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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Frankreich nach Gcimbettas Tode,

warum sollte nicht ein Geschlecht heranwachsen, das die Bitterkeit des "schreck¬
liche" Jahres," wie Victor Hugo es nennt, vergessen und die Kriegsaxt in aller
Stille begraben hat?

Wenn die lirass meint, dnrch Gnmbcttas Ableben sei das europäische
Gleichgewicht gestört, und das so versteht, als habe bisher in der einen Wag-
schale Bismarck und in der andern Gambetta gestanden, so ist das thörichte
Überschätzung des letzter", die uns indeß nicht sehr auffällt, da das "Weltblatt"
in deu letzten Jahren das Privilegium erworben zu haben scheint, seinen Lesern
Faseleien vorzusetzen. Auch die Meinung einer Berliner Zeitung, Frankreich sei
durch das Ereignis des 31. Dezember bündnisfähiger geworden, können wir
nicht teilen. Weder Italien noch Rußland werden sich von dem jetzigen Frankreich
mehr angezogen fühlen, sich von ihm mehr versprechen als von dem, in welchem
Gambetta noch seine Rolle spielte. Das liegt ans der Hand, und was England
betrifft, so hat die Idee eines französischen Bündnisses mit ihm unzweifelhaft
in Gambetta einen Förderer verloren. Derselbe war ein sehr entschiedener
Freund Englands -- vielleicht, weil er niemals dort gewesen war und es nur aus
Büchern und Zeitungen kannte, vielleicht auch, weil er wesentlich ein Mann seines
Zeitalters war. Der letzte diplomatische Streit zwischen England und Frankreich
fand statt, ehe Gambetta noch aus der Kinderstube in die Elementarschule über¬
siedelte, und als er zum Manne heranwuchs, war Frankreich voll Begeisterung
über seinen Verbündeten im Krimkriege und erwarb sich durch seine Befreiung
Italiens in England Sympathien und mittelbaren Beistand. So bewog diesen
Politiker nichts in seiner Ausbildung und Erfahrung, den Antagonismus gegen
das "Perfide Albion" noch zu empfinden, der sich zuweilen in den Gesprächen
und in der Politik von Thiers kundgab. Im Gegenteil, Gambetta war von
dem sehnlicher Wunsche erfüllt, eine englisch-französische Allianz ins Leben treten
zu sehen. Er hatte ungefähr das Gefühl, welches Ludwig Napoleon 1853
veranlaßte, eine Annäherung an den Nachbar im Norden zu suchen; es war
ihm der einzige Weg, auf welchem Frankreich Verlornes Terrain wiedergewinnen
konnte. Wie wir ans den Mitteilungen ersehen, die Moritz Szeps über
Äußerungen seines Freundes Gambetta im "Wiener Tageblatt" veröffentlicht
hat, war ihm jene Annäherung ein dringendes Bedürfnis. In den letzten Tagen
des Oktober v. I. sprach er sich hierüber in folgender Weise aus. Jetzt, wo
die Engländer ohne Verwendung bedeutender Streitkräfte und ohne viel Risiko
sich zu Herren von Kairo gemacht haben, begreift man endlich, bis zu welchem
Maße meine Politik die rechte war. Das Land verstand mich nicht, nein, nicht
einmal meine eigne Partei. Glauben Sie etwa, ich Hütte dabei mir Ägypten
im Auge gehabt oder auf Ägypten Wert gelegt? Ich kümmere mich nicht um
Ägypten, mache mir garnichts daraus. Aber diese ägyptische Frage hätte ein
englisch-französisches Bündnis zu Wege bringen können, sie hätte das Samen¬
korn dazu werden können, die Keimkraft, welche die Allianz emporgetrieben und


Frankreich nach Gcimbettas Tode,

warum sollte nicht ein Geschlecht heranwachsen, das die Bitterkeit des „schreck¬
liche» Jahres," wie Victor Hugo es nennt, vergessen und die Kriegsaxt in aller
Stille begraben hat?

Wenn die lirass meint, dnrch Gnmbcttas Ableben sei das europäische
Gleichgewicht gestört, und das so versteht, als habe bisher in der einen Wag-
schale Bismarck und in der andern Gambetta gestanden, so ist das thörichte
Überschätzung des letzter», die uns indeß nicht sehr auffällt, da das „Weltblatt"
in deu letzten Jahren das Privilegium erworben zu haben scheint, seinen Lesern
Faseleien vorzusetzen. Auch die Meinung einer Berliner Zeitung, Frankreich sei
durch das Ereignis des 31. Dezember bündnisfähiger geworden, können wir
nicht teilen. Weder Italien noch Rußland werden sich von dem jetzigen Frankreich
mehr angezogen fühlen, sich von ihm mehr versprechen als von dem, in welchem
Gambetta noch seine Rolle spielte. Das liegt ans der Hand, und was England
betrifft, so hat die Idee eines französischen Bündnisses mit ihm unzweifelhaft
in Gambetta einen Förderer verloren. Derselbe war ein sehr entschiedener
Freund Englands — vielleicht, weil er niemals dort gewesen war und es nur aus
Büchern und Zeitungen kannte, vielleicht auch, weil er wesentlich ein Mann seines
Zeitalters war. Der letzte diplomatische Streit zwischen England und Frankreich
fand statt, ehe Gambetta noch aus der Kinderstube in die Elementarschule über¬
siedelte, und als er zum Manne heranwuchs, war Frankreich voll Begeisterung
über seinen Verbündeten im Krimkriege und erwarb sich durch seine Befreiung
Italiens in England Sympathien und mittelbaren Beistand. So bewog diesen
Politiker nichts in seiner Ausbildung und Erfahrung, den Antagonismus gegen
das „Perfide Albion" noch zu empfinden, der sich zuweilen in den Gesprächen
und in der Politik von Thiers kundgab. Im Gegenteil, Gambetta war von
dem sehnlicher Wunsche erfüllt, eine englisch-französische Allianz ins Leben treten
zu sehen. Er hatte ungefähr das Gefühl, welches Ludwig Napoleon 1853
veranlaßte, eine Annäherung an den Nachbar im Norden zu suchen; es war
ihm der einzige Weg, auf welchem Frankreich Verlornes Terrain wiedergewinnen
konnte. Wie wir ans den Mitteilungen ersehen, die Moritz Szeps über
Äußerungen seines Freundes Gambetta im „Wiener Tageblatt" veröffentlicht
hat, war ihm jene Annäherung ein dringendes Bedürfnis. In den letzten Tagen
des Oktober v. I. sprach er sich hierüber in folgender Weise aus. Jetzt, wo
die Engländer ohne Verwendung bedeutender Streitkräfte und ohne viel Risiko
sich zu Herren von Kairo gemacht haben, begreift man endlich, bis zu welchem
Maße meine Politik die rechte war. Das Land verstand mich nicht, nein, nicht
einmal meine eigne Partei. Glauben Sie etwa, ich Hütte dabei mir Ägypten
im Auge gehabt oder auf Ägypten Wert gelegt? Ich kümmere mich nicht um
Ägypten, mache mir garnichts daraus. Aber diese ägyptische Frage hätte ein
englisch-französisches Bündnis zu Wege bringen können, sie hätte das Samen¬
korn dazu werden können, die Keimkraft, welche die Allianz emporgetrieben und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/183>, abgerufen am 25.08.2024.