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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die deutsche Bühne der Gegenwart.

während diese um so bedeutender erscheint, je mehr sie einer längern, sorgfältigen
Prüfung Stand hält, das Original oft sehr ungenirt umgestaltete und beispiels¬
weise in "Heinrich dem Sechsten" keinen Stein auf dem andern ließ. Die
Kritik aber übersah, daß ihre ganz begreifliche Befriedigung, diesen seltenen
Dramcnkomplex als Ganzes mit Augen vor sich zu sehen, sich mit der des
Publikums, das keine literarischen Sondcrinteressen hat und haben kaun, nicht
deckt. Hat ein Theater so viel Zeit, "eben unsern deutschen großen, klassischen
Dramen und denjenigen Shakespeares, die, wie "Hamlet," "Macbeth," "Romeo,"
"Othello," "Lear" über der Zeit und dem Raume stehen und keine nationalen
Schranken kennen, auch noch die Köuigsdramen zu Pflegen, so mag es das ja
thun; aber aus der Bevorzugung derselben ein künstlerisches Verdienst herleiten
zu wollen und die Aufführung wohl gar zu einer nationalen Pflicht zu macheu,
das geht zu weit. Als Werke Shakespeares gehören auch die Königsdramen
der Welt an, aber das Heil der deutschen Bühne hängt von ihnen nicht ab.
Gerade die herrlichsten Dichtungen unter ihnen sind dramatisch mangelhaft, und
die szenische Darstellung läßt uns zu dem goldenen Quell ihrer Poesie nur
ahnuugsweise vordringen. Der ganze Prinz Heinz, der spätere Heinrich der
Fünfte, ist eins der wunderbarsten Charakterbilder, wie es auch Percy, wie es
Falstaff ist; aber wer möchte, wenn er ganz ehrlich und kundig ist, die Historien
von Heinrich dem Vierten und Heinrich dem Fünften gute Dramen nennen?
Als Ganzes sind sie ganz so undramatisch wie beispielsweise der "Macbeth"
dramatisch ist. Sie sind ganz und gar episch gedacht und behandelt, und die
unverwüstlichen Gesellen von Eastcheap, dramatisch betrachtet, nur Episoden. Ja
wer möchte ein solches Werk der mißverständlichen Kritik eines Publikums
aussetzen, das von einem Bühnenwerke zunächst dramatische Konzentration und
ein energisches Fortschreiten der Handlung, ohne Sprünge und Seitenläufer,
erwartet? In der jüngst erschienenen "Chronik des Oldenburger Hoftheaters"
von R. von Dalwigk findet sich aus der Saison 1836--37 folgende Notiz:
"Oktober 2 wurde die Bühne mit "Heinrich IV.", erster Teil, eröffnet, einer
den Darstellern nach gewiß guten Vorstellung . . . und doch scheint das Stück
durchaus unbefriedigend vorübergegangen zu sein. Der Bericht sagt: "Wir
dürfen es nicht den Schauspielern zuschreiben, wenn dieses Stück so wenig die
Aufmerksamkeit der Zuschauer fesseln konnte; ein jeder Akt machte das Haus
leerer -- nur Bcrninger-Falstaff erhielt einigen Beifall". Vergleichen wir diese
Stimmung mit dem Jubel, welcher in spätern Jahren Berningcr-Falstaff nach
einer jeden Szene folgte und den glänzenden Erfolgen, welche Gustav Haeser-
Heiuz sich erwarb, so müssen wir annehmen, daß damals Shakespeare wirklich
"Caviar fürs Volk" war." Gewiß ist das Verständnis des großen Dichters ge¬
wachsen, und ein vorzeitiges Verschwinden des Publikums bei einer Aufführung
von "Heinrich dem Vierten" wäre jetzt kaum denkbar; aber in jener unbesungenen
Aufnahme liegt doch auch ein memento an den Theaterleiter, daß das poetisch


Die deutsche Bühne der Gegenwart.

