Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Wahlrecht.

ist schließlich verworfen worden, aber nur mit Rücksicht darauf, daß zu befürchten
stand, durch die Ergebnisse dieser Wahlart werde das Streben nach der Diktatur
Gambetta wesentlich erleichtert werden.

Für Deutschland würde dieses System bedeutende Vorteile haben. Die¬
selben würden dabei bestehen, daß auch den Minoritäten die entsprechende Ver¬
tretung zuteil würde, da die in dem einen Wahlkreise unterliegenden Stimmen den
in dem anderen abgegebenen zugezählt werden. "Niemand, sagt der "alte Abgeord¬
nete", wird so durch einen Abgeordneten vertreten, welchem er seine Stimme uicht ge¬
geben hat. Die Stimmen der städtischen Gewerbetreibenden, welche jetzt nur deswegen
sür ihre Partei nicht stimmen, weil deren Kandidat ein Grundbesitzer ist, würden nicht
verloren gehen. Der Lokal- und Kirchthurmspatrivtismus würde ferner nicht ma߬
gebend und entscheidend sein. Die nüttelmäßigen Dorfkapazitäten würden dem allge¬
mein anerkannten Verdienste weichen müssen, die wirklichen Kapazitäteil würden die
Stimmen der Verständigen im ganzen Lande auf sich vereinigen, die sie in einem
Lokalbezirke den lokalen Parteigetrieben, dem persönlichen Neid und andern klein¬
lichen Leidenschaften gegenüber nie erlangen könnten. Der Wähler wäre nicht
gezwungen, seine Stimme dem ganz unfähigen Lokalparteimanne zu geben oder
sie ganz verloren gehen zu lassen. Die so gewählte Versammlung würde eine
weit größere Zahl wirklich fähiger und bedeutender Männer zeigen, als die nach
dem Lokalprinzip gewählte. Die Stellung der Abgeordneten selbst würde eine
würdigere und freiere werden." Während der Wähler bei den Lokalwahlen seinen
Abgeordneten häufig als Mandatar betrachtet, der ihm seine Stimme zu danken,
der möglichste Rücksicht auf persönliche Wünsche seiner Mandatgeber zu nehmen
hat, würde der uach dein Listensystem gewählte Abgeordnete imstande sein, ohne
alle Beachtung solcher Wünsche nur seiner Ueberzeugung nach zu reden und
zu poliren. Er wäre, frei von allem Egoismus, wirklich Vertreter der Nation.

Man wird endlich zugeben müssen, daß das Listensystem insofern eine wirkliche
Verbesserung des allgemeinen Wahlrechts ist, als es die genaueste Photographie
der Majoritäten und Minoritäten giebt und die öffentliche Meinung klarer
und deutlicher zum Ausdruck bringt als das Bezirks- oder Lokalsystem. Es läßt
nur eins zu wünschen übrig, es wirkt mehr auf die Zusammensetzung der parla¬
mentarischen Körperschaften als auf die Wählenden, also auf die Masse des Volkes.
Die öffentliche Meinung wird, soweit sie nicht in dem einfachen Satze besteht:
"Ich möchte mich materiell möglichst wohl befinden," anch nnter dem Hareschen
System von den Agitatoren der Parteien und der Presse, den Volksrednern und
dem Beichtstuhle gemacht. Eine öffentliche Meinung oder, wie Bismarck sich
einmal ausdrückte, ein Gesammtgefühl des Volkes ist, da die Zahl der selbstdenkenden
allenthalben klein ist, nirgends eher vorhanden, als bis es durch den Blasebalg
der Presse oder andere Agitationswerkzeuge in die Masse hineingetrieben worden
ist. Jede öffentliche Meinung ist somit ein Kunstprodukt, jede Wahl in ge¬
wissem Sinne eine indirekte; denn nicht die Menge wählt, souderu der Agitator.


Gu-nzbvton I. 1332. 9
Das Wahlrecht.

ist schließlich verworfen worden, aber nur mit Rücksicht darauf, daß zu befürchten
stand, durch die Ergebnisse dieser Wahlart werde das Streben nach der Diktatur
Gambetta wesentlich erleichtert werden.

