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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Frankreich nach Gcimbettas Todo.

jeder Weise geschwächt werden. Immer auf Verschwörungen bedacht, mit denen
man die Gewalt an sich reißen könnte, immer ans Neuerungen ausgehend, würde
man die bleibenden Interessen des Landes vernachlässigen. Im Hinblicke hierauf
hat Frankreich in der That bis zu einem gewissen Maße zu bedauern, daß
Gambetta mit seiner vergleichsweise gemäßigten Denkart nicht mehr unter den
Lebenden ist. Durch seinen Tod hat die Anarchie, ans welche die Radikalen in
der Kammer unbewußt hinarbeiten, offenbar an Aussicht gewonnen.

Wir sagten: bis zu einem gewißer Maße. "Die Republik wird konservativ
sein, oder sie wird nicht sein," hat Thiers prophezeit, und er wird damit sicherlich
Recht behalten. Gambetta wollte ganz entschieden die Republik, ja man kann
sagen, er vor allem habe sie den Bestrebungen der monarchischen Parteien
gegenüber am Leben erhalten, aber sein unruhiges Wesen, sein Ehrgeiz, sein
Liebäugeln mit den Radikalen und seine auswärtigen Pläne traten immer von
neuem der Gestaltung einer konservativen Republik hindernd in den Weg. Er
war für alle Schattirungen der republikanischen Partei ein unzuverlässiger Bundes¬
genosse, denn er gedachte ja alle nach einander zur Vorbereitung dessen zu
benutzen, was sein letztes Ziel war. Wie er gegen die konservativen Republikaner
agitirte und keins ihrer Ministerien lange bestehen ließ, so war er die Ursache,
daß die beiden Flügel der Radikalen, der ideale, der durch Clemencean, und
der chnische, der durch Nochefort bezeichnet wird, sich nicht trennten und jener
nicht zur Fühlung und Verständigung mit den Konservativen gelangte. Nach
seinem Verschwinden von der Bühne der Politik ist ein Versuch der Art möglich
geworden, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß er unternommen werden wird.
Schon mahnt der MtionÄ: "Wir fühlen, daß die republikanische Partei vor
einer der größten Prüfungen in ihrer Geschichte steht. Wenn sie sich nicht sofort
um Männer schaart, welche noch die Idee einer festen, maßvollen und weisen
Regierung repräsentiren, ... so wird sie jetzt gefährdet und in Zukunft verur¬
teilt sein." Auch der ?aix, das Organ Grevys, schreibt: "Das Unglück, das
uns trifft, kann die Kammer nnr versöhnlicher stimmen und zu neuen gegen¬
seitigen Zugeständnissen bewegen. Viele Abgeordnete waren dazu weit weniger
geneigt, solange sie die Hand und dem Einfluß Gmnbettas hinter sich wußten.
Jetzt aber hätte der Parteigrvll leine Existenzberechtigung mehr." Gelänge jener
Versuch, so würde man in Bezug auf die innere Entwicklung Frankreichs von
keinem Verluste mehr reden dürfen, der Gcunbettas Hingang begleitete.

Von dem Standpunkte aus gesehen, den noch immer ein großer Teil der
Franzosen Deutschland gigenüber einnimmt, ist der Tod Gambettas gewiß ein
schwerer Schlag für Frankreich. Die Revanchegedanken sind mit dem Toten
von Ville d'Avray nicht begraben, aber ihres Hauptträgers beraubt. Soweit
wir sehen können, giebt es in Frankreich gegenwärtig keinen Staatsmann foder
General, welcher das Volk mit der Wärme erfüllen könnte, die es empfunden
haben würde, wenn Gambetta an der Spitze der reorganisirten Armee das


Frankreich nach Gcimbettas Todo.

jeder Weise geschwächt werden. Immer auf Verschwörungen bedacht, mit denen
man die Gewalt an sich reißen könnte, immer ans Neuerungen ausgehend, würde
man die bleibenden Interessen des Landes vernachlässigen. Im Hinblicke hierauf
hat Frankreich in der That bis zu einem gewissen Maße zu bedauern, daß
Gambetta mit seiner vergleichsweise gemäßigten Denkart nicht mehr unter den
Lebenden ist. Durch seinen Tod hat die Anarchie, ans welche die Radikalen in
der Kammer unbewußt hinarbeiten, offenbar an Aussicht gewonnen.

