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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Frankreich nach Gambeltas Tode.

wortet. Versetzen wir uns einige Wochen zurück, so blickten tausende von Augen
auf dieses Leben mit Hoffnung, andre tausende mit Unruhe, alle aber mit ge¬
spanntem Interesse. Wie wird, so fragte man, Gambetta in dieser oder jener
Krisis verfahren? Wie bald wird er wieder Minister, wird er einmal Präsi¬
dent der Republik werden? Wie wird er sich zur Kirche, wie zur ägyptischen
Frage, wie zu England stellen? Wird er jemals und, wenn überhaupt, wann
wird er dann seinen Landsleuten sagen, daß die Stunde des Rachekrieges gegen
Deutschland geschlagen habe? Da blitzt im Landhause von Ville d'Ävray ein
Schuß, ein kurzes Krankenlager nimmt den Gegenstand dieser Fragen und
Sorgen auf, und jetzt sind sie nicht mehr als Schatten, als das Gemurmel
eines Träumender.

Daß der Tod Gcimbettas für Frankreich und ganz Europa ein wichtiges
Ereignis ist, leidet also keinen Zweifel, und es fragt sich nur, ob er als ein
Glück oder als ein Unglück für die Zukunft Frankreichs zu betrachten ist. Wie
dachte er selbst, wie dachten seine Freunde sich diese Zukunft? Was war das
Ideal, welches ihm vorschwebte? Wir gehen schwerlich irre, wenn wir es
folgendermaßen zeichnen: Gambetta gelangt wieder zu größerm Ansehen und
Einfluß und wird nach einigen Kämpfen mit verschiednen Gegnern entweder als
Premierminister oder als Präsident mit mehr Befugnissen als der jetzige that¬
sächlich Herr von Frankreich. Mit seiner mächtigen Willenskraft löst er die
Reste der roycilistischen, imperialistischen und anarchistischen Parteien rasch in
nichts aus. Der Glaube des Landvolkes an seinen Stern trägt und hebt ihn,
und zu gleicher Zeit weiß er die Demokratie in den Städten nach seinem Willen
zu lenken. Auf seinen Anstoß zu neuem Leben erwacht, im liberalsten Sinne
geordnet und befriedigt, macht Frankreich in Sachen des Handels und Gewerb-
fleißes riesige Fortschritte. Seine Unternehmungen gewinnen einen größern
Stil, seine Flagge erscheint in allen Meeren, seine Kolonien mehren sich, nach
allen Seiten hin dehnt die Nation sich weiter aus. Das materielle Gedeihen,
dessen sie sich unter dem zweiten Kaiserreiche erfreute, kehrt ohne dessen Kor¬
ruption wieder, und der Einfluß Ludwig Napoleons, mit welchem derselbe von
1860 bis 1865 Staaten schuf und auflöste, lebt gleichermaßen wieder auf und
umgiebt die Republik und deren Haupt mit nie gesehener Glorie. Mittlerweile
hat der ehemalige Diktator die Tage von Tours und was er während der¬
selben gelernt, nicht vergessen. Das Heer ist gründlich reorganisirt, es hat eine
starke Reserve hinter sich, mit der es anderthalbe Million wohlgerüstete und
geübte Streiter zählt, die Festungen sind vermehrt und verstärkt, durch strenge
Disziplin und unablässige Überwachung ist die Verwaltung zu einer muster-
giltigen geworden. Dann ist die Stunde der Abrechnung mit den Siegern von
1870 gekommen, ein Anlaß zum Streite mit ihnen ist bald gefunden, und das
wiedergeborne, starke, reiche und kühne Frankreich stürzt sich auf das Gebot des
Diktators von 1870, dem kein andrer Wille mehr Einhalt thun kann, wie eine


Frankreich nach Gambeltas Tode.

wortet. Versetzen wir uns einige Wochen zurück, so blickten tausende von Augen
auf dieses Leben mit Hoffnung, andre tausende mit Unruhe, alle aber mit ge¬
spanntem Interesse. Wie wird, so fragte man, Gambetta in dieser oder jener
Krisis verfahren? Wie bald wird er wieder Minister, wird er einmal Präsi¬
dent der Republik werden? Wie wird er sich zur Kirche, wie zur ägyptischen
Frage, wie zu England stellen? Wird er jemals und, wenn überhaupt, wann
wird er dann seinen Landsleuten sagen, daß die Stunde des Rachekrieges gegen
Deutschland geschlagen habe? Da blitzt im Landhause von Ville d'Ävray ein
Schuß, ein kurzes Krankenlager nimmt den Gegenstand dieser Fragen und
Sorgen auf, und jetzt sind sie nicht mehr als Schatten, als das Gemurmel
eines Träumender.