Für Deutschland würde dieses System bedeutende Vorteile haben. Die¬
selben würden dabei bestehen, daß auch den Minoritäten die entsprechende Ver¬
tretung zuteil würde, da die in dem einen Wahlkreise unterliegenden Stimmen den
in dem anderen abgegebenen zugezählt werden. „Niemand, sagt der »alte Abgeord¬
nete«, wird so durch einen Abgeordneten vertreten, welchem er seine Stimme uicht ge¬
geben hat. Die Stimmen der städtischen Gewerbetreibenden, welche jetzt nur deswegen
sür ihre Partei nicht stimmen, weil deren Kandidat ein Grundbesitzer ist, würden nicht
verloren gehen. Der Lokal- und Kirchthurmspatrivtismus würde ferner nicht ma߬
gebend und entscheidend sein. Die nüttelmäßigen Dorfkapazitäten würden dem allge¬
mein anerkannten Verdienste weichen müssen, die wirklichen Kapazitäteil würden die
Stimmen der Verständigen im ganzen Lande auf sich vereinigen, die sie in einem
Lokalbezirke den lokalen Parteigetrieben, dem persönlichen Neid und andern klein¬
lichen Leidenschaften gegenüber nie erlangen könnten. Der Wähler wäre nicht
gezwungen, seine Stimme dem ganz unfähigen Lokalparteimanne zu geben oder
sie ganz verloren gehen zu lassen. Die so gewählte Versammlung würde eine
weit größere Zahl wirklich fähiger und bedeutender Männer zeigen, als die nach
dem Lokalprinzip gewählte. Die Stellung der Abgeordneten selbst würde eine
würdigere und freiere werden." Während der Wähler bei den Lokalwahlen seinen
Abgeordneten häufig als Mandatar betrachtet, der ihm seine Stimme zu danken,
der möglichste Rücksicht auf persönliche Wünsche seiner Mandatgeber zu nehmen
hat, würde der uach dein Listensystem gewählte Abgeordnete imstande sein, ohne
alle Beachtung solcher Wünsche nur seiner Ueberzeugung nach zu reden und
zu poliren. Er wäre, frei von allem Egoismus, wirklich Vertreter der Nation.

Man wird endlich zugeben müssen, daß das Listensystem insofern eine wirkliche
Verbesserung des allgemeinen Wahlrechts ist, als es die genaueste Photographie
der Majoritäten und Minoritäten giebt und die öffentliche Meinung klarer
und deutlicher zum Ausdruck bringt als das Bezirks- oder Lokalsystem. Es läßt
nur eins zu wünschen übrig, es wirkt mehr auf die Zusammensetzung der parla¬
mentarischen Körperschaften als auf die Wählenden, also auf die Masse des Volkes.
Die öffentliche Meinung wird, soweit sie nicht in dem einfachen Satze besteht:
„Ich möchte mich materiell möglichst wohl befinden," anch nnter dem Hareschen
System von den Agitatoren der Parteien und der Presse, den Volksrednern und
dem Beichtstuhle gemacht. Eine öffentliche Meinung oder, wie Bismarck sich
einmal ausdrückte, ein Gesammtgefühl des Volkes ist, da die Zahl der selbstdenkenden
allenthalben klein ist, nirgends eher vorhanden, als bis es durch den Blasebalg
der Presse oder andere Agitationswerkzeuge in die Masse hineingetrieben worden
ist. Jede öffentliche Meinung ist somit ein Kunstprodukt, jede Wahl in ge¬
wissem Sinne eine indirekte; denn nicht die Menge wählt, souderu der Agitator.


