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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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folgenden Gesichtspunkten ausgeht^) Das allgemeine Wahlrecht soll im Parlamente
den Ausdruck des Willens aller darstellen. In Wirklichkeit liefert es nur eine Ma¬
jorität der Volksvertretung, die möglicherweise nichts weiter als die Minorität
sämmtlicher Staatsbürger vertritt. Denken wir uns den Fall, daß in einem
Wahlkreise von 20 000 Wählern 11 000 konservativ, liberal oder indifferent und
nur 9000 radikale Demokraten sind, daß letztre aber durch Rührigkeit lind Ge¬
schick 2000 Stimmen der indifferenten für ihren Kandidaten gewinnen, so ist
die politische Gesinnung dieses Wahlkreises im Parlamente gar nicht vertreten.
Wiederholt sich das in vielen Wahlkreisen, so kann mehr als die Hälfte der
Nation im Reichstage ohne Repräsentanten ihrer Ansichten und Wünsche sein.
So hat Hare ein System erdacht, welches Robert v. Mohl mit dem El des
Kolumbus verglichen hat. Dasselbe beruht im wesentlichen darauf, daß der
Wähler mehrere Namen ans seinen Wahlzettel schreiben darf, und daß die in
einer gewissen Anzahl von Wahlkreisen abgegebenen Stimmen addirt werden.
Der Vorgang würde in einem Lande, welches 25 Abgeordnete zu wählen hätte,
etwa folgender sein. "Zur Vorbereitung treten die Landeskvmitees der ver¬
schiedenen Parteien zusammen, um für jede der letztern eine Liste von 25 Kan¬
didaten zu entwerfen und ihr unter den Parteigenossen möglichst weite Verbrei-
tung zu gebe". Der Wähler kam, die Liste ganz oder teilweise benutzen, und
er darf den Namen dessen, den er vorzugsweise gewählt zu sehen wünscht, den
übrigen voranstellen. Die Wahlkommissionen berichten die Resultate ihrer Be¬
zirke an die Centralwahlkommissiou. Diese dividirt die Zahl sämmtlicher ab¬
gegebenen Stimmen dnrch die Zahl der Sitze im Parlamente. Jeder, der auf
deu Wahlzettelu genannte", welcher die Durchschnittszahl erreicht hat, gilt sür
gewählt. Da jede Partei Koryphäen vorangestellt hat, so muß jede Partei, die
groß genug ist, um die Durchschnittszahl zusammenzubringen, eine verhältnis¬
mäßige Vertretung finden; denn der am meisten an erster Stelle auf deu Wahl¬
zettelu genannte geht den später genannten vor. Wenn also 25 Abgeordnete
zu wählen und 500 000 Stimmen abgegeben worden sind, so beträgt die zur
Wahl erforderliche Durchschnittszahl 20 000. Jeder, welcher auf 20 000 Wahl¬
zettelu die erste Stimme erhalten hat, ist gewählt, darauf folgen die an zweiter,
dritter Stelle und weiterhin angeführten."

In Frankreich galt von 1871 bis 1875 ein Wahlgesetz, welches in der
Hauptsache auf das Haresche System gegründet war. Es beschränkte die "Listen¬
wahl" ("orutln as ufte) auf die Departements, so daß jedes Departement die
sämmtlichen in ihm abgegebenen Stimmen zusammenzählte und sie dein betreffenden
Kandidaten anrechnete. Der Versuch der Partei Gambcttas, dieses Verfahren
wieder zur Geltung zu bringe", hat bekanntlich im vorigen Jahre zu leiden¬
schaftliche" Debatten in beiden Häusern des französischen Parlaments geführt und



*) ?r<>all8o n" ddo olvotion ok roproscmtation. Komlon, I87S.

folgenden Gesichtspunkten ausgeht^) Das allgemeine Wahlrecht soll im Parlamente
den Ausdruck des Willens aller darstellen. In Wirklichkeit liefert es nur eine Ma¬
jorität der Volksvertretung, die möglicherweise nichts weiter als die Minorität
sämmtlicher Staatsbürger vertritt. Denken wir uns den Fall, daß in einem
Wahlkreise von 20 000 Wählern 11 000 konservativ, liberal oder indifferent und
nur 9000 radikale Demokraten sind, daß letztre aber durch Rührigkeit lind Ge¬
schick 2000 Stimmen der indifferenten für ihren Kandidaten gewinnen, so ist
die politische Gesinnung dieses Wahlkreises im Parlamente gar nicht vertreten.
Wiederholt sich das in vielen Wahlkreisen, so kann mehr als die Hälfte der
Nation im Reichstage ohne Repräsentanten ihrer Ansichten und Wünsche sein.
So hat Hare ein System erdacht, welches Robert v. Mohl mit dem El des
Kolumbus verglichen hat. Dasselbe beruht im wesentlichen darauf, daß der
Wähler mehrere Namen ans seinen Wahlzettel schreiben darf, und daß die in
einer gewissen Anzahl von Wahlkreisen abgegebenen Stimmen addirt werden.
Der Vorgang würde in einem Lande, welches 25 Abgeordnete zu wählen hätte,
etwa folgender sein. „Zur Vorbereitung treten die Landeskvmitees der ver¬
schiedenen Parteien zusammen, um für jede der letztern eine Liste von 25 Kan¬
didaten zu entwerfen und ihr unter den Parteigenossen möglichst weite Verbrei-
tung zu gebe». Der Wähler kam, die Liste ganz oder teilweise benutzen, und
er darf den Namen dessen, den er vorzugsweise gewählt zu sehen wünscht, den
übrigen voranstellen. Die Wahlkommissionen berichten die Resultate ihrer Be¬
zirke an die Centralwahlkommissiou. Diese dividirt die Zahl sämmtlicher ab¬
gegebenen Stimmen dnrch die Zahl der Sitze im Parlamente. Jeder, der auf
deu Wahlzettelu genannte», welcher die Durchschnittszahl erreicht hat, gilt sür
gewählt. Da jede Partei Koryphäen vorangestellt hat, so muß jede Partei, die
groß genug ist, um die Durchschnittszahl zusammenzubringen, eine verhältnis¬
mäßige Vertretung finden; denn der am meisten an erster Stelle auf deu Wahl¬
zettelu genannte geht den später genannten vor. Wenn also 25 Abgeordnete
zu wählen und 500 000 Stimmen abgegeben worden sind, so beträgt die zur
Wahl erforderliche Durchschnittszahl 20 000. Jeder, welcher auf 20 000 Wahl¬
zettelu die erste Stimme erhalten hat, ist gewählt, darauf folgen die an zweiter,
dritter Stelle und weiterhin angeführten."

In Frankreich galt von 1871 bis 1875 ein Wahlgesetz, welches in der
Hauptsache auf das Haresche System gegründet war. Es beschränkte die „Listen¬
wahl" («orutln as ufte) auf die Departements, so daß jedes Departement die
sämmtlichen in ihm abgegebenen Stimmen zusammenzählte und sie dein betreffenden
Kandidaten anrechnete. Der Versuch der Partei Gambcttas, dieses Verfahren
wieder zur Geltung zu bringe», hat bekanntlich im vorigen Jahre zu leiden¬
schaftliche» Debatten in beiden Häusern des französischen Parlaments geführt und



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/72>, abgerufen am 01.07.2024.