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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Lin Tendenzschauspiel?

getragen, ihnen das Spiel zu verderben. Allein es ist doch wohl an der Zeit,
der Sache ein Ende zu machen, und zwar aus verschiednen Gründen.

Vor allem darf eine Vorstellung nicht zu lange wahren, weil sie sonst den
Zuschauer ermüdet und er endlich für die Entgegennahme der Moral am Schlusse
nicht mehr in der rechten Stimmung sein könnte. Die Künstler rechnen ohne
Zweifel nicht auf Dank, sie finden den Lohn im eignen Bewußtsein, aber sie
dürften entschieden Undank ernten, wenn sie gar zu spät die Masken herunter¬
nehmen. Das ist freilich ihre Sache. Dagegen leidet das Allgemeine Schaden,
weil nach dem Plan des Stückes so Nützliches und Notwendiges unterbleiben
muß, und in solchen Dingen ja der Zeitverlust nicht immer der einzige Verlust ist.

Außerdem mußte das Beispiel des Marquis Posel, der doch sicherlich das
Ideal jener Herren ist, ihnen sagen, wie leicht Intrigenspiele, die so kühn an¬
gelegt sind, von irgend einem nicht vorher zu berechnenden Zwischenfalle durch¬
kreuzt werden und ein böses Ende nehmen können. Soviel ist unverkennbar,
daß schon jetzt weit über das Ziel hinausgeschossen wird, und daß namentlich
der erste Held der Gesellschaft sich häufig von seinem Feuer (für die gute Sache)
zu Extempores hinreißen läßt, welche den Zweck der ganzen Aufführung ge¬
fährden. Er kopirt den brutalen Ton des hohlen Demagogentums mit einer
Treue, welche den Hörer empört. Seine pathetischen Beteuerungen, er werde
sich durch nichts abhalten lassen, über alles zu reden (mit Vorliebe natürlich über
das, was er nicht versteht), ist allerdings eine blutige Verhöhnung der Berufs-
rednerei, und der Einfall, sich in praktische Militärfragen mit Redensarten zu
mischen, wie sie seit 1848 nicht vernommen worden sind, darf geistreich genannt
werden. Aber er sollte nicht vergessen, daß viele, ja die meisten seine Sarkasmen
ganz falsch auffassen. Es ist so natürlich, daß auch der liberale Bürger, der
nicht mit im Geheimnis ist, fragt: Sehen wir denn auf unglückliche Feldzüge
zurück? Haben sich die Heereseinrichtungcn nicht bewährt? Sind unsre Offi¬
ziere von Adel vor dem Feinde davongelaufen oder haben sie unsre Festungen
verräterisch übergeben? Besteht heutzutage noch eine Kluft zwischen Adel und
Bürgertum wie vor achtzig Jahren? Zudem hatte er garnicht nötig, die Feinde
des stehenden Heeres so unbarmherzig zu karikiren, das besorgen ja die Herren
von der "Volkspartei" mit ihrer Miliz zur Genüge. Und vollends die vom
Zaun gebrochene Episode mit dem Grafen Moltke! Auch die Satire soll nicht
zu arg übertreiben. Wenn der greise Feldherr sich herausgenommen hätte, Herrn
Richter belehren zu wollen, wie man für den Geschmack der Politisch-Unmün¬
digen zu reden und zu schreiben habe, so würde die Antwort; "Das verstehen
Sie nicht, da bin ich Fachmann," sachlich berechtigt gewesen sein und sich dennoch
wegen ihrer Dreistigkeit allgemeinen Tadel zugezogen haben. So aber hat er
in dem Grafen Moltke das ganze Heer, die ganze Nation > alle Angehörigen
derselben, auf welchem Fleck der Erde sie auch wohnen mögen, aufs tiefste be¬
leidigt; und das stand wohl kaum in seiner Rolle.


Lin Tendenzschauspiel?

getragen, ihnen das Spiel zu verderben. Allein es ist doch wohl an der Zeit,
der Sache ein Ende zu machen, und zwar aus verschiednen Gründen.

Vor allem darf eine Vorstellung nicht zu lange wahren, weil sie sonst den
Zuschauer ermüdet und er endlich für die Entgegennahme der Moral am Schlusse
nicht mehr in der rechten Stimmung sein könnte. Die Künstler rechnen ohne
Zweifel nicht auf Dank, sie finden den Lohn im eignen Bewußtsein, aber sie
dürften entschieden Undank ernten, wenn sie gar zu spät die Masken herunter¬
nehmen. Das ist freilich ihre Sache. Dagegen leidet das Allgemeine Schaden,
weil nach dem Plan des Stückes so Nützliches und Notwendiges unterbleiben
muß, und in solchen Dingen ja der Zeitverlust nicht immer der einzige Verlust ist.

