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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Frankreich nach Gambtttas Tode.

Lawine auf den alten Feind. Der Ruf: Lsrlin! erschallt wiederum durch
die Straßen von Paris, und der größte Zweikampf der Geschichte wird wieder
aufgenommen, diesmal selbstverständlich mit wohlbegründeter Aussicht auf glän¬
zenden Erfolg für die französischen Fahnen.

Nicht bloß Gambetta und seine Anhänger, auch Hunderttausende andrer
Franzosen träumten diese Zukunft. Die Geschichte Frankreichs ist die Geschichte
großer Männer, welche daheim die Ordnung wiederherstellen und aufrecht er¬
halten und dann der "großen Nation" jenseits der Grenzen Lorbeeren gewinnen.
Zuerst wird "die Gesellschaft gerettet," dann stürzt man sie in die Gefahren
und Schrecken auswärtiger Kriege. In Gambetta hat Frankreich den Mann
verloren, der vielleicht allein imstande war, diese doppelte politische Überlieferung
abermals zu verwirklichen. Unter der Oberfläche der Gesellschaft von Paris, Lyon,
Marseille und andrer französischer Großstädte kocht ein Hexenkessel voll schreck¬
licher politischer Leidenschaften, und erlangen diese anarchischen Elemente einmal,
wenn anch nur auf kurze Zeit, die Oberhand, so kann es zu einem Ausbruche
kommen, schlimmer als der Kommunardenanfstand von 1871. Wäre Gambetta
nicht gestorben, so würde Frankreich sich bei einem solchen Ereignisse mit Ver¬
trauen seiner Führung überlassen habe"; denn er allein konnte den bessern Teil
der Arbeiter vom Pöbel trennen und das Landvolk gegen das aufständische
Paris aufrufen, und ihm allein traute man die erforderliche Energie zu.

Ferner darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Clemencecm, nach Gcim-
bettas Verschwinden der bedeutendste Parteiführer in der Kammer der Abge¬
ordneten, zwei Ideen vertritt, welche für die Zukunft Frankreichs gefährlich
erscheinen. Er steht an der Spitze der Radikalen, welche die Kirche und andrer¬
seits das stehende Heer mit Eifersucht betrachte", das Band zwischen jeuer und
dem Staate zerschnitte" sehe" möchte" u"d die Dienstzeit in der Armee möglichst
abgekürzt haben wollen. Das sind die Hauptpunkte im Programm der äußersten
Linken. Der eine aber würde eine große Spaltung zwischen dem weltlichen und
dem durchaus noch nicht ohnmächtigen geistliche" Frankreich zur Folge haben,
der andre die nationale Wehrkraft in eine schlecht geübte und noch schlechter
disziplinirte Miliz verwandeln, die, immer aus den Reihe" des Volkes hervor¬
gehend und rasch wieder in dieselben zurücktretend, mehr Bürger als Soldat
und durch und durch mit demokratischen Ideen erfüllt wäre, welche das Gegenteil
von Unterordnung, Gehorsam und Mannszucht sind. Ein von der Partei Cle-
meuceaus umgebildetes und regiertes Frankreich würde ungefähr dem Ideale der
leitenden Politiker von 1793 gleichen, ein Schreckensregiment würde vielleicht
nicht entstehen, man würde das Eigentum der Reichen nicht konfisziren, es aber
durch ruinirende Einkommensteuern allmählich aufsaugen, man würde seine Gegner
nicht köpfen, sie aber durch Entziehung des Wahlrechtes politisch tot machen.
Sicher ist, daß die Nation schweren Schaden davon haben würde. Sie würde
in eine fortdauernde Unruhe versetzt, in hundert Faktionen zerspalten und in


Frankreich nach Gambtttas Tode.

Lawine auf den alten Feind. Der Ruf: Lsrlin! erschallt wiederum durch
die Straßen von Paris, und der größte Zweikampf der Geschichte wird wieder
aufgenommen, diesmal selbstverständlich mit wohlbegründeter Aussicht auf glän¬
zenden Erfolg für die französischen Fahnen.

Nicht bloß Gambetta und seine Anhänger, auch Hunderttausende andrer
Franzosen träumten diese Zukunft. Die Geschichte Frankreichs ist die Geschichte
großer Männer, welche daheim die Ordnung wiederherstellen und aufrecht er¬
halten und dann der „großen Nation" jenseits der Grenzen Lorbeeren gewinnen.
Zuerst wird „die Gesellschaft gerettet," dann stürzt man sie in die Gefahren
und Schrecken auswärtiger Kriege. In Gambetta hat Frankreich den Mann
verloren, der vielleicht allein imstande war, diese doppelte politische Überlieferung
abermals zu verwirklichen. Unter der Oberfläche der Gesellschaft von Paris, Lyon,
Marseille und andrer französischer Großstädte kocht ein Hexenkessel voll schreck¬
licher politischer Leidenschaften, und erlangen diese anarchischen Elemente einmal,
wenn anch nur auf kurze Zeit, die Oberhand, so kann es zu einem Ausbruche
kommen, schlimmer als der Kommunardenanfstand von 1871. Wäre Gambetta
nicht gestorben, so würde Frankreich sich bei einem solchen Ereignisse mit Ver¬
trauen seiner Führung überlassen habe»; denn er allein konnte den bessern Teil
der Arbeiter vom Pöbel trennen und das Landvolk gegen das aufständische
Paris aufrufen, und ihm allein traute man die erforderliche Energie zu.

