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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Ein Tendenzschauspiel?

Etikette "Parlamentarismus." Was darunter zu verstehen sei, weiß es aller¬
dings nicht, aber zu einem richtigen Geheimmittel gehört ja ein unverständ¬
licher Name. Genug, die Mixtur soll irgendwo ganz erstaunliche Wirkungen
hervorgebracht, alle Kranken gesund und alle Gesunden -- reich, also glücklich
gemacht haben. Und wenn wir sämtlich gesund und reich und folglich glücklich
wären: eine Flasche Parlamentarismus müßten wir dennoch im Hause haben.
Das ist einmal so gebräuchlich, und wir dürfen nicht hinter der Zeit zurück¬
bleiben. Die Welt müßte ja glauben, wir kennten nicht den guten Ton. Daß
ein so bescheidner Wunsch unerfüllt bleibt, daran ist die Reaktion schuld, dieser
Inbegriff aller Bosheit, dieser Sammael, dessen Dichten und Trachten früh und
spät ist, das Thun der Lichtengel zu durchkreuzen und den ruhigen Bürger und
Steuerzahler zu peinigen. Wie ist solchem Aberglauben beizukommen? fragten
sich die Volksfreunde. Wenn der Arzt das kurpfuschende alte Weib entlarven
will, so bezichtigen ihn die Gläubigen des Brotneides; wenn die Polizei an¬
gerufen wird, macht man die Wohlthäterin der Armen noch zur Märtyrerin;
zeigt man einen, der durch die Kur zum Krüppel geworden ist, so heißt es, er
habe gewiß gegen die Weisungen der Wunderfrau gehandelt. Am eignen Leibe
muß jeder erfahren, was es mit den Geheimmitteln und Zaubersprüchen auf sich
hat. Dann freilich ist meistens keine Hilfe mehr möglich. Doch der Belesene
weiß, daß schon mancher durch ein Traumbild von seinem Wahne geheilt, zur
Umkehr bewogen worden ist. Wir kennen die Neujahrsnacht eines Unglücklichen,
Traum ein Leben u. s. w. Lassen wir unserm Volke im Traume seinen Willen,
damit es erwachend sein Glück begreifen und schätzen lerne.

Wie anders stellt sich alles dar, wenn wirs in diesem Lichte betrachten,
wie fügt und schickt sich alles, was unfaßbar und beklagenswert erschien, in ein
vom Patriotismus umsichtig aufgestelltes System!

Die Auflehnung gegen gerechtere Verteilung der Lasten, gegen den Schutz
der heimischen Produktion, gegen staatliche Fürsorge für diejenigen, welche sich
nicht selbst zu helfen vermögen, gegen die Sicherung der überseeischen Handels¬
verbindungen, die Schwärmerei für die Freiheit des Landstreichers, die Freiheit
der amerikanischen Trichine, die Hausirfreiheit, die zärtliche Sorge für den unga¬
rischen Getreidespekulanten, den russischen und amerikanischen Holzhändler, den
englischen Cottonfabrikcmten, die Begünstigung jedes Zwischenhändlers, ob er
Schweineschmalz, Cigarren oder Schnittwaaren führt, und die Taubheit gegen
die Beschwerden des Landwirtes und des Gewerbtreibenden, die Entrüstung, so
oft die Absicht auftaucht, das Hazardspiel an der Börse einzuschränken -- lauter
grobe, aber unstreitig wirksame Mittel der Komödie. Gewiß, die Schauspieler
verdienen alle Anerkennung für die Hingebung, mit welcher sie ihre anstrengenden
Rollen durchführen und sich nie verleiten lassen, dem Publikum, nach Art Zet¬
tels des Webers und andrer schlechten Komödianten, anzudeuten, sie seien nicht
so gefährlich, wie sie sich anstellen müssen. Daher haben wir auch Bedenken


Ein Tendenzschauspiel?

Etikette „Parlamentarismus." Was darunter zu verstehen sei, weiß es aller¬
dings nicht, aber zu einem richtigen Geheimmittel gehört ja ein unverständ¬
licher Name. Genug, die Mixtur soll irgendwo ganz erstaunliche Wirkungen
hervorgebracht, alle Kranken gesund und alle Gesunden — reich, also glücklich
gemacht haben. Und wenn wir sämtlich gesund und reich und folglich glücklich
wären: eine Flasche Parlamentarismus müßten wir dennoch im Hause haben.
Das ist einmal so gebräuchlich, und wir dürfen nicht hinter der Zeit zurück¬
bleiben. Die Welt müßte ja glauben, wir kennten nicht den guten Ton. Daß
ein so bescheidner Wunsch unerfüllt bleibt, daran ist die Reaktion schuld, dieser
Inbegriff aller Bosheit, dieser Sammael, dessen Dichten und Trachten früh und
spät ist, das Thun der Lichtengel zu durchkreuzen und den ruhigen Bürger und
Steuerzahler zu peinigen. Wie ist solchem Aberglauben beizukommen? fragten
sich die Volksfreunde. Wenn der Arzt das kurpfuschende alte Weib entlarven
will, so bezichtigen ihn die Gläubigen des Brotneides; wenn die Polizei an¬
gerufen wird, macht man die Wohlthäterin der Armen noch zur Märtyrerin;
zeigt man einen, der durch die Kur zum Krüppel geworden ist, so heißt es, er
habe gewiß gegen die Weisungen der Wunderfrau gehandelt. Am eignen Leibe
muß jeder erfahren, was es mit den Geheimmitteln und Zaubersprüchen auf sich
hat. Dann freilich ist meistens keine Hilfe mehr möglich. Doch der Belesene
weiß, daß schon mancher durch ein Traumbild von seinem Wahne geheilt, zur
Umkehr bewogen worden ist. Wir kennen die Neujahrsnacht eines Unglücklichen,
Traum ein Leben u. s. w. Lassen wir unserm Volke im Traume seinen Willen,
damit es erwachend sein Glück begreifen und schätzen lerne.

