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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die deutsche Bühne der Gegenwart.
2. Das Repertoire.

u den Gegenständen unablässiger Klage derer, die das Theater
besuchen und sich mit ihm beschäftigen, gehört auch das Reper¬
toire, und wieder ertönt ein Seufzer der Sehnsucht nach der ent¬
schwundenen goldenen Zeit. Die Prinzessin im "Tasso" würde aber
auch hier sagen: "Sie war so wenig als sie ist," denn gewisse
Erscheinungen, die eine wohlmeinende Gesinnung beklagt, sind unausrottbar, weil
sie mit der Gewöhnung und der Natur des Publikums eng zusammenhängen.
Immer wird das Alltägliche den breitesten Platz einnehmen und den echten,
unsterblichen Kunstgebilden den Raum neben sich streitig machen; ragen jene
doch dafür hoch über das Gewöhnliche in den Himmel empor! Ein Theater,
das täglich geöffnet ist, kann seinen Gästen nicht immer das Höchste reichen;
der allgemeine Drang sucht mehr Zerstreuung als Erholung, das Publikum will
die eiserne Faust des Schicksals nicht beständig im Nacken fühlen, nicht vor
heroischen Erscheinungen wie vor fremde", unheimlichen Wesen stehen; mit seines¬
gleichen will es Verkehren und im harmlosen Geplauder mit ihnen aufatmen.
Man mag das beklagen, wie man sich darüber ärgern mag, daß das "große
Publikum," wenn es sich rühren lassen will, lieber die Zerrbilder des Tragischen
als das wahrhaft Tragische aufsucht; aber wo findet man den geläuterten Kunst-
geschmack so weit verbreitet, daß jeder Besucher der Galerie imstande ist, über
das Schuldmoment im Verhalten der Cordelia, der Desdemona, der Luise Miller
subtile Betrachtungen anzustellen? Aber auch die Gesundheit und Frische der
schauspielerischen Thätigkeit erfordert eine Ausspannung. Der Künstler wird
mit desto reinerer Seele, mit desto gestähltcrer Kraft an die Verkörperung einer
dramatischen Meisterschöpfnng gehen, wenn er sich eine Zeit lang bequem auf
dem Niveau hat ergehen können. Es käme nur darauf an, auf jene alle Energie
M konzentriren, sie stets als die eigentlichen Aufgaben der Bühne erscheinen zu
lassen, als die Perlen, um deretwillen die Fassung da ist. Und ist das Mittel¬
gut nur unschädlich und harmlos, zerstört es nicht durch frivole Einmischungen
die Empfänglichkeit des Publikums für das Bessere, so hüte man sich, es gar
ZU verächtlich über die Achsel anzusehen. So frische und sichere Talente wie
Moser und selbst Rosen, so glückliche Photographen unsrer bürgerlichen, gemüt¬
vollen Häuslichkeit wie L'Arrouge sollte man freundlich willkommen heißen; es
'se schon immer etwas, uns herzlich lachen zu machen und diese Wirkung nicht mit
unlauteren Mitteln zu erzielen. Nur die absolute Plattheit und Talentlosigkeit,
nur die Gemeinheit und die alberne melodramatische Sentimentalität haben mir-


Die deutsche Bühne der Gegenwart.
2. Das Repertoire.