Außerdem mußte das Beispiel des Marquis Posel, der doch sicherlich das
Ideal jener Herren ist, ihnen sagen, wie leicht Intrigenspiele, die so kühn an¬
gelegt sind, von irgend einem nicht vorher zu berechnenden Zwischenfalle durch¬
kreuzt werden und ein böses Ende nehmen können. Soviel ist unverkennbar,
daß schon jetzt weit über das Ziel hinausgeschossen wird, und daß namentlich
der erste Held der Gesellschaft sich häufig von seinem Feuer (für die gute Sache)
zu Extempores hinreißen läßt, welche den Zweck der ganzen Aufführung ge¬
fährden. Er kopirt den brutalen Ton des hohlen Demagogentums mit einer
Treue, welche den Hörer empört. Seine pathetischen Beteuerungen, er werde
sich durch nichts abhalten lassen, über alles zu reden (mit Vorliebe natürlich über
das, was er nicht versteht), ist allerdings eine blutige Verhöhnung der Berufs-
rednerei, und der Einfall, sich in praktische Militärfragen mit Redensarten zu
mischen, wie sie seit 1848 nicht vernommen worden sind, darf geistreich genannt
werden. Aber er sollte nicht vergessen, daß viele, ja die meisten seine Sarkasmen
ganz falsch auffassen. Es ist so natürlich, daß auch der liberale Bürger, der
nicht mit im Geheimnis ist, fragt: Sehen wir denn auf unglückliche Feldzüge
zurück? Haben sich die Heereseinrichtungcn nicht bewährt? Sind unsre Offi¬
ziere von Adel vor dem Feinde davongelaufen oder haben sie unsre Festungen
verräterisch übergeben? Besteht heutzutage noch eine Kluft zwischen Adel und
Bürgertum wie vor achtzig Jahren? Zudem hatte er garnicht nötig, die Feinde
des stehenden Heeres so unbarmherzig zu karikiren, das besorgen ja die Herren
von der „Volkspartei" mit ihrer Miliz zur Genüge. Und vollends die vom
Zaun gebrochene Episode mit dem Grafen Moltke! Auch die Satire soll nicht
zu arg übertreiben. Wenn der greise Feldherr sich herausgenommen hätte, Herrn
Richter belehren zu wollen, wie man für den Geschmack der Politisch-Unmün¬
digen zu reden und zu schreiben habe, so würde die Antwort; „Das verstehen
Sie nicht, da bin ich Fachmann," sachlich berechtigt gewesen sein und sich dennoch
wegen ihrer Dreistigkeit allgemeinen Tadel zugezogen haben. So aber hat er
in dem Grafen Moltke das ganze Heer, die ganze Nation > alle Angehörigen
derselben, auf welchem Fleck der Erde sie auch wohnen mögen, aufs tiefste be¬
leidigt; und das stand wohl kaum in seiner Rolle.


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[0452] Lin Tendenzschauspiel? getragen, ihnen das Spiel zu verderben. Allein es ist doch wohl an der Zeit, der Sache ein Ende zu machen, und zwar aus verschiednen Gründen. Vor allem darf eine Vorstellung nicht zu lange wahren, weil sie sonst den Zuschauer ermüdet und er endlich für die Entgegennahme der Moral am Schlusse nicht mehr in der rechten Stimmung sein könnte. Die Künstler rechnen ohne Zweifel nicht auf Dank, sie finden den Lohn im eignen Bewußtsein, aber sie dürften entschieden Undank ernten, wenn sie gar zu spät die Masken herunter¬ nehmen. Das ist freilich ihre Sache. Dagegen leidet das Allgemeine Schaden, weil nach dem Plan des Stückes so Nützliches und Notwendiges unterbleiben muß, und in solchen Dingen ja der Zeitverlust nicht immer der einzige Verlust ist. Außerdem mußte das Beispiel des Marquis Posel, der doch sicherlich das Ideal jener Herren ist, ihnen sagen, wie leicht Intrigenspiele, die so kühn an¬ gelegt sind, von irgend einem nicht vorher zu berechnenden Zwischenfalle durch¬ kreuzt werden und ein böses Ende nehmen können. Soviel ist unverkennbar, daß schon jetzt weit über das Ziel hinausgeschossen wird, und daß namentlich der erste Held der Gesellschaft sich häufig von seinem Feuer (für die gute Sache) zu Extempores hinreißen läßt, welche den Zweck der ganzen Aufführung ge¬ fährden. Er kopirt den brutalen Ton des hohlen Demagogentums mit einer Treue, welche den Hörer empört. Seine pathetischen Beteuerungen, er werde sich durch nichts abhalten lassen, über alles zu reden (mit Vorliebe natürlich über das, was er nicht versteht), ist allerdings eine blutige Verhöhnung der Berufs- rednerei, und der Einfall, sich in praktische Militärfragen mit Redensarten zu mischen, wie sie seit 1848 nicht vernommen worden sind, darf geistreich genannt werden. Aber er sollte nicht vergessen, daß viele, ja die meisten seine Sarkasmen ganz falsch auffassen. Es ist so natürlich, daß auch der liberale Bürger, der nicht mit im Geheimnis ist, fragt: Sehen wir denn auf unglückliche Feldzüge zurück? Haben sich die Heereseinrichtungcn nicht bewährt? Sind unsre Offi¬ ziere von Adel vor dem Feinde davongelaufen oder haben sie unsre Festungen verräterisch übergeben? Besteht heutzutage noch eine Kluft zwischen Adel und Bürgertum wie vor achtzig Jahren? Zudem hatte er garnicht nötig, die Feinde des stehenden Heeres so unbarmherzig zu karikiren, das besorgen ja die Herren von der „Volkspartei" mit ihrer Miliz zur Genüge. Und vollends die vom Zaun gebrochene Episode mit dem Grafen Moltke! Auch die Satire soll nicht zu arg übertreiben. Wenn der greise Feldherr sich herausgenommen hätte, Herrn Richter belehren zu wollen, wie man für den Geschmack der Politisch-Unmün¬ digen zu reden und zu schreiben habe, so würde die Antwort; „Das verstehen Sie nicht, da bin ich Fachmann," sachlich berechtigt gewesen sein und sich dennoch wegen ihrer Dreistigkeit allgemeinen Tadel zugezogen haben. So aber hat er in dem Grafen Moltke das ganze Heer, die ganze Nation > alle Angehörigen derselben, auf welchem Fleck der Erde sie auch wohnen mögen, aufs tiefste be¬ leidigt; und das stand wohl kaum in seiner Rolle.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/452>, abgerufen am 23.07.2024.