Wie anders stellt sich alles dar, wenn wirs in diesem Lichte betrachten,
wie fügt und schickt sich alles, was unfaßbar und beklagenswert erschien, in ein
vom Patriotismus umsichtig aufgestelltes System!

Die Auflehnung gegen gerechtere Verteilung der Lasten, gegen den Schutz
der heimischen Produktion, gegen staatliche Fürsorge für diejenigen, welche sich
nicht selbst zu helfen vermögen, gegen die Sicherung der überseeischen Handels¬
verbindungen, die Schwärmerei für die Freiheit des Landstreichers, die Freiheit
der amerikanischen Trichine, die Hausirfreiheit, die zärtliche Sorge für den unga¬
rischen Getreidespekulanten, den russischen und amerikanischen Holzhändler, den
englischen Cottonfabrikcmten, die Begünstigung jedes Zwischenhändlers, ob er
Schweineschmalz, Cigarren oder Schnittwaaren führt, und die Taubheit gegen
die Beschwerden des Landwirtes und des Gewerbtreibenden, die Entrüstung, so
oft die Absicht auftaucht, das Hazardspiel an der Börse einzuschränken — lauter
grobe, aber unstreitig wirksame Mittel der Komödie. Gewiß, die Schauspieler
verdienen alle Anerkennung für die Hingebung, mit welcher sie ihre anstrengenden
Rollen durchführen und sich nie verleiten lassen, dem Publikum, nach Art Zet¬
tels des Webers und andrer schlechten Komödianten, anzudeuten, sie seien nicht
so gefährlich, wie sie sich anstellen müssen. Daher haben wir auch Bedenken


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[0451] Ein Tendenzschauspiel? Etikette „Parlamentarismus." Was darunter zu verstehen sei, weiß es aller¬ dings nicht, aber zu einem richtigen Geheimmittel gehört ja ein unverständ¬ licher Name. Genug, die Mixtur soll irgendwo ganz erstaunliche Wirkungen hervorgebracht, alle Kranken gesund und alle Gesunden — reich, also glücklich gemacht haben. Und wenn wir sämtlich gesund und reich und folglich glücklich wären: eine Flasche Parlamentarismus müßten wir dennoch im Hause haben. Das ist einmal so gebräuchlich, und wir dürfen nicht hinter der Zeit zurück¬ bleiben. Die Welt müßte ja glauben, wir kennten nicht den guten Ton. Daß ein so bescheidner Wunsch unerfüllt bleibt, daran ist die Reaktion schuld, dieser Inbegriff aller Bosheit, dieser Sammael, dessen Dichten und Trachten früh und spät ist, das Thun der Lichtengel zu durchkreuzen und den ruhigen Bürger und Steuerzahler zu peinigen. Wie ist solchem Aberglauben beizukommen? fragten sich die Volksfreunde. Wenn der Arzt das kurpfuschende alte Weib entlarven will, so bezichtigen ihn die Gläubigen des Brotneides; wenn die Polizei an¬ gerufen wird, macht man die Wohlthäterin der Armen noch zur Märtyrerin; zeigt man einen, der durch die Kur zum Krüppel geworden ist, so heißt es, er habe gewiß gegen die Weisungen der Wunderfrau gehandelt. Am eignen Leibe muß jeder erfahren, was es mit den Geheimmitteln und Zaubersprüchen auf sich hat. Dann freilich ist meistens keine Hilfe mehr möglich. Doch der Belesene weiß, daß schon mancher durch ein Traumbild von seinem Wahne geheilt, zur Umkehr bewogen worden ist. Wir kennen die Neujahrsnacht eines Unglücklichen, Traum ein Leben u. s. w. Lassen wir unserm Volke im Traume seinen Willen, damit es erwachend sein Glück begreifen und schätzen lerne. Wie anders stellt sich alles dar, wenn wirs in diesem Lichte betrachten, wie fügt und schickt sich alles, was unfaßbar und beklagenswert erschien, in ein vom Patriotismus umsichtig aufgestelltes System! Die Auflehnung gegen gerechtere Verteilung der Lasten, gegen den Schutz der heimischen Produktion, gegen staatliche Fürsorge für diejenigen, welche sich nicht selbst zu helfen vermögen, gegen die Sicherung der überseeischen Handels¬ verbindungen, die Schwärmerei für die Freiheit des Landstreichers, die Freiheit der amerikanischen Trichine, die Hausirfreiheit, die zärtliche Sorge für den unga¬ rischen Getreidespekulanten, den russischen und amerikanischen Holzhändler, den englischen Cottonfabrikcmten, die Begünstigung jedes Zwischenhändlers, ob er Schweineschmalz, Cigarren oder Schnittwaaren führt, und die Taubheit gegen die Beschwerden des Landwirtes und des Gewerbtreibenden, die Entrüstung, so oft die Absicht auftaucht, das Hazardspiel an der Börse einzuschränken — lauter grobe, aber unstreitig wirksame Mittel der Komödie. Gewiß, die Schauspieler verdienen alle Anerkennung für die Hingebung, mit welcher sie ihre anstrengenden Rollen durchführen und sich nie verleiten lassen, dem Publikum, nach Art Zet¬ tels des Webers und andrer schlechten Komödianten, anzudeuten, sie seien nicht so gefährlich, wie sie sich anstellen müssen. Daher haben wir auch Bedenken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/451>, abgerufen am 23.07.2024.