Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das vergangne Jahr,

dürfuisse und immer nur für den Umfang des jeweiligen Erfordernisses Geld
zu bewilligen, und man gedachte diese Freiheit bestens zum Druck auf die Re¬
gierung, zu dem gewohnten Feilschen und Markten zu verwerten. Während
von diesen Gesichtspunkten aus das Tabaksmonopol im Reichstage verworfen
wurde, zeigte die Behandlung der übrigen Vorlagen, daß die Stimmung der
Parteien seit den Wahlen wesentlich ruhiger geworden war. Mehrere dieser
Vorlage" wurden zu Gesetzen, und mit der Aufnahme, welche die Gesetzentwürfe
über die Krankenkassen der Arbeiter und die Unfallversicherung bei der Mehr¬
heit der Abgeordneten fanden, konnte die Negierung ziemlich zufrieden sein. Nach
der ersten Lesung an eine Kommission verwiesen, hatten sie, nachdem der Reichstag
Mitte Juni seine Sitzungen geschlossen, Aussicht, in der nächsten Session eine
wohlwollende und sachgemäßere Würdigung zu finden als das Tabaksmonopol.
Was die Unfallversicherung betraf, so war der neue Entwurf des Gesetzes,
den die Regierungen vorlegten, in mehreren Punkten für die Liberalen annehm¬
barer als der frühere. Der strengere Versicherungscharakter der Vorlage war
aufgegeben, an die Stelle der privatrechtlichen Grundlagen der Haftpflicht der
Unternehmer und der Selbstversicherung der Arbeiter war staatsrechtliche Grund¬
lage der Fürsorge für schuldlos leidende Berufsgenossen gesetzt, man ließ die
Berufsgenossenschaft als Trägerin der Arbeiterversicherungslast eintreten. So
gewann man die allgemein anerkannte Nechtsbasis der öffentlichen Armenpflege
und zugleich den Vorteil, daß die bedenkliche Ansammlung kolossaler Kapitalien
zur Deckung entbehrlich wurde, indem es genügte, nach Maßgabe des Bedürf¬
nisses im Umlageverfahren die zur Deckung des Erfordernisses nötig erscheinenden
Summen einzuziehen. Der neue Plan empfahl sich ferner dadurch, daß den in
ihm vorgesehenen Betriebsgcnossenschaftcn mittelst der Kosten ein Antrieb, durch
Vorsicht innerhalb ihrer Betriebszweige Unfälle zu vermeiden, gegeben wurde,
und daß ihnen das Gesetz zu diesem Zwecke einen Aufsichtsrat und genossen¬
schaftliche Autorität verlieh. Endlich war auch darin ein Vorteil zu erblicken,
daß nach dem neuen Entwürfe die Genossenschaften durch Weiterentwicklung die
Kraft gewinnen konnten, außer der Unfallversicherung auch andre soziale Auf¬
gaben zu lösen und einen fruchtbaren Gemeingeist auszubilden. Die Opposition
hat an dem Plane noch mancherlei auszusetzen und hinzuzuwüuschen, aber die
Negierung hat bei der ersten Lesung zugegeben, daß derselbe Abänderungen er¬
tragen könne. Wir werden nun demnächst sehen, was die Kommission zustande
gebracht hat. Jedenfalls wird die Nation auf die Entwicklung der Sache mit
lebhafter Teilnahme blicken; denn es handelt sich hier um die Legung des
Grundsteines zu einer großen, allen Einsichtigen längst am Herzen liegenden
Reform, die recht eigentlich ein Friedens- und Versöhuungswerk genannt
werden kaun.

