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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Lin Tendenzschauspiel?

Doch woraus soll man die Leidenschaftlichkeit der liberalen Opposition in
Deutschland erklären? Die Ultramontanen lieben das protestantische Kaisertum
nicht und noch weniger eine Staatsregierung, welche sich nicht übertölpeln lassen
will -- das ist begreiflich. Und trotzdem, und obgleich die Fraktion uuter einem
Befehl steht, dem sie blindlings gehorchen muß, bekundet sie doch, wo der kon-
fessionelle Standpunkt nicht ins Spiel kommt, einen viel klareren Blick für die
Bedürfnisse des Volkes und die Bedingungen des Gedeihens eines Staatswesens
als die Fortschrittspartei. Das Entsprechende läßt sich von einem Teil der
Sozialdemokraten sagen: natürlich nicht von jenen Herren "Arbeitern," die im
Schweiße ihres Angesichts ihr Agitatorbrvt essen und im Schutze der Immu¬
nität ihre renommistischen Brandreden halten, damit leider oft erreichend, daß
die vernünftigeren Elemente sich mit ihrer wahren Meinung nicht hervorwagen,
weil sie sonst von den Entschiedener in Acht und Bann gethan werden würden.
Die Fortschrittspartei hingegen will, wie sie ja laut erklärt, keine Republik, keine
Herrschaft des vierten Standes, keine Kommune, keine römische Botmäßigkeit.
Sie hat eine andre Vorstellung als wir von dem Anteil der Volksvertretung
an der Leitung der öffentlichen Dinge. Aber ist das ein Grund, systematisch
jedem Reformgedanken entgegenzutreten, wenn er von der Regierung ausge¬
gangen ist, jedes Bemühen um Hebung von Mißständen zu verdächtigen, deren
Vorhandensein sie doch nicht leugnen kann und für die sie selbst keinen Rat
weiß? Gnädig giebt sie zu, daß der Kanzler als Minister des Auswärtigen
seine Sache wirklich sehr gut mache, beinahe so gut, als wenn Professor Virchow
in der Wilhelmstraße residiren würde; daneben aber strengt sie sich aufs hef¬
tigste an, ihm seine Aktionen zu erschweren und den guten Freunden im Aus¬
lande die Überzeugung beizubringen, Bismarck habe das deutsche Volk nicht
hinter sich- Der Mann besitzt freilich eine recht lästige Angewohnheit: er be¬
hält am Ende immer Recht; können ihm hieraus diejenigen einen Vorwurf
machen, die selbst immer Recht behalten -- wollen?

Der schlichte Menschenverstand hat uns zur Lösung dieses Rätsels ver-
holfen und damit eine Last von unsrer Brust genommen. Ein Gewerbsmann
führte bittere Klage über die Oberflächlichkeit, mit welcher die Angelegenheiten,
welche ihn zunächst berühren, in den Parlamenten behandelt werden, und setzte
hinzu: "Es ist, als ob die Herren sich verschworen hätten, uns das ganze parla¬
mentarische Wesen zu verleiden."

Das Wort traf wie eine plötzliche Erleuchtung. Ja, so muß es sein, es
kann nicht anders sein! Daß "Methode" in dem Treiben sei, hatten wir längst
erkannt, aber der Hamlet spielte seine Rolle so gut, daß wir uns völlig der
Illusion Hingaben. Fortschritt und Genossen haben die Beobachtung gemacht,
daß das liberale Philistertum sich in einen Aberglauben verrannt hat und jeder
Belehrung unzugänglich bleibt. Es hat sich von einem Wundertrank erzählen
lassen, der alle Schmerzen heilt, einem ausländischen Gebräu natürlich, mit der


Lin Tendenzschauspiel?

Doch woraus soll man die Leidenschaftlichkeit der liberalen Opposition in
Deutschland erklären? Die Ultramontanen lieben das protestantische Kaisertum
nicht und noch weniger eine Staatsregierung, welche sich nicht übertölpeln lassen
will — das ist begreiflich. Und trotzdem, und obgleich die Fraktion uuter einem
Befehl steht, dem sie blindlings gehorchen muß, bekundet sie doch, wo der kon-
fessionelle Standpunkt nicht ins Spiel kommt, einen viel klareren Blick für die
Bedürfnisse des Volkes und die Bedingungen des Gedeihens eines Staatswesens
als die Fortschrittspartei. Das Entsprechende läßt sich von einem Teil der
Sozialdemokraten sagen: natürlich nicht von jenen Herren „Arbeitern," die im
Schweiße ihres Angesichts ihr Agitatorbrvt essen und im Schutze der Immu¬
nität ihre renommistischen Brandreden halten, damit leider oft erreichend, daß
die vernünftigeren Elemente sich mit ihrer wahren Meinung nicht hervorwagen,
weil sie sonst von den Entschiedener in Acht und Bann gethan werden würden.
Die Fortschrittspartei hingegen will, wie sie ja laut erklärt, keine Republik, keine
Herrschaft des vierten Standes, keine Kommune, keine römische Botmäßigkeit.
Sie hat eine andre Vorstellung als wir von dem Anteil der Volksvertretung
an der Leitung der öffentlichen Dinge. Aber ist das ein Grund, systematisch
jedem Reformgedanken entgegenzutreten, wenn er von der Regierung ausge¬
gangen ist, jedes Bemühen um Hebung von Mißständen zu verdächtigen, deren
Vorhandensein sie doch nicht leugnen kann und für die sie selbst keinen Rat
weiß? Gnädig giebt sie zu, daß der Kanzler als Minister des Auswärtigen
seine Sache wirklich sehr gut mache, beinahe so gut, als wenn Professor Virchow
in der Wilhelmstraße residiren würde; daneben aber strengt sie sich aufs hef¬
tigste an, ihm seine Aktionen zu erschweren und den guten Freunden im Aus¬
lande die Überzeugung beizubringen, Bismarck habe das deutsche Volk nicht
hinter sich- Der Mann besitzt freilich eine recht lästige Angewohnheit: er be¬
hält am Ende immer Recht; können ihm hieraus diejenigen einen Vorwurf
machen, die selbst immer Recht behalten — wollen?