u den Gegenständen unablässiger Klage derer, die das Theater
besuchen und sich mit ihm beschäftigen, gehört auch das Reper¬
toire, und wieder ertönt ein Seufzer der Sehnsucht nach der ent¬
schwundenen goldenen Zeit. Die Prinzessin im „Tasso" würde aber
auch hier sagen: „Sie war so wenig als sie ist," denn gewisse
Erscheinungen, die eine wohlmeinende Gesinnung beklagt, sind unausrottbar, weil
sie mit der Gewöhnung und der Natur des Publikums eng zusammenhängen.
Immer wird das Alltägliche den breitesten Platz einnehmen und den echten,
unsterblichen Kunstgebilden den Raum neben sich streitig machen; ragen jene
doch dafür hoch über das Gewöhnliche in den Himmel empor! Ein Theater,
das täglich geöffnet ist, kann seinen Gästen nicht immer das Höchste reichen;
der allgemeine Drang sucht mehr Zerstreuung als Erholung, das Publikum will
die eiserne Faust des Schicksals nicht beständig im Nacken fühlen, nicht vor
heroischen Erscheinungen wie vor fremde», unheimlichen Wesen stehen; mit seines¬
gleichen will es Verkehren und im harmlosen Geplauder mit ihnen aufatmen.
Man mag das beklagen, wie man sich darüber ärgern mag, daß das „große
Publikum," wenn es sich rühren lassen will, lieber die Zerrbilder des Tragischen
als das wahrhaft Tragische aufsucht; aber wo findet man den geläuterten Kunst-
geschmack so weit verbreitet, daß jeder Besucher der Galerie imstande ist, über
das Schuldmoment im Verhalten der Cordelia, der Desdemona, der Luise Miller
subtile Betrachtungen anzustellen? Aber auch die Gesundheit und Frische der
schauspielerischen Thätigkeit erfordert eine Ausspannung. Der Künstler wird
mit desto reinerer Seele, mit desto gestähltcrer Kraft an die Verkörperung einer
dramatischen Meisterschöpfnng gehen, wenn er sich eine Zeit lang bequem auf
dem Niveau hat ergehen können. Es käme nur darauf an, auf jene alle Energie
M konzentriren, sie stets als die eigentlichen Aufgaben der Bühne erscheinen zu
lassen, als die Perlen, um deretwillen die Fassung da ist. Und ist das Mittel¬
gut nur unschädlich und harmlos, zerstört es nicht durch frivole Einmischungen
die Empfänglichkeit des Publikums für das Bessere, so hüte man sich, es gar
ZU verächtlich über die Achsel anzusehen. So frische und sichere Talente wie
Moser und selbst Rosen, so glückliche Photographen unsrer bürgerlichen, gemüt¬
vollen Häuslichkeit wie L'Arrouge sollte man freundlich willkommen heißen; es
'se schon immer etwas, uns herzlich lachen zu machen und diese Wirkung nicht mit
unlauteren Mitteln zu erzielen. Nur die absolute Plattheit und Talentlosigkeit,
nur die Gemeinheit und die alberne melodramatische Sentimentalität haben mir-


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[0085] Die deutsche Bühne der Gegenwart. 2. Das Repertoire. u den Gegenständen unablässiger Klage derer, die das Theater besuchen und sich mit ihm beschäftigen, gehört auch das Reper¬ toire, und wieder ertönt ein Seufzer der Sehnsucht nach der ent¬ schwundenen goldenen Zeit. Die Prinzessin im „Tasso" würde aber auch hier sagen: „Sie war so wenig als sie ist," denn gewisse Erscheinungen, die eine wohlmeinende Gesinnung beklagt, sind unausrottbar, weil sie mit der Gewöhnung und der Natur des Publikums eng zusammenhängen. Immer wird das Alltägliche den breitesten Platz einnehmen und den echten, unsterblichen Kunstgebilden den Raum neben sich streitig machen; ragen jene doch dafür hoch über das Gewöhnliche in den Himmel empor! Ein Theater, das täglich geöffnet ist, kann seinen Gästen nicht immer das Höchste reichen; der allgemeine Drang sucht mehr Zerstreuung als Erholung, das Publikum will die eiserne Faust des Schicksals nicht beständig im Nacken fühlen, nicht vor heroischen Erscheinungen wie vor fremde», unheimlichen Wesen stehen; mit seines¬ gleichen will es Verkehren und im harmlosen Geplauder mit ihnen aufatmen. Man mag das beklagen, wie man sich darüber ärgern mag, daß das „große Publikum," wenn es sich rühren lassen will, lieber die Zerrbilder des Tragischen als das wahrhaft Tragische aufsucht; aber wo findet man den geläuterten Kunst- geschmack so weit verbreitet, daß jeder Besucher der Galerie imstande ist, über das Schuldmoment im Verhalten der Cordelia, der Desdemona, der Luise Miller subtile Betrachtungen anzustellen? Aber auch die Gesundheit und Frische der schauspielerischen Thätigkeit erfordert eine Ausspannung. Der Künstler wird mit desto reinerer Seele, mit desto gestähltcrer Kraft an die Verkörperung einer dramatischen Meisterschöpfnng gehen, wenn er sich eine Zeit lang bequem auf dem Niveau hat ergehen können. Es käme nur darauf an, auf jene alle Energie M konzentriren, sie stets als die eigentlichen Aufgaben der Bühne erscheinen zu lassen, als die Perlen, um deretwillen die Fassung da ist. Und ist das Mittel¬ gut nur unschädlich und harmlos, zerstört es nicht durch frivole Einmischungen die Empfänglichkeit des Publikums für das Bessere, so hüte man sich, es gar ZU verächtlich über die Achsel anzusehen. So frische und sichere Talente wie Moser und selbst Rosen, so glückliche Photographen unsrer bürgerlichen, gemüt¬ vollen Häuslichkeit wie L'Arrouge sollte man freundlich willkommen heißen; es 'se schon immer etwas, uns herzlich lachen zu machen und diese Wirkung nicht mit unlauteren Mitteln zu erzielen. Nur die absolute Plattheit und Talentlosigkeit, nur die Gemeinheit und die alberne melodramatische Sentimentalität haben mir-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/85>, abgerufen am 01.07.2024.