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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die deutsche Bühne der Gegenwart.

gends ein Recht, sich geltend zu machen. Das ist fast schon zu allgemein gesprochen,
und die Grenze im einzelnen Falle ist schwer zu ziehen; aber gegen die Anklage,
die moderne deutsche Bühne habe im Repertoire Rückschritte gemacht, möchte ich
sie entschieden verteidigen. Man mag gegen die Mehrheit der dramatischen Er¬
scheinungen, die das große Publikum ius Theater locken, eifern: gegen ein Mach¬
werk wie Dumas' "Fremde," gegen die (übrigens im Aussterben begriffene) Offen-
bcichiadc, man mag die Theater, die aus der Pflege dieser zweifelhafte" Kunst¬
gattungen ein Geschäft mache", in Acht und Bann thun; aber daß heutzutage
das künstlerisch Wertvolle auf der Bühne weniger gepflegt werde als vor vierzig,
sechzig oder achtzig Jahren, ist ein Irrtum und, wenn er zum Vorwürfe wird,
eine Ungerechtigkeit.

Bor mir liegt ein Konvolut der Programme des Bremer Stadttheaters
aus der Wintersaison 1803 bis 1304. Diese Bühne war und ist keineswegs
ersten Ranges, aber sie vertritt genau den Stand der guten mittleren Theater,
die Schauspiel und Oper zugleich zu pflegen haben und schon um des Publikums
willen, das nicht oft wechseln kann, dem Repertoire besondre Sorgfalt angedeihen
lassen müssen. Nach seinen Leistungen und der ihm zugewandten Teilnahme
bewahrt es ein anständiges Niveau, und weil ihm besondre Mittel, wie sie die
Hoftheater aufwenden können, immer versagt bliebe", und es künstlerisch nie un¬
gewöhnlich stieg, aber auch nie sank, so ist es zur Orientirung über den Durch¬
schnitt der deutschen Theaterverhältnisse vortrefflich geeignet. In der erwähnten
vom Anfang Oktober bis in die erste Woche des Mai sich erstreckenden Saison
war bei wöchentlich vier Vorstellungen Schiller zwar ungewöhnlich reich ver¬
treten: mit den "Räubern," dem "Fiesco," in der Bearbeitung von Plümike
(zweimal), dem "Don Karlos" (zweimal), "Kabale und Liebe," "Wallen-
steins Lager" und "Wallensteins Tod" (beides zweimal), der "Maria
Stuart" und der "Jungfrau von Orleans"; aber Lessings Namen finden wir
mir ein einzigesmal (mit der "Emilia Galotti"), den Goethes -- gar nicht.
Der Eindruck einer Hamlet-Vorstellung wird durch eine Tags darauf gegebene
Hamlet-Travestie wieder zunichte gemacht. Dafür findet sich Jffland mit sechs
Stücken in zehn Vorstellungen und Kotzebue gar mit nicht weniger als siebzehn
Stücken, von denen der "Hahnenschlng" und die "Unglücklichen" dreimal, "Jo¬
hanna von Montfaucon," die "Hussiten vor Naumburg" und das "Epigramm"
zweimal wiederholt wurden. Ein besonderes Glück machte Arresto mit seinen
"Soldaten," die nicht weniger als sechsmal nufmarschirte". Die breiten Lücken
füllen eine Meuge größtenteils unbedeutender deutscher und französischer Lust¬
spiele aus; in der Oper zeigen sich anßer den liebenswürdigen Gaben von
Monsigny, Grvtrh und Diedersdorf als klassische Erscheinungen großen Stils
lediglich der "Wasserträger" und "Don Juan."

Noch weniger günstig stellt sich das Verhältnis in der folgenden Saison.
Kotzebue dominirt rücksichtslos mit achtzehn Dramen, diesmal nur Komödien,


Die deutsche Bühne der Gegenwart.

gends ein Recht, sich geltend zu machen. Das ist fast schon zu allgemein gesprochen,
und die Grenze im einzelnen Falle ist schwer zu ziehen; aber gegen die Anklage,
die moderne deutsche Bühne habe im Repertoire Rückschritte gemacht, möchte ich
sie entschieden verteidigen. Man mag gegen die Mehrheit der dramatischen Er¬
scheinungen, die das große Publikum ius Theater locken, eifern: gegen ein Mach¬
werk wie Dumas' „Fremde," gegen die (übrigens im Aussterben begriffene) Offen-
bcichiadc, man mag die Theater, die aus der Pflege dieser zweifelhafte« Kunst¬
gattungen ein Geschäft mache», in Acht und Bann thun; aber daß heutzutage
das künstlerisch Wertvolle auf der Bühne weniger gepflegt werde als vor vierzig,
sechzig oder achtzig Jahren, ist ein Irrtum und, wenn er zum Vorwürfe wird,
eine Ungerechtigkeit.