während diese um so bedeutender erscheint, je mehr sie einer längern, sorgfältigen
Prüfung Stand hält, das Original oft sehr ungenirt umgestaltete und beispiels¬
weise in „Heinrich dem Sechsten" keinen Stein auf dem andern ließ. Die
Kritik aber übersah, daß ihre ganz begreifliche Befriedigung, diesen seltenen
Dramcnkomplex als Ganzes mit Augen vor sich zu sehen, sich mit der des
Publikums, das keine literarischen Sondcrinteressen hat und haben kaun, nicht
deckt. Hat ein Theater so viel Zeit, »eben unsern deutschen großen, klassischen
Dramen und denjenigen Shakespeares, die, wie „Hamlet," „Macbeth," „Romeo,"
„Othello," „Lear" über der Zeit und dem Raume stehen und keine nationalen
Schranken kennen, auch noch die Köuigsdramen zu Pflegen, so mag es das ja
thun; aber aus der Bevorzugung derselben ein künstlerisches Verdienst herleiten
zu wollen und die Aufführung wohl gar zu einer nationalen Pflicht zu macheu,
das geht zu weit. Als Werke Shakespeares gehören auch die Königsdramen
der Welt an, aber das Heil der deutschen Bühne hängt von ihnen nicht ab.
Gerade die herrlichsten Dichtungen unter ihnen sind dramatisch mangelhaft, und
die szenische Darstellung läßt uns zu dem goldenen Quell ihrer Poesie nur
ahnuugsweise vordringen. Der ganze Prinz Heinz, der spätere Heinrich der
Fünfte, ist eins der wunderbarsten Charakterbilder, wie es auch Percy, wie es
Falstaff ist; aber wer möchte, wenn er ganz ehrlich und kundig ist, die Historien
von Heinrich dem Vierten und Heinrich dem Fünften gute Dramen nennen?
Als Ganzes sind sie ganz so undramatisch wie beispielsweise der „Macbeth"
dramatisch ist. Sie sind ganz und gar episch gedacht und behandelt, und die
unverwüstlichen Gesellen von Eastcheap, dramatisch betrachtet, nur Episoden. Ja
wer möchte ein solches Werk der mißverständlichen Kritik eines Publikums
aussetzen, das von einem Bühnenwerke zunächst dramatische Konzentration und
ein energisches Fortschreiten der Handlung, ohne Sprünge und Seitenläufer,
erwartet? In der jüngst erschienenen „Chronik des Oldenburger Hoftheaters"
von R. von Dalwigk findet sich aus der Saison 1836—37 folgende Notiz:
„Oktober 2 wurde die Bühne mit «Heinrich IV.», erster Teil, eröffnet, einer
den Darstellern nach gewiß guten Vorstellung . . . und doch scheint das Stück
durchaus unbefriedigend vorübergegangen zu sein. Der Bericht sagt: «Wir
dürfen es nicht den Schauspielern zuschreiben, wenn dieses Stück so wenig die
Aufmerksamkeit der Zuschauer fesseln konnte; ein jeder Akt machte das Haus
leerer — nur Bcrninger-Falstaff erhielt einigen Beifall». Vergleichen wir diese
Stimmung mit dem Jubel, welcher in spätern Jahren Berningcr-Falstaff nach
einer jeden Szene folgte und den glänzenden Erfolgen, welche Gustav Haeser-
Heiuz sich erwarb, so müssen wir annehmen, daß damals Shakespeare wirklich
«Caviar fürs Volk» war." Gewiß ist das Verständnis des großen Dichters ge¬
wachsen, und ein vorzeitiges Verschwinden des Publikums bei einer Aufführung
von „Heinrich dem Vierten" wäre jetzt kaum denkbar; aber in jener unbesungenen
Aufnahme liegt doch auch ein memento an den Theaterleiter, daß das poetisch


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[0092] Die deutsche Bühne der Gegenwart. während diese um so bedeutender erscheint, je mehr sie einer längern, sorgfältigen Prüfung Stand hält, das Original oft sehr ungenirt umgestaltete und beispiels¬ weise in „Heinrich dem Sechsten" keinen Stein auf dem andern ließ. Die Kritik aber übersah, daß ihre ganz begreifliche Befriedigung, diesen seltenen Dramcnkomplex als Ganzes mit Augen vor sich zu sehen, sich mit der des Publikums, das keine literarischen Sondcrinteressen hat und haben kaun, nicht deckt. Hat ein Theater so viel Zeit, »eben unsern deutschen großen, klassischen Dramen und denjenigen Shakespeares, die, wie „Hamlet," „Macbeth," „Romeo," „Othello," „Lear" über der Zeit und dem Raume stehen und keine nationalen Schranken kennen, auch noch die Köuigsdramen zu Pflegen, so mag es das ja thun; aber aus der Bevorzugung derselben ein künstlerisches Verdienst herleiten zu wollen und die Aufführung wohl gar zu einer nationalen Pflicht zu macheu, das geht zu weit. Als Werke Shakespeares gehören auch die Königsdramen der Welt an, aber das Heil der deutschen Bühne hängt von ihnen nicht ab. Gerade die herrlichsten Dichtungen unter ihnen sind dramatisch mangelhaft, und die szenische Darstellung läßt uns zu dem goldenen Quell ihrer Poesie nur ahnuugsweise vordringen. Der ganze Prinz Heinz, der spätere Heinrich der Fünfte, ist eins der wunderbarsten Charakterbilder, wie es auch Percy, wie es Falstaff ist; aber wer möchte, wenn er ganz ehrlich und kundig ist, die Historien von Heinrich dem Vierten und Heinrich dem Fünften gute Dramen nennen? Als Ganzes sind sie ganz so undramatisch wie beispielsweise der „Macbeth" dramatisch ist. Sie sind ganz und gar episch gedacht und behandelt, und die unverwüstlichen Gesellen von Eastcheap, dramatisch betrachtet, nur Episoden. Ja wer möchte ein solches Werk der mißverständlichen Kritik eines Publikums aussetzen, das von einem Bühnenwerke zunächst dramatische Konzentration und ein energisches Fortschreiten der Handlung, ohne Sprünge und Seitenläufer, erwartet? In der jüngst erschienenen „Chronik des Oldenburger Hoftheaters" von R. von Dalwigk findet sich aus der Saison 1836—37 folgende Notiz: „Oktober 2 wurde die Bühne mit «Heinrich IV.», erster Teil, eröffnet, einer den Darstellern nach gewiß guten Vorstellung . . . und doch scheint das Stück durchaus unbefriedigend vorübergegangen zu sein. Der Bericht sagt: «Wir dürfen es nicht den Schauspielern zuschreiben, wenn dieses Stück so wenig die Aufmerksamkeit der Zuschauer fesseln konnte; ein jeder Akt machte das Haus leerer — nur Bcrninger-Falstaff erhielt einigen Beifall». Vergleichen wir diese Stimmung mit dem Jubel, welcher in spätern Jahren Berningcr-Falstaff nach einer jeden Szene folgte und den glänzenden Erfolgen, welche Gustav Haeser- Heiuz sich erwarb, so müssen wir annehmen, daß damals Shakespeare wirklich «Caviar fürs Volk» war." Gewiß ist das Verständnis des großen Dichters ge¬ wachsen, und ein vorzeitiges Verschwinden des Publikums bei einer Aufführung von „Heinrich dem Vierten" wäre jetzt kaum denkbar; aber in jener unbesungenen Aufnahme liegt doch auch ein memento an den Theaterleiter, daß das poetisch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/92>, abgerufen am 01.07.2024.