Die Oktvbcrwahlen zum preußischen Landtage hatten nicht den Erfolg,
den die Fortschrittspresse gewünscht und zuversichtlich vorausgesagt hatte. Die


Das vergangne Jahr,

dürfuisse und immer nur für den Umfang des jeweiligen Erfordernisses Geld
zu bewilligen, und man gedachte diese Freiheit bestens zum Druck auf die Re¬
gierung, zu dem gewohnten Feilschen und Markten zu verwerten. Während
von diesen Gesichtspunkten aus das Tabaksmonopol im Reichstage verworfen
wurde, zeigte die Behandlung der übrigen Vorlagen, daß die Stimmung der
Parteien seit den Wahlen wesentlich ruhiger geworden war. Mehrere dieser
Vorlage» wurden zu Gesetzen, und mit der Aufnahme, welche die Gesetzentwürfe
über die Krankenkassen der Arbeiter und die Unfallversicherung bei der Mehr¬
heit der Abgeordneten fanden, konnte die Negierung ziemlich zufrieden sein. Nach
der ersten Lesung an eine Kommission verwiesen, hatten sie, nachdem der Reichstag
Mitte Juni seine Sitzungen geschlossen, Aussicht, in der nächsten Session eine
wohlwollende und sachgemäßere Würdigung zu finden als das Tabaksmonopol.
Was die Unfallversicherung betraf, so war der neue Entwurf des Gesetzes,
den die Regierungen vorlegten, in mehreren Punkten für die Liberalen annehm¬
barer als der frühere. Der strengere Versicherungscharakter der Vorlage war
aufgegeben, an die Stelle der privatrechtlichen Grundlagen der Haftpflicht der
Unternehmer und der Selbstversicherung der Arbeiter war staatsrechtliche Grund¬
lage der Fürsorge für schuldlos leidende Berufsgenossen gesetzt, man ließ die
Berufsgenossenschaft als Trägerin der Arbeiterversicherungslast eintreten. So
gewann man die allgemein anerkannte Nechtsbasis der öffentlichen Armenpflege
und zugleich den Vorteil, daß die bedenkliche Ansammlung kolossaler Kapitalien
zur Deckung entbehrlich wurde, indem es genügte, nach Maßgabe des Bedürf¬
nisses im Umlageverfahren die zur Deckung des Erfordernisses nötig erscheinenden
Summen einzuziehen. Der neue Plan empfahl sich ferner dadurch, daß den in
ihm vorgesehenen Betriebsgcnossenschaftcn mittelst der Kosten ein Antrieb, durch
Vorsicht innerhalb ihrer Betriebszweige Unfälle zu vermeiden, gegeben wurde,
und daß ihnen das Gesetz zu diesem Zwecke einen Aufsichtsrat und genossen¬
schaftliche Autorität verlieh. Endlich war auch darin ein Vorteil zu erblicken,
daß nach dem neuen Entwürfe die Genossenschaften durch Weiterentwicklung die
Kraft gewinnen konnten, außer der Unfallversicherung auch andre soziale Auf¬
gaben zu lösen und einen fruchtbaren Gemeingeist auszubilden. Die Opposition
hat an dem Plane noch mancherlei auszusetzen und hinzuzuwüuschen, aber die
Negierung hat bei der ersten Lesung zugegeben, daß derselbe Abänderungen er¬
tragen könne. Wir werden nun demnächst sehen, was die Kommission zustande
gebracht hat. Jedenfalls wird die Nation auf die Entwicklung der Sache mit
lebhafter Teilnahme blicken; denn es handelt sich hier um die Legung des
Grundsteines zu einer großen, allen Einsichtigen längst am Herzen liegenden
Reform, die recht eigentlich ein Friedens- und Versöhuungswerk genannt
werden kaun.