Ferner darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Clemencecm, nach Gcim-
bettas Verschwinden der bedeutendste Parteiführer in der Kammer der Abge¬
ordneten, zwei Ideen vertritt, welche für die Zukunft Frankreichs gefährlich
erscheinen. Er steht an der Spitze der Radikalen, welche die Kirche und andrer¬
seits das stehende Heer mit Eifersucht betrachte», das Band zwischen jeuer und
dem Staate zerschnitte» sehe» möchte» u»d die Dienstzeit in der Armee möglichst
abgekürzt haben wollen. Das sind die Hauptpunkte im Programm der äußersten
Linken. Der eine aber würde eine große Spaltung zwischen dem weltlichen und
dem durchaus noch nicht ohnmächtigen geistliche» Frankreich zur Folge haben,
der andre die nationale Wehrkraft in eine schlecht geübte und noch schlechter
disziplinirte Miliz verwandeln, die, immer aus den Reihe» des Volkes hervor¬
gehend und rasch wieder in dieselben zurücktretend, mehr Bürger als Soldat
und durch und durch mit demokratischen Ideen erfüllt wäre, welche das Gegenteil
von Unterordnung, Gehorsam und Mannszucht sind. Ein von der Partei Cle-
meuceaus umgebildetes und regiertes Frankreich würde ungefähr dem Ideale der
leitenden Politiker von 1793 gleichen, ein Schreckensregiment würde vielleicht
nicht entstehen, man würde das Eigentum der Reichen nicht konfisziren, es aber
durch ruinirende Einkommensteuern allmählich aufsaugen, man würde seine Gegner
nicht köpfen, sie aber durch Entziehung des Wahlrechtes politisch tot machen.
Sicher ist, daß die Nation schweren Schaden davon haben würde. Sie würde
in eine fortdauernde Unruhe versetzt, in hundert Faktionen zerspalten und in


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[0180] Frankreich nach Gambtttas Tode. Lawine auf den alten Feind. Der Ruf: Lsrlin! erschallt wiederum durch die Straßen von Paris, und der größte Zweikampf der Geschichte wird wieder aufgenommen, diesmal selbstverständlich mit wohlbegründeter Aussicht auf glän¬ zenden Erfolg für die französischen Fahnen. Nicht bloß Gambetta und seine Anhänger, auch Hunderttausende andrer Franzosen träumten diese Zukunft. Die Geschichte Frankreichs ist die Geschichte großer Männer, welche daheim die Ordnung wiederherstellen und aufrecht er¬ halten und dann der „großen Nation" jenseits der Grenzen Lorbeeren gewinnen. Zuerst wird „die Gesellschaft gerettet," dann stürzt man sie in die Gefahren und Schrecken auswärtiger Kriege. In Gambetta hat Frankreich den Mann verloren, der vielleicht allein imstande war, diese doppelte politische Überlieferung abermals zu verwirklichen. Unter der Oberfläche der Gesellschaft von Paris, Lyon, Marseille und andrer französischer Großstädte kocht ein Hexenkessel voll schreck¬ licher politischer Leidenschaften, und erlangen diese anarchischen Elemente einmal, wenn anch nur auf kurze Zeit, die Oberhand, so kann es zu einem Ausbruche kommen, schlimmer als der Kommunardenanfstand von 1871. Wäre Gambetta nicht gestorben, so würde Frankreich sich bei einem solchen Ereignisse mit Ver¬ trauen seiner Führung überlassen habe»; denn er allein konnte den bessern Teil der Arbeiter vom Pöbel trennen und das Landvolk gegen das aufständische Paris aufrufen, und ihm allein traute man die erforderliche Energie zu. Ferner darf nicht außer Acht gelassen werden, daß Clemencecm, nach Gcim- bettas Verschwinden der bedeutendste Parteiführer in der Kammer der Abge¬ ordneten, zwei Ideen vertritt, welche für die Zukunft Frankreichs gefährlich erscheinen. Er steht an der Spitze der Radikalen, welche die Kirche und andrer¬ seits das stehende Heer mit Eifersucht betrachte», das Band zwischen jeuer und dem Staate zerschnitte» sehe» möchte» u»d die Dienstzeit in der Armee möglichst abgekürzt haben wollen. Das sind die Hauptpunkte im Programm der äußersten Linken. Der eine aber würde eine große Spaltung zwischen dem weltlichen und dem durchaus noch nicht ohnmächtigen geistliche» Frankreich zur Folge haben, der andre die nationale Wehrkraft in eine schlecht geübte und noch schlechter disziplinirte Miliz verwandeln, die, immer aus den Reihe» des Volkes hervor¬ gehend und rasch wieder in dieselben zurücktretend, mehr Bürger als Soldat und durch und durch mit demokratischen Ideen erfüllt wäre, welche das Gegenteil von Unterordnung, Gehorsam und Mannszucht sind. Ein von der Partei Cle- meuceaus umgebildetes und regiertes Frankreich würde ungefähr dem Ideale der leitenden Politiker von 1793 gleichen, ein Schreckensregiment würde vielleicht nicht entstehen, man würde das Eigentum der Reichen nicht konfisziren, es aber durch ruinirende Einkommensteuern allmählich aufsaugen, man würde seine Gegner nicht köpfen, sie aber durch Entziehung des Wahlrechtes politisch tot machen. Sicher ist, daß die Nation schweren Schaden davon haben würde. Sie würde in eine fortdauernde Unruhe versetzt, in hundert Faktionen zerspalten und in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/180>, abgerufen am 23.07.2024.