
dies gilt überhaupt von allen Stoffen, in deren Behandlung die Gegensätze
Wiederaufleben, welche Jahrzehnte hindurch das Leben einer Nation zerrissen,
vielleicht gar vergiftet haben. Denn erst sehr spät verlieren dieselben die ge¬
fährliche Kraft, den Hader der Vergangenheit in der Gegenwart neu zu ent-


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[0678] Über nationale Geschichtschreibung. gewaltiges Schicksal. Es ringt sich zu nationalem Dasein erst empor durch mühselige und oft lange Zeit unbelohnte Arbeit, zuweilen erst im Verzweiflungs¬ kampfe um seine Existenz. Und gerade solche große Krisen, in welchen eine Nation sich als solche formirt oder nach Zeiten pflichtvergessener Schwäche sich gewissermaßen auf sich selbst besinnt, sie bilden naturgemäß den vornehmsten, nie veraltenden und nie erschöpften Stoff nationaler Geschichtschreibung. So entfaltet bei den Griechen die nationale Geschichtschreibung in Herodot ihre erste und zugleich schönste Blüte, unmittelbar nachdem das bisher vielgeteilte und uneinige Volk gegenüber dem persischen Angriff sich als Nation fühlen gelernt und in dem gemeinsamen Kampfe für seine Freiheit in unsterblichen Helden¬ thaten als solche bewährt hatte. Ähnliches geschah bei den Römern nach dem Hannibalischen Kriege, welcher die nationale Kraft des in seiner Existenz be¬ drohten römischen Volkes zu den unvergleichlichsten Anstrengungen gesteigert hatte. Und Mittelalter und Neuzeit bestätigen diese Beobachtung. Die erste große nationale That des französischen Volkes, der Kampf um die Behauptung des heiligen Landes, dessen Last anderthalb Jahrhunderte lang der französische Adel, wenn auch nicht allein, so doch vorzugsweise getragen hat, und die während derselben Zeit vollendete Abschließung des nationalen französischen Staates durch die Eroberung der englischen Besitzungen auf dem Festlande fanden in Villehardouin und Joinville, der große nationale Kampf gegen die englischen Erbansprüche und die Neusammlung der zum Tode erschöpften nationalen Kräfte Frankreichs nach dem hundertjährigen Kriege in Froissard und Philipp Commes ihre na¬ tionalen Historiker. Und besteht nicht noch heutigen Tages ein ganz ähnliches Verhältnis zwischen der Ära der napoleonischen Kriege und den Werken von Thiers, den in ihrer Art klassischen Produkten echt französischer nationaler Ge¬ schichtschreibung mit allen ihren Vorzügen, aber auch allen ihren Mängeln? Gerade diese Beispiele weisen auf eine Eigenschaft hin, ohne welche der an sich der Behandlung würdigste Stoff nicht wohl Gegenstand einer in dem fest¬ gestellten Sinne national zu nennenden Geschichtschreibung werden kann. Soll diese nämlich, wie es ihr Wesen erfordert, auf die Gesamtheit der Nation wirken, so muß sie sich über den Parteien halten, die in der Gegenwart mit einander streiten. Daher bleiben ihr füglich die Stoffe versagt, welche nicht behandelt werden können, ohne daß der nationalen Einheit gefährliche Momente in Wirksamkeit gesetzt werden. Die Entwicklung des Gegensatzes zwischen Athen und Sparta, das Ringen zwischen Optimalen und Populären, der Kampf der Rosen in England, die Religions- und Bürgerkriege in Frankreich konnten viele Generationen hindurch nicht Stoffe nationaler Geschichtschreibung werden. Und dies gilt überhaupt von allen Stoffen, in deren Behandlung die Gegensätze Wiederaufleben, welche Jahrzehnte hindurch das Leben einer Nation zerrissen, vielleicht gar vergiftet haben. Denn erst sehr spät verlieren dieselben die ge¬ fährliche Kraft, den Hader der Vergangenheit in der Gegenwart neu zu ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/678>, abgerufen am 23.07.2024.