Die Oktvbcrwahlen zum preußischen Landtage hatten nicht den Erfolg,
den die Fortschrittspresse gewünscht und zuversichtlich vorausgesagt hatte. Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151338"/>
          <fw type="header" place="top"> Das vergangne Jahr,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_15" prev="#ID_14"> dürfuisse und immer nur für den Umfang des jeweiligen Erfordernisses Geld<lb/>
zu bewilligen, und man gedachte diese Freiheit bestens zum Druck auf die Re¬<lb/>
gierung, zu dem gewohnten Feilschen und Markten zu verwerten. Während<lb/>
von diesen Gesichtspunkten aus das Tabaksmonopol im Reichstage verworfen<lb/>
wurde, zeigte die Behandlung der übrigen Vorlagen, daß die Stimmung der<lb/>
Parteien seit den Wahlen wesentlich ruhiger geworden war. Mehrere dieser<lb/>
Vorlage» wurden zu Gesetzen, und mit der Aufnahme, welche die Gesetzentwürfe<lb/>
über die Krankenkassen der Arbeiter und die Unfallversicherung bei der Mehr¬<lb/>
heit der Abgeordneten fanden, konnte die Negierung ziemlich zufrieden sein. Nach<lb/>
der ersten Lesung an eine Kommission verwiesen, hatten sie, nachdem der Reichstag<lb/>
Mitte Juni seine Sitzungen geschlossen, Aussicht, in der nächsten Session eine<lb/>
wohlwollende und sachgemäßere Würdigung zu finden als das Tabaksmonopol.<lb/>
Was die Unfallversicherung betraf, so war der neue Entwurf des Gesetzes,<lb/>
den die Regierungen vorlegten, in mehreren Punkten für die Liberalen annehm¬<lb/>
barer als der frühere. Der strengere Versicherungscharakter der Vorlage war<lb/>
aufgegeben, an die Stelle der privatrechtlichen Grundlagen der Haftpflicht der<lb/>
Unternehmer und der Selbstversicherung der Arbeiter war staatsrechtliche Grund¬<lb/>
lage der Fürsorge für schuldlos leidende Berufsgenossen gesetzt, man ließ die<lb/>
Berufsgenossenschaft als Trägerin der Arbeiterversicherungslast eintreten. So<lb/>
gewann man die allgemein anerkannte Nechtsbasis der öffentlichen Armenpflege<lb/>
und zugleich den Vorteil, daß die bedenkliche Ansammlung kolossaler Kapitalien<lb/>
zur Deckung entbehrlich wurde, indem es genügte, nach Maßgabe des Bedürf¬<lb/>
nisses im Umlageverfahren die zur Deckung des Erfordernisses nötig erscheinenden<lb/>
Summen einzuziehen. Der neue Plan empfahl sich ferner dadurch, daß den in<lb/>
ihm vorgesehenen Betriebsgcnossenschaftcn mittelst der Kosten ein Antrieb, durch<lb/>
Vorsicht innerhalb ihrer Betriebszweige Unfälle zu vermeiden, gegeben wurde,<lb/>
und daß ihnen das Gesetz zu diesem Zwecke einen Aufsichtsrat und genossen¬<lb/>
schaftliche Autorität verlieh. Endlich war auch darin ein Vorteil zu erblicken,<lb/>
daß nach dem neuen Entwürfe die Genossenschaften durch Weiterentwicklung die<lb/>
Kraft gewinnen konnten, außer der Unfallversicherung auch andre soziale Auf¬<lb/>
gaben zu lösen und einen fruchtbaren Gemeingeist auszubilden. Die Opposition<lb/>
hat an dem Plane noch mancherlei auszusetzen und hinzuzuwüuschen, aber die<lb/>
Negierung hat bei der ersten Lesung zugegeben, daß derselbe Abänderungen er¬<lb/>
tragen könne. Wir werden nun demnächst sehen, was die Kommission zustande<lb/>
gebracht hat. Jedenfalls wird die Nation auf die Entwicklung der Sache mit<lb/>
lebhafter Teilnahme blicken; denn es handelt sich hier um die Legung des<lb/>
Grundsteines zu einer großen, allen Einsichtigen längst am Herzen liegenden<lb/>
Reform, die recht eigentlich ein Friedens- und Versöhuungswerk genannt<lb/>