Daß der Tod Gcimbettas für Frankreich und ganz Europa ein wichtiges
Ereignis ist, leidet also keinen Zweifel, und es fragt sich nur, ob er als ein
Glück oder als ein Unglück für die Zukunft Frankreichs zu betrachten ist. Wie
dachte er selbst, wie dachten seine Freunde sich diese Zukunft? Was war das
Ideal, welches ihm vorschwebte? Wir gehen schwerlich irre, wenn wir es
folgendermaßen zeichnen: Gambetta gelangt wieder zu größerm Ansehen und
Einfluß und wird nach einigen Kämpfen mit verschiednen Gegnern entweder als
Premierminister oder als Präsident mit mehr Befugnissen als der jetzige that¬
sächlich Herr von Frankreich. Mit seiner mächtigen Willenskraft löst er die
Reste der roycilistischen, imperialistischen und anarchistischen Parteien rasch in
nichts aus. Der Glaube des Landvolkes an seinen Stern trägt und hebt ihn,
und zu gleicher Zeit weiß er die Demokratie in den Städten nach seinem Willen
zu lenken. Auf seinen Anstoß zu neuem Leben erwacht, im liberalsten Sinne
geordnet und befriedigt, macht Frankreich in Sachen des Handels und Gewerb-
fleißes riesige Fortschritte. Seine Unternehmungen gewinnen einen größern
Stil, seine Flagge erscheint in allen Meeren, seine Kolonien mehren sich, nach
allen Seiten hin dehnt die Nation sich weiter aus. Das materielle Gedeihen,
dessen sie sich unter dem zweiten Kaiserreiche erfreute, kehrt ohne dessen Kor¬
ruption wieder, und der Einfluß Ludwig Napoleons, mit welchem derselbe von
1860 bis 1865 Staaten schuf und auflöste, lebt gleichermaßen wieder auf und
umgiebt die Republik und deren Haupt mit nie gesehener Glorie. Mittlerweile
hat der ehemalige Diktator die Tage von Tours und was er während der¬
selben gelernt, nicht vergessen. Das Heer ist gründlich reorganisirt, es hat eine
starke Reserve hinter sich, mit der es anderthalbe Million wohlgerüstete und
geübte Streiter zählt, die Festungen sind vermehrt und verstärkt, durch strenge
Disziplin und unablässige Überwachung ist die Verwaltung zu einer muster-
giltigen geworden. Dann ist die Stunde der Abrechnung mit den Siegern von
1870 gekommen, ein Anlaß zum Streite mit ihnen ist bald gefunden, und das
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Diktators von 1870, dem kein andrer Wille mehr Einhalt thun kann, wie eine


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[0179] Frankreich nach Gambeltas Tode. wortet. Versetzen wir uns einige Wochen zurück, so blickten tausende von Augen auf dieses Leben mit Hoffnung, andre tausende mit Unruhe, alle aber mit ge¬ spanntem Interesse. Wie wird, so fragte man, Gambetta in dieser oder jener Krisis verfahren? Wie bald wird er wieder Minister, wird er einmal Präsi¬ dent der Republik werden? Wie wird er sich zur Kirche, wie zur ägyptischen Frage, wie zu England stellen? Wird er jemals und, wenn überhaupt, wann wird er dann seinen Landsleuten sagen, daß die Stunde des Rachekrieges gegen Deutschland geschlagen habe? Da blitzt im Landhause von Ville d'Ävray ein Schuß, ein kurzes Krankenlager nimmt den Gegenstand dieser Fragen und Sorgen auf, und jetzt sind sie nicht mehr als Schatten, als das Gemurmel eines Träumender. Daß der Tod Gcimbettas für Frankreich und ganz Europa ein wichtiges Ereignis ist, leidet also keinen Zweifel, und es fragt sich nur, ob er als ein Glück oder als ein Unglück für die Zukunft Frankreichs zu betrachten ist. Wie dachte er selbst, wie dachten seine Freunde sich diese Zukunft? Was war das Ideal, welches ihm vorschwebte? Wir gehen schwerlich irre, wenn wir es folgendermaßen zeichnen: Gambetta gelangt wieder zu größerm Ansehen und Einfluß und wird nach einigen Kämpfen mit verschiednen Gegnern entweder als Premierminister oder als Präsident mit mehr Befugnissen als der jetzige that¬ sächlich Herr von Frankreich. Mit seiner mächtigen Willenskraft löst er die Reste der roycilistischen, imperialistischen und anarchistischen Parteien rasch in nichts aus. Der Glaube des Landvolkes an seinen Stern trägt und hebt ihn, und zu gleicher Zeit weiß er die Demokratie in den Städten nach seinem Willen zu lenken. Auf seinen Anstoß zu neuem Leben erwacht, im liberalsten Sinne geordnet und befriedigt, macht Frankreich in Sachen des Handels und Gewerb- fleißes riesige Fortschritte. Seine Unternehmungen gewinnen einen größern Stil, seine Flagge erscheint in allen Meeren, seine Kolonien mehren sich, nach allen Seiten hin dehnt die Nation sich weiter aus. Das materielle Gedeihen, dessen sie sich unter dem zweiten Kaiserreiche erfreute, kehrt ohne dessen Kor¬ ruption wieder, und der Einfluß Ludwig Napoleons, mit welchem derselbe von 1860 bis 1865 Staaten schuf und auflöste, lebt gleichermaßen wieder auf und umgiebt die Republik und deren Haupt mit nie gesehener Glorie. Mittlerweile hat der ehemalige Diktator die Tage von Tours und was er während der¬ selben gelernt, nicht vergessen. Das Heer ist gründlich reorganisirt, es hat eine starke Reserve hinter sich, mit der es anderthalbe Million wohlgerüstete und geübte Streiter zählt, die Festungen sind vermehrt und verstärkt, durch strenge Disziplin und unablässige Überwachung ist die Verwaltung zu einer muster- giltigen geworden. Dann ist die Stunde der Abrechnung mit den Siegern von 1870 gekommen, ein Anlaß zum Streite mit ihnen ist bald gefunden, und das wiedergeborne, starke, reiche und kühne Frankreich stürzt sich auf das Gebot des Diktators von 1870, dem kein andrer Wille mehr Einhalt thun kann, wie eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/179>, abgerufen am 23.07.2024.