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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Ungereimtheit aber, den Meister, der, wenn der Vorgang wirklich realen Cha¬
rakter annehmen soll (was er dnrch die Darstellung doch thut), für nichts andres
als seine Glocke Auge und Ohr haben müßte, vorn an der Rampe unablässig
rezitiren zu hören. Welch ein Widerspruch und welch eine Verkennung der Be-
deutung des Gedichtes, uns die Werkstätte beständig vor Augen zu führen, deren
Details uns doch das minder wichtige sind, während andrerseits die tiefen Be¬
trachtungen, die an sie geknüpft werden, zum Bilde krystallisirt, uns nur für
einen kurzen Augenblick deutlich werden; kurzum, welche Verkennung des Dra¬
matischen! Es ist das nur ein einzelnes Beispiel, aber ein außerordentlich wich¬
tiges, dem es nicht an Pendants fehlt. Sie bedeuten den Beginn des theatra¬
lischen Kultus solcher Schöpfungen, die mit der Bühne, jedenfalls mit der deutschen,
wenig oder nichts zu thun haben, und die völlige Mißachtung aller theatralischen
Gesetze.

Was Goethe thun durfte, durften die Romantiker auch wagen, und sie
wagten es mit der größten Unbefangenheit, gestützt ans Shakespeare, durch dessen
Uebersetzung und Einführung sich Schlegel und Tieck ein unsterbliches Verdienst
erwarben, und die Spanier, die ihrer ganzen geistigen Richtung ungemein ent¬
sprachen. Was sie selbst auf den, Gebiete des Dramas schufen, ist verschollen --
mit vollem Recht, denn es ist unfruchtbar; mir Heinrich von Kleist, der den
Romantikern von Profession, den Schlegel, Tieck, Armin, Brentano u. a. lieber
nicht beizuzählen ist, wächst immer mehr in das Verständnis der Nation hinein
und erobert sich nach seinem Tode endlich den Platz, der ihm im Leben versagt
blieb. Mit ihrem größten dramatischen Ruhm, der Pflege Shakespeares, ver¬
knüpft sich aber auch die Schwäche der Romantiker; in ihrer Liebe für das
Phantastische und Regellose brachten sie ihn am liebsten ganz wie er ist auf
die Bühne, und gerade solche Werke, die sich gegen eine Verkörperung auf dem
Theater hartnäckig sträuben, reizten sie desto mehr. Indeß, Shakespeare ist uns
fast immer willkommen, anch da wo er irrt; die Spanier aber, die sie uns nicht
nur literarisch, sondern aktuell nahe rücken wollten, bleiben uns immer fremd.
So groß aber war die Liebhaberei für den großen Calderon und seine Lands-
leute, daß selbst Immermann, vielleicht einer der genialsten und praktischsten
Bühnenleiter, während seiner Düsseldorfer Direktion immer wieder zu ihnen
zurückgriff und ihnen, dank seiner meisterlichen Jnseeniruugskuust, auch zu einem
gewissen Erfolge verhalf. Schließlich war es doch nur ein Scheinerfolg. "Das
Leben ein Traum" ist gewiß in seiner Art ein Meisterwerk, echt spanisch, echt
katholisch, ganz romantisch, und sein zweiter Akt besonders dramatisch wie thea¬
tralisch gleichbedeutend; wenn aber zum Schluß die vielgehetzte Rosaura die
Hand des Astolf, der sie schnöde verlassen hat und nichts mehr von ihr wissen
will, dennoch erzwingt, wenn Prinzessin Estrella, die sich dadurch nun plötzlich
vis ü, vis as risn sieht, dem Sigismund selbst anvermählt wird, ganz einfach,
damit sie nicht zu kurz komme, so verletzt diese Rücksicht auf den rein außer-


Ungereimtheit aber, den Meister, der, wenn der Vorgang wirklich realen Cha¬
rakter annehmen soll (was er dnrch die Darstellung doch thut), für nichts andres
als seine Glocke Auge und Ohr haben müßte, vorn an der Rampe unablässig
rezitiren zu hören. Welch ein Widerspruch und welch eine Verkennung der Be-
deutung des Gedichtes, uns die Werkstätte beständig vor Augen zu führen, deren
Details uns doch das minder wichtige sind, während andrerseits die tiefen Be¬
trachtungen, die an sie geknüpft werden, zum Bilde krystallisirt, uns nur für
einen kurzen Augenblick deutlich werden; kurzum, welche Verkennung des Dra¬
matischen! Es ist das nur ein einzelnes Beispiel, aber ein außerordentlich wich¬
tiges, dem es nicht an Pendants fehlt. Sie bedeuten den Beginn des theatra¬
lischen Kultus solcher Schöpfungen, die mit der Bühne, jedenfalls mit der deutschen,
wenig oder nichts zu thun haben, und die völlige Mißachtung aller theatralischen
Gesetze.

Was Goethe thun durfte, durften die Romantiker auch wagen, und sie
wagten es mit der größten Unbefangenheit, gestützt ans Shakespeare, durch dessen
Uebersetzung und Einführung sich Schlegel und Tieck ein unsterbliches Verdienst
erwarben, und die Spanier, die ihrer ganzen geistigen Richtung ungemein ent¬
sprachen. Was sie selbst auf den, Gebiete des Dramas schufen, ist verschollen —
mit vollem Recht, denn es ist unfruchtbar; mir Heinrich von Kleist, der den
Romantikern von Profession, den Schlegel, Tieck, Armin, Brentano u. a. lieber
nicht beizuzählen ist, wächst immer mehr in das Verständnis der Nation hinein
und erobert sich nach seinem Tode endlich den Platz, der ihm im Leben versagt
blieb. Mit ihrem größten dramatischen Ruhm, der Pflege Shakespeares, ver¬
knüpft sich aber auch die Schwäche der Romantiker; in ihrer Liebe für das
Phantastische und Regellose brachten sie ihn am liebsten ganz wie er ist auf
die Bühne, und gerade solche Werke, die sich gegen eine Verkörperung auf dem
Theater hartnäckig sträuben, reizten sie desto mehr. Indeß, Shakespeare ist uns
fast immer willkommen, anch da wo er irrt; die Spanier aber, die sie uns nicht
nur literarisch, sondern aktuell nahe rücken wollten, bleiben uns immer fremd.
So groß aber war die Liebhaberei für den großen Calderon und seine Lands-
leute, daß selbst Immermann, vielleicht einer der genialsten und praktischsten
Bühnenleiter, während seiner Düsseldorfer Direktion immer wieder zu ihnen
zurückgriff und ihnen, dank seiner meisterlichen Jnseeniruugskuust, auch zu einem
gewissen Erfolge verhalf. Schließlich war es doch nur ein Scheinerfolg. „Das
Leben ein Traum" ist gewiß in seiner Art ein Meisterwerk, echt spanisch, echt
katholisch, ganz romantisch, und sein zweiter Akt besonders dramatisch wie thea¬
tralisch gleichbedeutend; wenn aber zum Schluß die vielgehetzte Rosaura die
Hand des Astolf, der sie schnöde verlassen hat und nichts mehr von ihr wissen
will, dennoch erzwingt, wenn Prinzessin Estrella, die sich dadurch nun plötzlich
vis ü, vis as risn sieht, dem Sigismund selbst anvermählt wird, ganz einfach,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/90>, abgerufen am 01.07.2024.