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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die deutsche Bühne der Gegenwart.

liehen Ehrbegriff unser deutsches Empfinden so völlig, daß wir entweder ange¬
widert oder heiter gestimmt werden. Jeder Theaterkundige wird sich von der
Wirkung dieser Parteien auf ein naives Publikum haben überzeugen können.
Und dies ist schließlich mir eine Einzelheit in einem an Schönheiten und dra¬
matischen Leben außerordentlich reichen, literarhistorisch höchst bedeutenden Drama.
Was soll man aber gar sagen, wenn "Don Gutierre." der "Arzt seiner Ehre"
sei" unschuldiges Weib ermordet, weil ihr ein andrer den Hof macht, nicht in
der Wallung der Leidenschaft, sondern um der Ehre zu genügen, und wenn der¬
selbe Mann, dessen Schwert von dem Blute der Toten noch raucht, am Throne
des Königs Ersatz in einer zweiten Frau findet, die seine Hand verlangt und
erhält, weil er von früher her gewisse Verpflichtungen gegen sie hat. Das ist
spanisch und bleibe deu Spaniern. Auch "Dom Gutierre" zeigt die herrlichsten
Einzelheiten, aber wer wird es dem deutscheu Publikum verdenken, wenn es sich
gegen eine Auffassung von Ehre und Sittlichkeit auflehnt, die der seinen schnur¬
stracks zuwiderläuft und die ihm geradezu unsittlich erscheinen muß? Mit solchen
Menschen kann es nicht empfinden, es starrt sie an wie Fremdlinge aus einer
andern Welt. Hier hoffe man auch auf keine Änderung. Noch jetzt tauchen
die Spanier von Zeit zu Zeit auf unsern Theatern ans, aber immer nur, um
bald wieder zu verschwinden.

Ist ihr Erscheinen seit ihrer Einführung geringer geworden, so hat sich
dagegen die Pflege Shakespeares auf dem Theater in neuester Zeit immer mehr
ausgebildet, und manches seiner Dramen, das noch vor kurzem unausführbar
schien, geht, mit allen Mitteln der äußern Jnseenirnngskünste, die heutzutage
aufgeboten werden können, dargestellt, während einer Saison vielleicht in zahl¬
reichen Wiederholungen über die Bretter. So wurde der "Sturm" und "Antonins
und Cleopatra" durch Tingelstedt für das Wiener Burgtheater und in der Folge
auch für einige andre Bühnen gewonnen; mit dem "Chmbelin" machte man ver¬
schiedene, der Verbesserung noch fähige Versuche, und während "Julius Cäsar"
und "Coriolan," die zu den allergewaltigsten Thaten des dramatischen Genius
Shakespeares gehören, wenigstens sporadisch erscheinen, obgleich sie zum eisernen
Bestände jeder großen, leistungsfähigen Bühne gehören sollten, versucht man
sich sogar mit "Maß für Maß" und "Ende gut. Alles gut." Das allerneueste
"Ereignis" ist aber die Aufführung des Königsdramen-Cyklus von "Richard
dem Zweiten" bis zu "Richard dem Dritten." Dies eigentümliche, vielfach ge¬
lungene Unternehmen hat geradezu die Begeisterung der engern Shakespeare¬
gemeinde und eines Teiles der Kritik erregt. Die erstere, welche die enorme
theatralische Wirkungsfähigkeit auch dieser großartigen Schöpfungen Shakespeares
daraus herleite" wollte, übersah nur, daß es zum guten Teil gar nicht Shake¬
speare ist. der den theatralischen Effekt erzielt, sondern der geschickte Bearbeiter
(Dingelstedt), der, wohl wissend, daß die theatralische Wirkung mit der drama¬
tischen sich oft nicht deckt, da jene vor allen Dingen eine momentane sein muß,


Die deutsche Bühne der Gegenwart.

liehen Ehrbegriff unser deutsches Empfinden so völlig, daß wir entweder ange¬
widert oder heiter gestimmt werden. Jeder Theaterkundige wird sich von der
Wirkung dieser Parteien auf ein naives Publikum haben überzeugen können.
Und dies ist schließlich mir eine Einzelheit in einem an Schönheiten und dra¬
matischen Leben außerordentlich reichen, literarhistorisch höchst bedeutenden Drama.
Was soll man aber gar sagen, wenn „Don Gutierre." der „Arzt seiner Ehre"
sei» unschuldiges Weib ermordet, weil ihr ein andrer den Hof macht, nicht in
der Wallung der Leidenschaft, sondern um der Ehre zu genügen, und wenn der¬
selbe Mann, dessen Schwert von dem Blute der Toten noch raucht, am Throne
des Königs Ersatz in einer zweiten Frau findet, die seine Hand verlangt und
erhält, weil er von früher her gewisse Verpflichtungen gegen sie hat. Das ist
spanisch und bleibe deu Spaniern. Auch „Dom Gutierre" zeigt die herrlichsten
Einzelheiten, aber wer wird es dem deutscheu Publikum verdenken, wenn es sich
gegen eine Auffassung von Ehre und Sittlichkeit auflehnt, die der seinen schnur¬
stracks zuwiderläuft und die ihm geradezu unsittlich erscheinen muß? Mit solchen
Menschen kann es nicht empfinden, es starrt sie an wie Fremdlinge aus einer
andern Welt. Hier hoffe man auch auf keine Änderung. Noch jetzt tauchen
die Spanier von Zeit zu Zeit auf unsern Theatern ans, aber immer nur, um
bald wieder zu verschwinden.

Ist ihr Erscheinen seit ihrer Einführung geringer geworden, so hat sich
dagegen die Pflege Shakespeares auf dem Theater in neuester Zeit immer mehr
ausgebildet, und manches seiner Dramen, das noch vor kurzem unausführbar
schien, geht, mit allen Mitteln der äußern Jnseenirnngskünste, die heutzutage
aufgeboten werden können, dargestellt, während einer Saison vielleicht in zahl¬
reichen Wiederholungen über die Bretter. So wurde der „Sturm" und „Antonins
und Cleopatra" durch Tingelstedt für das Wiener Burgtheater und in der Folge
auch für einige andre Bühnen gewonnen; mit dem „Chmbelin" machte man ver¬
schiedene, der Verbesserung noch fähige Versuche, und während „Julius Cäsar"
und „Coriolan," die zu den allergewaltigsten Thaten des dramatischen Genius
Shakespeares gehören, wenigstens sporadisch erscheinen, obgleich sie zum eisernen
Bestände jeder großen, leistungsfähigen Bühne gehören sollten, versucht man
sich sogar mit „Maß für Maß" und „Ende gut. Alles gut." Das allerneueste
«Ereignis" ist aber die Aufführung des Königsdramen-Cyklus von „Richard
dem Zweiten" bis zu „Richard dem Dritten." Dies eigentümliche, vielfach ge¬
lungene Unternehmen hat geradezu die Begeisterung der engern Shakespeare¬
gemeinde und eines Teiles der Kritik erregt. Die erstere, welche die enorme
theatralische Wirkungsfähigkeit auch dieser großartigen Schöpfungen Shakespeares
daraus herleite» wollte, übersah nur, daß es zum guten Teil gar nicht Shake¬
speare ist. der den theatralischen Effekt erzielt, sondern der geschickte Bearbeiter
(Dingelstedt), der, wohl wissend, daß die theatralische Wirkung mit der drama¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/91>, abgerufen am 01.07.2024.