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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Vas vergangne Jahr.

Konservativen gewannen eine erhebliche Anzahl von Mandaten, die Fortschritts¬
partei und das Zentrum behaupteten ihre bisherige Stärke, die bei ersterer eben
nicht groß war, die Nativnälliberalen büßten mehr als ein Dutzend Sitze ein,
blieben aber immer noch eine achtunggebietende Fraktion. Eine Verschiebung nach
links faud innerhalb der drei Gruppen der Liberalen nicht statt. Es schien,
als ob den Wählern, abgesehen von Berlin und einigen andern Großstädten,
seit den letzten Reichstagswahlen die Augen aufzugehen begonnen hätten. Trotz
der Verschiedenheit des Wahlsystems in Preußen und im ganzen Reiche hatte
bis dahin der Charakter des Landtags dem des Reichstags im ganzen ent¬
sprochen, und war das diesmal nicht der Fall, war jener erheblich konservativer
ausgefallen als dieser, so war der Schluß berechtigt, daß die Erfahrungen, die
jeder Wähler mit offnen Augen in der Zwischenzeit hatte machen können, diesen
Umschwung herbeigeführt hatten. Die Thronrede, mit welcher der Landtag
eröffnet wurde, nahm den Standpunkt der kaiserlichen Botschaft ein, die am
17. November 1881 an den Reichstag ergangen war. Sie hatte zum Haupt¬
inhalte die Mahnung, die Steuerreform zu fördern und den sozialistischen Um¬
trieben dnrch Sorge für das Wohl der Arbeiter von Staatswegen die Spitze
abzubrechen. In ersterer Beziehung wurde die Entlastung der preußischen Ge¬
meinden und die Aufhebung der Klassensteuer für die ärmern Volksklassen als
unerläßlich und dringend bezeichnet. Dazu bedürfte der Staat aber Geld aus
andern Quellen, und so ging dein Landtage ein Borlage des Finanzministers
zu, nach welcher die vier untersten Stufen der Klassensteuer beseitigt werden
sollten, und in welcher zur Deckung des hierdurch hervorgerufenen Ausfalls an Ein¬
nahmen Besteuerung des Vertriebs der geistigen Getränke und Erhöhung der
Tabakssteuer empfohlen wurden. Findet dieser Entwurf eine rein sachliche und
technische Prüfung, so ist seine Annahme zu erwarten; dem Anscheine nach wird
jene Voraussetzung nicht zutreffen.

Das letzte Ereignis des Jahres auf deutschem Boden war die am 29. November
erfolgte Wiedereröffnung des Reichstags. Derselbe sollte sich zunächst nur ans
wenige Plenarsitzungen beschränken und sich der Beratung der Etats für das
nächste und zugleich das übernächste Finanzjahr widmen. Dann sollten ihn die
Unfallversicherung und die Steuerreform von neuem beschäftigen. Die Beratung
des Etats 1884--85 wurde als mit der Verfassung unvereinbar^) abgelehnt,
die Sache wird indes ohne Zweifel wiederkehren und vielleicht von andern Ab¬
geordneten in andrer Auffassung behandelt werden. In Betreff der Steuer¬
reform aber darf man wohl schon jetzt auf eine Verständigung der Parteien
hoffen, die von der Rechten bis etwa in die Mitte der Linken reichen und dahin
gehen würde, daß zugleich mit den von der Regierung empfohlenen Steuergesetzen
eine durchgreifende Reform der direkten Steuern in Angriff genommen werden
müsse, wobei dafür zu sorgen sei, daß die Skala verändert und das Einkommen
aus Kapital stärker herangezogen werde.


Vas vergangne Jahr.

Konservativen gewannen eine erhebliche Anzahl von Mandaten, die Fortschritts¬
partei und das Zentrum behaupteten ihre bisherige Stärke, die bei ersterer eben
nicht groß war, die Nativnälliberalen büßten mehr als ein Dutzend Sitze ein,
blieben aber immer noch eine achtunggebietende Fraktion. Eine Verschiebung nach
links faud innerhalb der drei Gruppen der Liberalen nicht statt. Es schien,
als ob den Wählern, abgesehen von Berlin und einigen andern Großstädten,
seit den letzten Reichstagswahlen die Augen aufzugehen begonnen hätten. Trotz
der Verschiedenheit des Wahlsystems in Preußen und im ganzen Reiche hatte
bis dahin der Charakter des Landtags dem des Reichstags im ganzen ent¬
sprochen, und war das diesmal nicht der Fall, war jener erheblich konservativer
ausgefallen als dieser, so war der Schluß berechtigt, daß die Erfahrungen, die
jeder Wähler mit offnen Augen in der Zwischenzeit hatte machen können, diesen
Umschwung herbeigeführt hatten. Die Thronrede, mit welcher der Landtag
eröffnet wurde, nahm den Standpunkt der kaiserlichen Botschaft ein, die am
17. November 1881 an den Reichstag ergangen war. Sie hatte zum Haupt¬
inhalte die Mahnung, die Steuerreform zu fördern und den sozialistischen Um¬
trieben dnrch Sorge für das Wohl der Arbeiter von Staatswegen die Spitze
abzubrechen. In ersterer Beziehung wurde die Entlastung der preußischen Ge¬
meinden und die Aufhebung der Klassensteuer für die ärmern Volksklassen als
unerläßlich und dringend bezeichnet. Dazu bedürfte der Staat aber Geld aus
andern Quellen, und so ging dein Landtage ein Borlage des Finanzministers
zu, nach welcher die vier untersten Stufen der Klassensteuer beseitigt werden
sollten, und in welcher zur Deckung des hierdurch hervorgerufenen Ausfalls an Ein¬
nahmen Besteuerung des Vertriebs der geistigen Getränke und Erhöhung der
Tabakssteuer empfohlen wurden. Findet dieser Entwurf eine rein sachliche und
technische Prüfung, so ist seine Annahme zu erwarten; dem Anscheine nach wird
jene Voraussetzung nicht zutreffen.

Das letzte Ereignis des Jahres auf deutschem Boden war die am 29. November
erfolgte Wiedereröffnung des Reichstags. Derselbe sollte sich zunächst nur ans
wenige Plenarsitzungen beschränken und sich der Beratung der Etats für das
nächste und zugleich das übernächste Finanzjahr widmen. Dann sollten ihn die
Unfallversicherung und die Steuerreform von neuem beschäftigen. Die Beratung
des Etats 1884—85 wurde als mit der Verfassung unvereinbar^) abgelehnt,
die Sache wird indes ohne Zweifel wiederkehren und vielleicht von andern Ab¬
geordneten in andrer Auffassung behandelt werden. In Betreff der Steuer¬
reform aber darf man wohl schon jetzt auf eine Verständigung der Parteien
hoffen, die von der Rechten bis etwa in die Mitte der Linken reichen und dahin
gehen würde, daß zugleich mit den von der Regierung empfohlenen Steuergesetzen
eine durchgreifende Reform der direkten Steuern in Angriff genommen werden
müsse, wobei dafür zu sorgen sei, daß die Skala verändert und das Einkommen
aus Kapital stärker herangezogen werde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/15>, abgerufen am 29.06.2024.