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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Das vergangne Jahr.

Hinsichtlich der übrigen Länder Europas können wir uns bei unsrer Rück¬
schau kurz fassen. Das Bündnis des deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn
blieb im Laufe des Jahres in ungeschwächter Kraft und Innigkeit erhalten und
erwies sich bei verschiednen Gelegenheiten als das, was mit ihm in erster Linie
beabsichtigt war, als Bürgschaft für den Frieden beider Kaiserstaaten und ganz
Europas, Es bestimmte neben der friedlichen Gesinnung des Zaren Alexander
auch die Haltung Rußlands zu den mitteleuropäischen Mächten, obwohl eine
starke und sehr regsame Partei im russischen Volke, die in den chauvinistischen
Reden des Generals Skobeleff ihre Wünsche und Ziele laut werden ließ, mit
allen Kräften und Mitteln daran gearbeitet hatte, das gute Verhältnis Ru߬
lands zu Deutschland und seinen Nachbar an der Donau zu stören und einen
Kampf zur Verwirklichung ihrer panslavistischen Ideale hervorzurufen, Jgnatieff,
der als eins der Häupter dieser Partei gilt, blieb nur kurze Zeit Minister, und
Giers bekundete noch vor kurzem durch seinen Besuch in Varzin, daß dem Peters¬
burger Kabinet daran gelegen ist, die guten Beziehungen zu uns, die mit der
Danziger Zusammenkunft der beiden Kaiser Wilhelm und Alexander hergestellt
wurden, zu erhalten und auszubilden. Die nihilistische Bewegung trat im Laufe
dieses Jahres mehr in den Hintergrund, doch ist sie keineswegs erloschen, und
es ist sehr zu bezweifeln, daß sie sobald erlöschen werde,

Italien hatte sich früher durch die Unsicherheit seiner Politik, die das bei
ihm eingeführte parlamentarische System zur Folge hatte, und durch seine kaum
verborgne Begehrlichkeit nach fremden: Landbesitz stark isolirt, und die Folge
war gewesen, daß es zusehen mußte, wie Frankreich durch Erwerbung des Pro¬
tektorats über Tunis die Interessen des Königreichs schwer beeinträchtigte. In
der neuesten Zeit hat es eine tingere Politik gezeigt und namentlich sich den
vereinigten mitteleuropäischen Mächten zu nähern versucht, auch haben die letzten
Parlamentswahlen die Stellung des liberalen Ministeriums wesentlich verstärkt.

In Großbritannien war auch im vergangnen Jahre die irische Frage das
Hauptübel, mit welchem die Regierung zu kämpfen hatte. Die traurigen Ver¬
hältnisse der Landbevölkerung, der Pächter gegenüber den Grundherren wurden
von der Landliga zu einer Agitation für die Trennung Irlands von England
benutzt, und daneben spielte das verwandte Feniertum eine blutige Rolle. Das
Ministerium ging dagegen einerseits mit scharfen Repressivnsmaßregeln, poli¬
zeilichem und militärischem Einschreiten und Einsetzung von Ausnahmegerichten,
andrerseits aber auch mit Reformen vor, welche vom Geiste der Billigkeit gegen
die Pächter wie gegen die Landbesitzer eingegeben waren. Die Landliga verlor
dadurch allmählich an Einfluß, die sezessionistischen Parteien aber, die im ge¬
heimen arbeiteten, setzten ihre Wühlereien fort und schreckten die Beamten, die
Richter, die Geschwornen und die Polizei von Zeit zu Zeit durch Mordanfalle,
denen selbst hochgestellte Personen zum Opfer fielen, und die sich gegen An¬
fang des Winters besonders häufig wiederholten. Eine andre Folge der irischen


Das vergangne Jahr.

Hinsichtlich der übrigen Länder Europas können wir uns bei unsrer Rück¬
schau kurz fassen. Das Bündnis des deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn
blieb im Laufe des Jahres in ungeschwächter Kraft und Innigkeit erhalten und
erwies sich bei verschiednen Gelegenheiten als das, was mit ihm in erster Linie
beabsichtigt war, als Bürgschaft für den Frieden beider Kaiserstaaten und ganz
Europas, Es bestimmte neben der friedlichen Gesinnung des Zaren Alexander
auch die Haltung Rußlands zu den mitteleuropäischen Mächten, obwohl eine
starke und sehr regsame Partei im russischen Volke, die in den chauvinistischen
Reden des Generals Skobeleff ihre Wünsche und Ziele laut werden ließ, mit
allen Kräften und Mitteln daran gearbeitet hatte, das gute Verhältnis Ru߬
lands zu Deutschland und seinen Nachbar an der Donau zu stören und einen
Kampf zur Verwirklichung ihrer panslavistischen Ideale hervorzurufen, Jgnatieff,
der als eins der Häupter dieser Partei gilt, blieb nur kurze Zeit Minister, und
Giers bekundete noch vor kurzem durch seinen Besuch in Varzin, daß dem Peters¬
burger Kabinet daran gelegen ist, die guten Beziehungen zu uns, die mit der
Danziger Zusammenkunft der beiden Kaiser Wilhelm und Alexander hergestellt
wurden, zu erhalten und auszubilden. Die nihilistische Bewegung trat im Laufe
dieses Jahres mehr in den Hintergrund, doch ist sie keineswegs erloschen, und
es ist sehr zu bezweifeln, daß sie sobald erlöschen werde,

Italien hatte sich früher durch die Unsicherheit seiner Politik, die das bei
ihm eingeführte parlamentarische System zur Folge hatte, und durch seine kaum
verborgne Begehrlichkeit nach fremden: Landbesitz stark isolirt, und die Folge
war gewesen, daß es zusehen mußte, wie Frankreich durch Erwerbung des Pro¬
tektorats über Tunis die Interessen des Königreichs schwer beeinträchtigte. In
der neuesten Zeit hat es eine tingere Politik gezeigt und namentlich sich den
vereinigten mitteleuropäischen Mächten zu nähern versucht, auch haben die letzten
Parlamentswahlen die Stellung des liberalen Ministeriums wesentlich verstärkt.