werden kaun.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_16" next="#ID_17"> Die Oktvbcrwahlen zum preußischen Landtage hatten nicht den Erfolg,<lb/>
den die Fortschrittspresse gewünscht und zuversichtlich vorausgesagt hatte. Die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] Das vergangne Jahr, dürfuisse und immer nur für den Umfang des jeweiligen Erfordernisses Geld zu bewilligen, und man gedachte diese Freiheit bestens zum Druck auf die Re¬ gierung, zu dem gewohnten Feilschen und Markten zu verwerten. Während von diesen Gesichtspunkten aus das Tabaksmonopol im Reichstage verworfen wurde, zeigte die Behandlung der übrigen Vorlagen, daß die Stimmung der Parteien seit den Wahlen wesentlich ruhiger geworden war. Mehrere dieser Vorlage» wurden zu Gesetzen, und mit der Aufnahme, welche die Gesetzentwürfe über die Krankenkassen der Arbeiter und die Unfallversicherung bei der Mehr¬ heit der Abgeordneten fanden, konnte die Negierung ziemlich zufrieden sein. Nach der ersten Lesung an eine Kommission verwiesen, hatten sie, nachdem der Reichstag Mitte Juni seine Sitzungen geschlossen, Aussicht, in der nächsten Session eine wohlwollende und sachgemäßere Würdigung zu finden als das Tabaksmonopol. Was die Unfallversicherung betraf, so war der neue Entwurf des Gesetzes, den die Regierungen vorlegten, in mehreren Punkten für die Liberalen annehm¬ barer als der frühere. Der strengere Versicherungscharakter der Vorlage war aufgegeben, an die Stelle der privatrechtlichen Grundlagen der Haftpflicht der Unternehmer und der Selbstversicherung der Arbeiter war staatsrechtliche Grund¬ lage der Fürsorge für schuldlos leidende Berufsgenossen gesetzt, man ließ die Berufsgenossenschaft als Trägerin der Arbeiterversicherungslast eintreten. So gewann man die allgemein anerkannte Nechtsbasis der öffentlichen Armenpflege und zugleich den Vorteil, daß die bedenkliche Ansammlung kolossaler Kapitalien zur Deckung entbehrlich wurde, indem es genügte, nach Maßgabe des Bedürf¬ nisses im Umlageverfahren die zur Deckung des Erfordernisses nötig erscheinenden Summen einzuziehen. Der neue Plan empfahl sich ferner dadurch, daß den in ihm vorgesehenen Betriebsgcnossenschaftcn mittelst der Kosten ein Antrieb, durch Vorsicht innerhalb ihrer Betriebszweige Unfälle zu vermeiden, gegeben wurde, und daß ihnen das Gesetz zu diesem Zwecke einen Aufsichtsrat und genossen¬ schaftliche Autorität verlieh. Endlich war auch darin ein Vorteil zu erblicken, daß nach dem neuen Entwürfe die Genossenschaften durch Weiterentwicklung die Kraft gewinnen konnten, außer der Unfallversicherung auch andre soziale Auf¬ gaben zu lösen und einen fruchtbaren Gemeingeist auszubilden. Die Opposition hat an dem Plane noch mancherlei auszusetzen und hinzuzuwüuschen, aber die Negierung hat bei der ersten Lesung zugegeben, daß derselbe Abänderungen er¬ tragen könne. Wir werden nun demnächst sehen, was die Kommission zustande gebracht hat. Jedenfalls wird die Nation auf die Entwicklung der Sache mit lebhafter Teilnahme blicken; denn es handelt sich hier um die Legung des Grundsteines zu einer großen, allen Einsichtigen längst am Herzen liegenden Reform, die recht eigentlich ein Friedens- und Versöhuungswerk genannt werden kaun. Die Oktvbcrwahlen zum preußischen Landtage hatten nicht den Erfolg, den die Fortschrittspresse gewünscht und zuversichtlich vorausgesagt hatte. Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/14
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/14>, abgerufen am 26.06.2024.