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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Größte nicht immer das dramatisch und theatralisch Beste ist. Es handelt sich
hier nicht um persönliches Wohlgefallen oder dessen Mangel. Hätte ein Theater
wirklich Platz für den ganzen Shakespeare, so würde ich ihn mir mit Freuden an¬
sehen, denn auch aus der Darstellung selbst des geringsten seiner Werke werden uns
helle Lichter entgegenblitzen, aber mit dieser privaten Erquickung und Belehrung
hat die Entwicklung der deutschen Bühne nichts zu thun. Und dabei ist noch
gänzlich davon abgesehen, daß die Historien einen spezifisch englisch-nationalen
Charakter tragen, für den man unser Publikum doch unmöglich engagiren kann.
Ohnedies wissen die Nachbarvölker uns wenig Dank. Oder fällt es etwa den
Engländern ein, den "Wallenstein" aufzuführen, sei es anch nur alle zehn Jahre
einmal? Wer unserm Theater nützen will, der gebe uns vor allem unsre
deutschen Meisterdramen in steter Wiederkehr, in mustergiltiger Interpretation,
daneben selbstverständlich die ewigen großen Tragödien Shakespeares, die unserm
Repertoire seit länger als achtzig Jahren angehören und die ihren Wert nicht
erst zu beglaubigen brauchen, Dichtungen, wie die oben genannten, die die Dra¬
matik selbst geboren hat. Nimmt man fremdes auf, was nicht zu vermeiden
ist (die bessern französischen Lustspiele dürfen schon um ihrer meisterlichen Technik
willen nicht fehlen), so gebe man uns wenigstens nichts, was unsrer Empfindung
widerspricht, was undramatisch und untheatralisch ist.

Noch manches ließe sich über literarische Liebhabereien auf der Bühne sagen:
auch die mit dem größten Geschick, wahrer Pietät und poetischem Anempfinder
vollzogene Bearbeitung beider Teile des Goethischen "Fällst" durch Otto Devrient
gehört hierher. Doch genug davon.

Anders als im Schauspiel steht es in der Oper. Da giebt es keinen Rari¬
tätenkultus, der dem literarischen entspräche, da füllt kein harmloses Mittelgut,
leichte lustige Musik von der Art der Moserschen Schwänke, die Lücken des
Repertoires. Das Angestammte behauptet energisch seinen Platz, und nur schwer
bahnt sich das Neue die Gasse. Längst Überwundenes wird dem modernen
Publikum immer wieder vorgeführt, als habe es dasselbe Recht wie das un¬
sterbliche Alte und das gute Moderne. Nicht nur Mozart, Beethoven und Weber,
auch Donizetti und Bellini sollen uns nach dem Willen der Theaterdirektionen
unverloren sein, während ein lebender Komponist, und sei er auch der talent¬
vollste, ringen und kämpfen muß, ehe es ihm überhaupt vergönnt ist, seine Oper
zum erstenmale einem Theaterpublikum zu Gehör zu bringen. Hierin liegt in
der That ein schreiendes Unrecht. Es bedarf keines Wortes darüber, daß unsre
großen Meister in keiner Saison ans der Buhne fehlen dürfen, aber hat die
tragische Opernmusik der Italiener, die bei ihrem Erscheinen mit Recht die Auf¬
merksamkeit der gesnmmteu Musikwelt auf sich lenkte, mit einigen Ausucchmeu
wirklich einen Anspruch darauf, noch jetzt in Deutschland zu dauern? Und erfreut
man sich an den Schönheiten der "Norma" -- haben auch die widerwärtige
"Lucrezia Borgia," die süßliche, größtenteils triviale "Nachtwandlerin" begrün-


Größte nicht immer das dramatisch und theatralisch Beste ist. Es handelt sich
hier nicht um persönliches Wohlgefallen oder dessen Mangel. Hätte ein Theater
wirklich Platz für den ganzen Shakespeare, so würde ich ihn mir mit Freuden an¬
sehen, denn auch aus der Darstellung selbst des geringsten seiner Werke werden uns
helle Lichter entgegenblitzen, aber mit dieser privaten Erquickung und Belehrung
hat die Entwicklung der deutschen Bühne nichts zu thun. Und dabei ist noch
gänzlich davon abgesehen, daß die Historien einen spezifisch englisch-nationalen
Charakter tragen, für den man unser Publikum doch unmöglich engagiren kann.
Ohnedies wissen die Nachbarvölker uns wenig Dank. Oder fällt es etwa den
Engländern ein, den „Wallenstein" aufzuführen, sei es anch nur alle zehn Jahre
einmal? Wer unserm Theater nützen will, der gebe uns vor allem unsre
deutschen Meisterdramen in steter Wiederkehr, in mustergiltiger Interpretation,
daneben selbstverständlich die ewigen großen Tragödien Shakespeares, die unserm
Repertoire seit länger als achtzig Jahren angehören und die ihren Wert nicht
erst zu beglaubigen brauchen, Dichtungen, wie die oben genannten, die die Dra¬
matik selbst geboren hat. Nimmt man fremdes auf, was nicht zu vermeiden
ist (die bessern französischen Lustspiele dürfen schon um ihrer meisterlichen Technik
willen nicht fehlen), so gebe man uns wenigstens nichts, was unsrer Empfindung
widerspricht, was undramatisch und untheatralisch ist.

Noch manches ließe sich über literarische Liebhabereien auf der Bühne sagen:
auch die mit dem größten Geschick, wahrer Pietät und poetischem Anempfinder
vollzogene Bearbeitung beider Teile des Goethischen „Fällst" durch Otto Devrient
gehört hierher. Doch genug davon.

Anders als im Schauspiel steht es in der Oper. Da giebt es keinen Rari¬
tätenkultus, der dem literarischen entspräche, da füllt kein harmloses Mittelgut,
leichte lustige Musik von der Art der Moserschen Schwänke, die Lücken des
Repertoires. Das Angestammte behauptet energisch seinen Platz, und nur schwer
bahnt sich das Neue die Gasse. Längst Überwundenes wird dem modernen
Publikum immer wieder vorgeführt, als habe es dasselbe Recht wie das un¬
sterbliche Alte und das gute Moderne. Nicht nur Mozart, Beethoven und Weber,
auch Donizetti und Bellini sollen uns nach dem Willen der Theaterdirektionen
unverloren sein, während ein lebender Komponist, und sei er auch der talent¬
vollste, ringen und kämpfen muß, ehe es ihm überhaupt vergönnt ist, seine Oper
zum erstenmale einem Theaterpublikum zu Gehör zu bringen. Hierin liegt in
der That ein schreiendes Unrecht. Es bedarf keines Wortes darüber, daß unsre
großen Meister in keiner Saison ans der Buhne fehlen dürfen, aber hat die
tragische Opernmusik der Italiener, die bei ihrem Erscheinen mit Recht die Auf¬
merksamkeit der gesnmmteu Musikwelt auf sich lenkte, mit einigen Ausucchmeu
wirklich einen Anspruch darauf, noch jetzt in Deutschland zu dauern? Und erfreut
man sich an den Schönheiten der „Norma" — haben auch die widerwärtige
„Lucrezia Borgia," die süßliche, größtenteils triviale „Nachtwandlerin" begrün-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/93>, abgerufen am 01.07.2024.