Gu-nzbvton I. 1332. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0073" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86194"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Wahlrecht.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_255" prev="#ID_254"> ist schließlich verworfen worden, aber nur mit Rücksicht darauf, daß zu befürchten<lb/>
stand, durch die Ergebnisse dieser Wahlart werde das Streben nach der Diktatur<lb/>
Gambetta wesentlich erleichtert werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_256"> Für Deutschland würde dieses System bedeutende Vorteile haben. Die¬<lb/>
selben würden dabei bestehen, daß auch den Minoritäten die entsprechende Ver¬<lb/>
tretung zuteil würde, da die in dem einen Wahlkreise unterliegenden Stimmen den<lb/>
in dem anderen abgegebenen zugezählt werden. &#x201E;Niemand, sagt der »alte Abgeord¬<lb/>
nete«, wird so durch einen Abgeordneten vertreten, welchem er seine Stimme uicht ge¬<lb/>
geben hat. Die Stimmen der städtischen Gewerbetreibenden, welche jetzt nur deswegen<lb/>
sür ihre Partei nicht stimmen, weil deren Kandidat ein Grundbesitzer ist, würden nicht<lb/>
verloren gehen. Der Lokal- und Kirchthurmspatrivtismus würde ferner nicht ma߬<lb/>
gebend und entscheidend sein. Die nüttelmäßigen Dorfkapazitäten würden dem allge¬<lb/>
mein anerkannten Verdienste weichen müssen, die wirklichen Kapazitäteil würden die<lb/>
Stimmen der Verständigen im ganzen Lande auf sich vereinigen, die sie in einem<lb/>
Lokalbezirke den lokalen Parteigetrieben, dem persönlichen Neid und andern klein¬<lb/>
lichen Leidenschaften gegenüber nie erlangen könnten. Der Wähler wäre nicht<lb/>
gezwungen, seine Stimme dem ganz unfähigen Lokalparteimanne zu geben oder<lb/>
sie ganz verloren gehen zu lassen. Die so gewählte Versammlung würde eine<lb/>
weit größere Zahl wirklich fähiger und bedeutender Männer zeigen, als die nach<lb/>
dem Lokalprinzip gewählte. Die Stellung der Abgeordneten selbst würde eine<lb/>
würdigere und freiere werden." Während der Wähler bei den Lokalwahlen seinen<lb/>
Abgeordneten häufig als Mandatar betrachtet, der ihm seine Stimme zu danken,<lb/>
der möglichste Rücksicht auf persönliche Wünsche seiner Mandatgeber zu nehmen<lb/>
hat, würde der uach dein Listensystem gewählte Abgeordnete imstande sein, ohne<lb/>
alle Beachtung solcher Wünsche nur seiner Ueberzeugung nach zu reden und<lb/>
zu poliren. Er wäre, frei von allem Egoismus, wirklich Vertreter der Nation.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_257" next="#ID_258"> Man wird endlich zugeben müssen, daß das Listensystem insofern eine wirkliche<lb/>
Verbesserung des allgemeinen Wahlrechts ist, als es die genaueste Photographie<lb/>
der Majoritäten und Minoritäten giebt und die öffentliche Meinung klarer<lb/>
und deutlicher zum Ausdruck bringt als das Bezirks- oder Lokalsystem. Es läßt<lb/>
nur eins zu wünschen übrig, es wirkt mehr auf die Zusammensetzung der parla¬<lb/>
mentarischen Körperschaften als auf die Wählenden, also auf die Masse des Volkes.<lb/>
Die öffentliche Meinung wird, soweit sie nicht in dem einfachen Satze besteht:<lb/>
&#x201E;Ich möchte mich materiell möglichst wohl befinden," anch nnter dem Hareschen<lb/>
System von den Agitatoren der Parteien und der Presse, den Volksrednern und<lb/>
dem Beichtstuhle gemacht. Eine öffentliche Meinung oder, wie Bismarck sich<lb/>
einmal ausdrückte, ein Gesammtgefühl des Volkes ist, da die Zahl der selbstdenkenden<lb/>
allenthalben klein ist, nirgends eher vorhanden, als bis es durch den Blasebalg<lb/>
der Presse oder andere Agitationswerkzeuge in die Masse hineingetrieben worden<lb/>