Wir sagten: bis zu einem gewißer Maße. „Die Republik wird konservativ
sein, oder sie wird nicht sein," hat Thiers prophezeit, und er wird damit sicherlich
Recht behalten. Gambetta wollte ganz entschieden die Republik, ja man kann
sagen, er vor allem habe sie den Bestrebungen der monarchischen Parteien
gegenüber am Leben erhalten, aber sein unruhiges Wesen, sein Ehrgeiz, sein
Liebäugeln mit den Radikalen und seine auswärtigen Pläne traten immer von
neuem der Gestaltung einer konservativen Republik hindernd in den Weg. Er
war für alle Schattirungen der republikanischen Partei ein unzuverlässiger Bundes¬
genosse, denn er gedachte ja alle nach einander zur Vorbereitung dessen zu
benutzen, was sein letztes Ziel war. Wie er gegen die konservativen Republikaner
agitirte und keins ihrer Ministerien lange bestehen ließ, so war er die Ursache,
daß die beiden Flügel der Radikalen, der ideale, der durch Clemencean, und
der chnische, der durch Nochefort bezeichnet wird, sich nicht trennten und jener
nicht zur Fühlung und Verständigung mit den Konservativen gelangte. Nach
seinem Verschwinden von der Bühne der Politik ist ein Versuch der Art möglich
geworden, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß er unternommen werden wird.
Schon mahnt der MtionÄ: „Wir fühlen, daß die republikanische Partei vor
einer der größten Prüfungen in ihrer Geschichte steht. Wenn sie sich nicht sofort
um Männer schaart, welche noch die Idee einer festen, maßvollen und weisen
Regierung repräsentiren, ... so wird sie jetzt gefährdet und in Zukunft verur¬
teilt sein." Auch der ?aix, das Organ Grevys, schreibt: „Das Unglück, das
uns trifft, kann die Kammer nnr versöhnlicher stimmen und zu neuen gegen¬
seitigen Zugeständnissen bewegen. Viele Abgeordnete waren dazu weit weniger
geneigt, solange sie die Hand und dem Einfluß Gmnbettas hinter sich wußten.
Jetzt aber hätte der Parteigrvll leine Existenzberechtigung mehr." Gelänge jener
Versuch, so würde man in Bezug auf die innere Entwicklung Frankreichs von
keinem Verluste mehr reden dürfen, der Gcunbettas Hingang begleitete.

Von dem Standpunkte aus gesehen, den noch immer ein großer Teil der
Franzosen Deutschland gigenüber einnimmt, ist der Tod Gambettas gewiß ein
schwerer Schlag für Frankreich. Die Revanchegedanken sind mit dem Toten
von Ville d'Avray nicht begraben, aber ihres Hauptträgers beraubt. Soweit
wir sehen können, giebt es in Frankreich gegenwärtig keinen Staatsmann foder
General, welcher das Volk mit der Wärme erfüllen könnte, die es empfunden
haben würde, wenn Gambetta an der Spitze der reorganisirten Armee das


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[0181] Frankreich nach Gcimbettas Todo. jeder Weise geschwächt werden. Immer auf Verschwörungen bedacht, mit denen man die Gewalt an sich reißen könnte, immer ans Neuerungen ausgehend, würde man die bleibenden Interessen des Landes vernachlässigen. Im Hinblicke hierauf hat Frankreich in der That bis zu einem gewissen Maße zu bedauern, daß Gambetta mit seiner vergleichsweise gemäßigten Denkart nicht mehr unter den Lebenden ist. Durch seinen Tod hat die Anarchie, ans welche die Radikalen in der Kammer unbewußt hinarbeiten, offenbar an Aussicht gewonnen. Wir sagten: bis zu einem gewißer Maße. „Die Republik wird konservativ sein, oder sie wird nicht sein," hat Thiers prophezeit, und er wird damit sicherlich Recht behalten. Gambetta wollte ganz entschieden die Republik, ja man kann sagen, er vor allem habe sie den Bestrebungen der monarchischen Parteien gegenüber am Leben erhalten, aber sein unruhiges Wesen, sein Ehrgeiz, sein Liebäugeln mit den Radikalen und seine auswärtigen Pläne traten immer von neuem der Gestaltung einer konservativen Republik hindernd in den Weg. Er war für alle Schattirungen der republikanischen Partei ein unzuverlässiger Bundes¬ genosse, denn er gedachte ja alle nach einander zur Vorbereitung dessen zu benutzen, was sein letztes Ziel war. Wie er gegen die konservativen Republikaner agitirte und keins ihrer Ministerien lange bestehen ließ, so war er die Ursache, daß die beiden Flügel der Radikalen, der ideale, der durch Clemencean, und der chnische, der durch Nochefort bezeichnet wird, sich nicht trennten und jener nicht zur Fühlung und Verständigung mit den Konservativen gelangte. Nach seinem Verschwinden von der Bühne der Politik ist ein Versuch der Art möglich geworden, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß er unternommen werden wird. Schon mahnt der MtionÄ: „Wir fühlen, daß die republikanische Partei vor einer der größten Prüfungen in ihrer Geschichte steht. Wenn sie sich nicht sofort um Männer schaart, welche noch die Idee einer festen, maßvollen und weisen Regierung repräsentiren, ... so wird sie jetzt gefährdet und in Zukunft verur¬ teilt sein." Auch der ?aix, das Organ Grevys, schreibt: „Das Unglück, das uns trifft, kann die Kammer nnr versöhnlicher stimmen und zu neuen gegen¬ seitigen Zugeständnissen bewegen. Viele Abgeordnete waren dazu weit weniger geneigt, solange sie die Hand und dem Einfluß Gmnbettas hinter sich wußten. Jetzt aber hätte der Parteigrvll leine Existenzberechtigung mehr." Gelänge jener Versuch, so würde man in Bezug auf die innere Entwicklung Frankreichs von keinem Verluste mehr reden dürfen, der Gcunbettas Hingang begleitete. Von dem Standpunkte aus gesehen, den noch immer ein großer Teil der Franzosen Deutschland gigenüber einnimmt, ist der Tod Gambettas gewiß ein schwerer Schlag für Frankreich. Die Revanchegedanken sind mit dem Toten von Ville d'Avray nicht begraben, aber ihres Hauptträgers beraubt. Soweit wir sehen können, giebt es in Frankreich gegenwärtig keinen Staatsmann foder General, welcher das Volk mit der Wärme erfüllen könnte, die es empfunden haben würde, wenn Gambetta an der Spitze der reorganisirten Armee das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/181>, abgerufen am 23.07.2024.