In Großbritannien war auch im vergangnen Jahre die irische Frage das
Hauptübel, mit welchem die Regierung zu kämpfen hatte. Die traurigen Ver¬
hältnisse der Landbevölkerung, der Pächter gegenüber den Grundherren wurden
von der Landliga zu einer Agitation für die Trennung Irlands von England
benutzt, und daneben spielte das verwandte Feniertum eine blutige Rolle. Das
Ministerium ging dagegen einerseits mit scharfen Repressivnsmaßregeln, poli¬
zeilichem und militärischem Einschreiten und Einsetzung von Ausnahmegerichten,
andrerseits aber auch mit Reformen vor, welche vom Geiste der Billigkeit gegen
die Pächter wie gegen die Landbesitzer eingegeben waren. Die Landliga verlor
dadurch allmählich an Einfluß, die sezessionistischen Parteien aber, die im ge¬
heimen arbeiteten, setzten ihre Wühlereien fort und schreckten die Beamten, die
Richter, die Geschwornen und die Polizei von Zeit zu Zeit durch Mordanfalle,
denen selbst hochgestellte Personen zum Opfer fielen, und die sich gegen An¬
fang des Winters besonders häufig wiederholten. Eine andre Folge der irischen


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[0016] Das vergangne Jahr. Hinsichtlich der übrigen Länder Europas können wir uns bei unsrer Rück¬ schau kurz fassen. Das Bündnis des deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn blieb im Laufe des Jahres in ungeschwächter Kraft und Innigkeit erhalten und erwies sich bei verschiednen Gelegenheiten als das, was mit ihm in erster Linie beabsichtigt war, als Bürgschaft für den Frieden beider Kaiserstaaten und ganz Europas, Es bestimmte neben der friedlichen Gesinnung des Zaren Alexander auch die Haltung Rußlands zu den mitteleuropäischen Mächten, obwohl eine starke und sehr regsame Partei im russischen Volke, die in den chauvinistischen Reden des Generals Skobeleff ihre Wünsche und Ziele laut werden ließ, mit allen Kräften und Mitteln daran gearbeitet hatte, das gute Verhältnis Ru߬ lands zu Deutschland und seinen Nachbar an der Donau zu stören und einen Kampf zur Verwirklichung ihrer panslavistischen Ideale hervorzurufen, Jgnatieff, der als eins der Häupter dieser Partei gilt, blieb nur kurze Zeit Minister, und Giers bekundete noch vor kurzem durch seinen Besuch in Varzin, daß dem Peters¬ burger Kabinet daran gelegen ist, die guten Beziehungen zu uns, die mit der Danziger Zusammenkunft der beiden Kaiser Wilhelm und Alexander hergestellt wurden, zu erhalten und auszubilden. Die nihilistische Bewegung trat im Laufe dieses Jahres mehr in den Hintergrund, doch ist sie keineswegs erloschen, und es ist sehr zu bezweifeln, daß sie sobald erlöschen werde, Italien hatte sich früher durch die Unsicherheit seiner Politik, die das bei ihm eingeführte parlamentarische System zur Folge hatte, und durch seine kaum verborgne Begehrlichkeit nach fremden: Landbesitz stark isolirt, und die Folge war gewesen, daß es zusehen mußte, wie Frankreich durch Erwerbung des Pro¬ tektorats über Tunis die Interessen des Königreichs schwer beeinträchtigte. In der neuesten Zeit hat es eine tingere Politik gezeigt und namentlich sich den vereinigten mitteleuropäischen Mächten zu nähern versucht, auch haben die letzten Parlamentswahlen die Stellung des liberalen Ministeriums wesentlich verstärkt. In Großbritannien war auch im vergangnen Jahre die irische Frage das Hauptübel, mit welchem die Regierung zu kämpfen hatte. Die traurigen Ver¬ hältnisse der Landbevölkerung, der Pächter gegenüber den Grundherren wurden von der Landliga zu einer Agitation für die Trennung Irlands von England benutzt, und daneben spielte das verwandte Feniertum eine blutige Rolle. Das Ministerium ging dagegen einerseits mit scharfen Repressivnsmaßregeln, poli¬ zeilichem und militärischem Einschreiten und Einsetzung von Ausnahmegerichten, andrerseits aber auch mit Reformen vor, welche vom Geiste der Billigkeit gegen die Pächter wie gegen die Landbesitzer eingegeben waren. Die Landliga verlor dadurch allmählich an Einfluß, die sezessionistischen Parteien aber, die im ge¬ heimen arbeiteten, setzten ihre Wühlereien fort und schreckten die Beamten, die Richter, die Geschwornen und die Polizei von Zeit zu Zeit durch Mordanfalle, denen selbst hochgestellte Personen zum Opfer fielen, und die sich gegen An¬ fang des Winters besonders häufig wiederholten. Eine andre Folge der irischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/16>, abgerufen am 23.07.2024.