Der schlichte Menschenverstand hat uns zur Lösung dieses Rätsels ver-
holfen und damit eine Last von unsrer Brust genommen. Ein Gewerbsmann
führte bittere Klage über die Oberflächlichkeit, mit welcher die Angelegenheiten,
welche ihn zunächst berühren, in den Parlamenten behandelt werden, und setzte
hinzu: „Es ist, als ob die Herren sich verschworen hätten, uns das ganze parla¬
mentarische Wesen zu verleiden."

Das Wort traf wie eine plötzliche Erleuchtung. Ja, so muß es sein, es
kann nicht anders sein! Daß „Methode" in dem Treiben sei, hatten wir längst
erkannt, aber der Hamlet spielte seine Rolle so gut, daß wir uns völlig der
Illusion Hingaben. Fortschritt und Genossen haben die Beobachtung gemacht,
daß das liberale Philistertum sich in einen Aberglauben verrannt hat und jeder
Belehrung unzugänglich bleibt. Es hat sich von einem Wundertrank erzählen
lassen, der alle Schmerzen heilt, einem ausländischen Gebräu natürlich, mit der


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[0450] Lin Tendenzschauspiel? Doch woraus soll man die Leidenschaftlichkeit der liberalen Opposition in Deutschland erklären? Die Ultramontanen lieben das protestantische Kaisertum nicht und noch weniger eine Staatsregierung, welche sich nicht übertölpeln lassen will — das ist begreiflich. Und trotzdem, und obgleich die Fraktion uuter einem Befehl steht, dem sie blindlings gehorchen muß, bekundet sie doch, wo der kon- fessionelle Standpunkt nicht ins Spiel kommt, einen viel klareren Blick für die Bedürfnisse des Volkes und die Bedingungen des Gedeihens eines Staatswesens als die Fortschrittspartei. Das Entsprechende läßt sich von einem Teil der Sozialdemokraten sagen: natürlich nicht von jenen Herren „Arbeitern," die im Schweiße ihres Angesichts ihr Agitatorbrvt essen und im Schutze der Immu¬ nität ihre renommistischen Brandreden halten, damit leider oft erreichend, daß die vernünftigeren Elemente sich mit ihrer wahren Meinung nicht hervorwagen, weil sie sonst von den Entschiedener in Acht und Bann gethan werden würden. Die Fortschrittspartei hingegen will, wie sie ja laut erklärt, keine Republik, keine Herrschaft des vierten Standes, keine Kommune, keine römische Botmäßigkeit. Sie hat eine andre Vorstellung als wir von dem Anteil der Volksvertretung an der Leitung der öffentlichen Dinge. Aber ist das ein Grund, systematisch jedem Reformgedanken entgegenzutreten, wenn er von der Regierung ausge¬ gangen ist, jedes Bemühen um Hebung von Mißständen zu verdächtigen, deren Vorhandensein sie doch nicht leugnen kann und für die sie selbst keinen Rat weiß? Gnädig giebt sie zu, daß der Kanzler als Minister des Auswärtigen seine Sache wirklich sehr gut mache, beinahe so gut, als wenn Professor Virchow in der Wilhelmstraße residiren würde; daneben aber strengt sie sich aufs hef¬ tigste an, ihm seine Aktionen zu erschweren und den guten Freunden im Aus¬ lande die Überzeugung beizubringen, Bismarck habe das deutsche Volk nicht hinter sich- Der Mann besitzt freilich eine recht lästige Angewohnheit: er be¬ hält am Ende immer Recht; können ihm hieraus diejenigen einen Vorwurf machen, die selbst immer Recht behalten — wollen? Der schlichte Menschenverstand hat uns zur Lösung dieses Rätsels ver- holfen und damit eine Last von unsrer Brust genommen. Ein Gewerbsmann führte bittere Klage über die Oberflächlichkeit, mit welcher die Angelegenheiten, welche ihn zunächst berühren, in den Parlamenten behandelt werden, und setzte hinzu: „Es ist, als ob die Herren sich verschworen hätten, uns das ganze parla¬ mentarische Wesen zu verleiden." Das Wort traf wie eine plötzliche Erleuchtung. Ja, so muß es sein, es kann nicht anders sein! Daß „Methode" in dem Treiben sei, hatten wir längst erkannt, aber der Hamlet spielte seine Rolle so gut, daß wir uns völlig der Illusion Hingaben. Fortschritt und Genossen haben die Beobachtung gemacht, daß das liberale Philistertum sich in einen Aberglauben verrannt hat und jeder Belehrung unzugänglich bleibt. Es hat sich von einem Wundertrank erzählen lassen, der alle Schmerzen heilt, einem ausländischen Gebräu natürlich, mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/450>, abgerufen am 23.07.2024.