Bor mir liegt ein Konvolut der Programme des Bremer Stadttheaters
aus der Wintersaison 1803 bis 1304. Diese Bühne war und ist keineswegs
ersten Ranges, aber sie vertritt genau den Stand der guten mittleren Theater,
die Schauspiel und Oper zugleich zu pflegen haben und schon um des Publikums
willen, das nicht oft wechseln kann, dem Repertoire besondre Sorgfalt angedeihen
lassen müssen. Nach seinen Leistungen und der ihm zugewandten Teilnahme
bewahrt es ein anständiges Niveau, und weil ihm besondre Mittel, wie sie die
Hoftheater aufwenden können, immer versagt bliebe», und es künstlerisch nie un¬
gewöhnlich stieg, aber auch nie sank, so ist es zur Orientirung über den Durch¬
schnitt der deutschen Theaterverhältnisse vortrefflich geeignet. In der erwähnten
vom Anfang Oktober bis in die erste Woche des Mai sich erstreckenden Saison
war bei wöchentlich vier Vorstellungen Schiller zwar ungewöhnlich reich ver¬
treten: mit den „Räubern," dem „Fiesco," in der Bearbeitung von Plümike
(zweimal), dem „Don Karlos" (zweimal), „Kabale und Liebe," „Wallen-
steins Lager" und „Wallensteins Tod" (beides zweimal), der „Maria
Stuart" und der „Jungfrau von Orleans"; aber Lessings Namen finden wir
mir ein einzigesmal (mit der „Emilia Galotti"), den Goethes — gar nicht.
Der Eindruck einer Hamlet-Vorstellung wird durch eine Tags darauf gegebene
Hamlet-Travestie wieder zunichte gemacht. Dafür findet sich Jffland mit sechs
Stücken in zehn Vorstellungen und Kotzebue gar mit nicht weniger als siebzehn
Stücken, von denen der „Hahnenschlng" und die „Unglücklichen" dreimal, „Jo¬
hanna von Montfaucon," die „Hussiten vor Naumburg" und das „Epigramm"
zweimal wiederholt wurden. Ein besonderes Glück machte Arresto mit seinen
„Soldaten," die nicht weniger als sechsmal nufmarschirte». Die breiten Lücken
füllen eine Meuge größtenteils unbedeutender deutscher und französischer Lust¬
spiele aus; in der Oper zeigen sich anßer den liebenswürdigen Gaben von
Monsigny, Grvtrh und Diedersdorf als klassische Erscheinungen großen Stils
lediglich der „Wasserträger" und „Don Juan."

Noch weniger günstig stellt sich das Verhältnis in der folgenden Saison.
Kotzebue dominirt rücksichtslos mit achtzehn Dramen, diesmal nur Komödien,


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[0086] Die deutsche Bühne der Gegenwart. gends ein Recht, sich geltend zu machen. Das ist fast schon zu allgemein gesprochen, und die Grenze im einzelnen Falle ist schwer zu ziehen; aber gegen die Anklage, die moderne deutsche Bühne habe im Repertoire Rückschritte gemacht, möchte ich sie entschieden verteidigen. Man mag gegen die Mehrheit der dramatischen Er¬ scheinungen, die das große Publikum ius Theater locken, eifern: gegen ein Mach¬ werk wie Dumas' „Fremde," gegen die (übrigens im Aussterben begriffene) Offen- bcichiadc, man mag die Theater, die aus der Pflege dieser zweifelhafte« Kunst¬ gattungen ein Geschäft mache», in Acht und Bann thun; aber daß heutzutage das künstlerisch Wertvolle auf der Bühne weniger gepflegt werde als vor vierzig, sechzig oder achtzig Jahren, ist ein Irrtum und, wenn er zum Vorwürfe wird, eine Ungerechtigkeit. Bor mir liegt ein Konvolut der Programme des Bremer Stadttheaters aus der Wintersaison 1803 bis 1304. Diese Bühne war und ist keineswegs ersten Ranges, aber sie vertritt genau den Stand der guten mittleren Theater, die Schauspiel und Oper zugleich zu pflegen haben und schon um des Publikums willen, das nicht oft wechseln kann, dem Repertoire besondre Sorgfalt angedeihen lassen müssen. Nach seinen Leistungen und der ihm zugewandten Teilnahme bewahrt es ein anständiges Niveau, und weil ihm besondre Mittel, wie sie die Hoftheater aufwenden können, immer versagt bliebe», und es künstlerisch nie un¬ gewöhnlich stieg, aber auch nie sank, so ist es zur Orientirung über den Durch¬ schnitt der deutschen Theaterverhältnisse vortrefflich geeignet. In der erwähnten vom Anfang Oktober bis in die erste Woche des Mai sich erstreckenden Saison war bei wöchentlich vier Vorstellungen Schiller zwar ungewöhnlich reich ver¬ treten: mit den „Räubern," dem „Fiesco," in der Bearbeitung von Plümike (zweimal), dem „Don Karlos" (zweimal), „Kabale und Liebe," „Wallen- steins Lager" und „Wallensteins Tod" (beides zweimal), der „Maria Stuart" und der „Jungfrau von Orleans"; aber Lessings Namen finden wir mir ein einzigesmal (mit der „Emilia Galotti"), den Goethes — gar nicht. Der Eindruck einer Hamlet-Vorstellung wird durch eine Tags darauf gegebene Hamlet-Travestie wieder zunichte gemacht. Dafür findet sich Jffland mit sechs Stücken in zehn Vorstellungen und Kotzebue gar mit nicht weniger als siebzehn Stücken, von denen der „Hahnenschlng" und die „Unglücklichen" dreimal, „Jo¬ hanna von Montfaucon," die „Hussiten vor Naumburg" und das „Epigramm" zweimal wiederholt wurden. Ein besonderes Glück machte Arresto mit seinen „Soldaten," die nicht weniger als sechsmal nufmarschirte». Die breiten Lücken füllen eine Meuge größtenteils unbedeutender deutscher und französischer Lust¬ spiele aus; in der Oper zeigen sich anßer den liebenswürdigen Gaben von Monsigny, Grvtrh und Diedersdorf als klassische Erscheinungen großen Stils lediglich der „Wasserträger" und „Don Juan." Noch weniger günstig stellt sich das Verhältnis in der folgenden Saison. Kotzebue dominirt rücksichtslos mit achtzehn Dramen, diesmal nur Komödien,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/86>, abgerufen am 01.07.2024.