ist. Jede öffentliche Meinung ist somit ein Kunstprodukt, jede Wahl in ge¬<lb/>
wissem Sinne eine indirekte; denn nicht die Menge wählt, souderu der Agitator.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gu-nzbvton I. 1332. 9</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0073] Das Wahlrecht. ist schließlich verworfen worden, aber nur mit Rücksicht darauf, daß zu befürchten stand, durch die Ergebnisse dieser Wahlart werde das Streben nach der Diktatur Gambetta wesentlich erleichtert werden. Für Deutschland würde dieses System bedeutende Vorteile haben. Die¬ selben würden dabei bestehen, daß auch den Minoritäten die entsprechende Ver¬ tretung zuteil würde, da die in dem einen Wahlkreise unterliegenden Stimmen den in dem anderen abgegebenen zugezählt werden. „Niemand, sagt der »alte Abgeord¬ nete«, wird so durch einen Abgeordneten vertreten, welchem er seine Stimme uicht ge¬ geben hat. Die Stimmen der städtischen Gewerbetreibenden, welche jetzt nur deswegen sür ihre Partei nicht stimmen, weil deren Kandidat ein Grundbesitzer ist, würden nicht verloren gehen. Der Lokal- und Kirchthurmspatrivtismus würde ferner nicht ma߬ gebend und entscheidend sein. Die nüttelmäßigen Dorfkapazitäten würden dem allge¬ mein anerkannten Verdienste weichen müssen, die wirklichen Kapazitäteil würden die Stimmen der Verständigen im ganzen Lande auf sich vereinigen, die sie in einem Lokalbezirke den lokalen Parteigetrieben, dem persönlichen Neid und andern klein¬ lichen Leidenschaften gegenüber nie erlangen könnten. Der Wähler wäre nicht gezwungen, seine Stimme dem ganz unfähigen Lokalparteimanne zu geben oder sie ganz verloren gehen zu lassen. Die so gewählte Versammlung würde eine weit größere Zahl wirklich fähiger und bedeutender Männer zeigen, als die nach dem Lokalprinzip gewählte. Die Stellung der Abgeordneten selbst würde eine würdigere und freiere werden." Während der Wähler bei den Lokalwahlen seinen Abgeordneten häufig als Mandatar betrachtet, der ihm seine Stimme zu danken, der möglichste Rücksicht auf persönliche Wünsche seiner Mandatgeber zu nehmen hat, würde der uach dein Listensystem gewählte Abgeordnete imstande sein, ohne alle Beachtung solcher Wünsche nur seiner Ueberzeugung nach zu reden und zu poliren. Er wäre, frei von allem Egoismus, wirklich Vertreter der Nation. Man wird endlich zugeben müssen, daß das Listensystem insofern eine wirkliche Verbesserung des allgemeinen Wahlrechts ist, als es die genaueste Photographie der Majoritäten und Minoritäten giebt und die öffentliche Meinung klarer und deutlicher zum Ausdruck bringt als das Bezirks- oder Lokalsystem. Es läßt nur eins zu wünschen übrig, es wirkt mehr auf die Zusammensetzung der parla¬ mentarischen Körperschaften als auf die Wählenden, also auf die Masse des Volkes. Die öffentliche Meinung wird, soweit sie nicht in dem einfachen Satze besteht: „Ich möchte mich materiell möglichst wohl befinden," anch nnter dem Hareschen System von den Agitatoren der Parteien und der Presse, den Volksrednern und dem Beichtstuhle gemacht. Eine öffentliche Meinung oder, wie Bismarck sich einmal ausdrückte, ein Gesammtgefühl des Volkes ist, da die Zahl der selbstdenkenden allenthalben klein ist, nirgends eher vorhanden, als bis es durch den Blasebalg der Presse oder andere Agitationswerkzeuge in die Masse hineingetrieben worden ist. Jede öffentliche Meinung ist somit ein Kunstprodukt, jede Wahl in ge¬ wissem Sinne eine indirekte; denn nicht die Menge wählt, souderu der Agitator. Gu-nzbvton I. 1332. 9

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/73
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/73>, abgerufen am 01.07.2024.