Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

und Gelehrten müßte ferner die Gemeinde als unterste Stufe der Staatspyra¬
mide herangezogen werden. "Die Gemeindevertreter werden, dafern nur die
Bürgerschaft in rechter Wahrung ihrer eignen Interessen wählt, die dnrch das
bewußte und begründete Vertrauen sämmtlicher Gemeindeglieder gewählten Männer
sein. Sollte nicht ein großer Teil der Gemeindewähler geneigt sein, den von
ihm gewählten Gemeindevertretern auch die Besorgung der Land- und Reichs¬
tagswahlen anzuvertrauen? ... Die Zahl der Vertreter jeder einzelnen Be¬
rufsgenossenschaft würde sich auf Grund der Statistik bestimme" lassen. Das
Listeuskrutinium würde für diese Wahlen die geeignetste Form sein."

Nach dem Plane des Verfassers würde das allgemeine Wahlrecht unbe¬
schränkt fortbestehen, "sofern jeder stimmberechtigte sein Wahlrecht als Glied
einer Vernfsgenossenschaft behielte. Der ans diese Weise stimmberechtigte würde
aber noch eine zweite Stimme abgeben können, wenn er zu deu Gemeinde-
Wahlen stimmberechtigt wäre. Ein Industrieller, welcher zugleich Grundbesitzer
und Gcmeindebürger wäre, könnte sein Wahlrecht mehrfach ausüben, je nachdem
seine persönlichen Interessen bei dem Interesse des Staatsganzen in mehrfacher
Richtung in Frage kämen. Ein solches mehrfaches Wahlrecht würde der Be¬
deutung des Wählers für den Staat nur angemessen sein. Der Reichstag würde
durch dieses organische Wahlsystem eine veränderte Gestalt erhalten. Der Hälfte
der Abgeordneten, durch das direkte allgemeine Stimmrecht von ihren Berufs-
".enossen gewählt, würde in erster Linie als Aufgabe zufallen, als Sachverstän¬
dige in Sachen ihres Berufes zu wirken, die Bedeutung desselben für den Staat
und die Allgemeinheit darzustellen und den Weg anzudeuten, wie die Interessen
ihres Berufs mit denen der Allgemeinheit in Einklang zu bringen seien. . . .
Die andre Hälfte der Abgeordneten, hervorgegangen aus der Wahl des untersten
Glieds des Staatsorganismus, aus der Wahl der Vertrauensmänner der Ge¬
meinde, würde sich in einer weit günstigeren Lage befinden als gegenwärtig die
Reichstagslnitglieder. Gegenwärtig soll ein Reichstagsabgeordneter alles ver¬
stehen. . . . Aber diese scheinbare Allwissenheit genügt noch nicht, er muß auch
die innersten Spezialinteressen des ihm in Wahrheit völlig fremden Gegenstandes
in die Schablone seiner Parteigrundsätze einpassen. . . . Alle diese Sorgen
würden verschwinden, und die Parteien, von der Angst befreit, dnrch Rücksichten
auf die materiellen Interessen der Wähler gesprengt zu werden, würden ganz
den idealen Gruudsützeu der höheren Politik folgen können."

Hinsichtlich der Motivirung dieser Vorschläge verweisen wir auf die Schrift
selbst. Manches von den Gedanken des Verfassers läßt sich sehr wohl hören,
im ganzen freilich erscheint sein Plan zu komplizirt, auch glauben wir uicht,
daß mit seiner Modifikation des jetzt Bestehenden den oben angeführten
üblen Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts gründlich vorgebeugt werden
könnte.

Praktischer scheint ein Vorschlag des Engländers Thomas Hare. der von


und Gelehrten müßte ferner die Gemeinde als unterste Stufe der Staatspyra¬
mide herangezogen werden. „Die Gemeindevertreter werden, dafern nur die
Bürgerschaft in rechter Wahrung ihrer eignen Interessen wählt, die dnrch das
bewußte und begründete Vertrauen sämmtlicher Gemeindeglieder gewählten Männer
sein. Sollte nicht ein großer Teil der Gemeindewähler geneigt sein, den von
ihm gewählten Gemeindevertretern auch die Besorgung der Land- und Reichs¬
tagswahlen anzuvertrauen? ... Die Zahl der Vertreter jeder einzelnen Be¬
rufsgenossenschaft würde sich auf Grund der Statistik bestimme» lassen. Das
Listeuskrutinium würde für diese Wahlen die geeignetste Form sein."

Nach dem Plane des Verfassers würde das allgemeine Wahlrecht unbe¬
schränkt fortbestehen, „sofern jeder stimmberechtigte sein Wahlrecht als Glied
einer Vernfsgenossenschaft behielte. Der ans diese Weise stimmberechtigte würde
aber noch eine zweite Stimme abgeben können, wenn er zu deu Gemeinde-
Wahlen stimmberechtigt wäre. Ein Industrieller, welcher zugleich Grundbesitzer
und Gcmeindebürger wäre, könnte sein Wahlrecht mehrfach ausüben, je nachdem
seine persönlichen Interessen bei dem Interesse des Staatsganzen in mehrfacher
Richtung in Frage kämen. Ein solches mehrfaches Wahlrecht würde der Be¬
deutung des Wählers für den Staat nur angemessen sein. Der Reichstag würde
durch dieses organische Wahlsystem eine veränderte Gestalt erhalten. Der Hälfte
der Abgeordneten, durch das direkte allgemeine Stimmrecht von ihren Berufs-
«.enossen gewählt, würde in erster Linie als Aufgabe zufallen, als Sachverstän¬
dige in Sachen ihres Berufes zu wirken, die Bedeutung desselben für den Staat
und die Allgemeinheit darzustellen und den Weg anzudeuten, wie die Interessen
ihres Berufs mit denen der Allgemeinheit in Einklang zu bringen seien. . . .
Die andre Hälfte der Abgeordneten, hervorgegangen aus der Wahl des untersten
Glieds des Staatsorganismus, aus der Wahl der Vertrauensmänner der Ge¬
meinde, würde sich in einer weit günstigeren Lage befinden als gegenwärtig die
Reichstagslnitglieder. Gegenwärtig soll ein Reichstagsabgeordneter alles ver¬
stehen. . . . Aber diese scheinbare Allwissenheit genügt noch nicht, er muß auch
die innersten Spezialinteressen des ihm in Wahrheit völlig fremden Gegenstandes
in die Schablone seiner Parteigrundsätze einpassen. . . . Alle diese Sorgen
würden verschwinden, und die Parteien, von der Angst befreit, dnrch Rücksichten
auf die materiellen Interessen der Wähler gesprengt zu werden, würden ganz
den idealen Gruudsützeu der höheren Politik folgen können."

Hinsichtlich der Motivirung dieser Vorschläge verweisen wir auf die Schrift
selbst. Manches von den Gedanken des Verfassers läßt sich sehr wohl hören,
im ganzen freilich erscheint sein Plan zu komplizirt, auch glauben wir uicht,
daß mit seiner Modifikation des jetzt Bestehenden den oben angeführten
üblen Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts gründlich vorgebeugt werden
könnte.

Praktischer scheint ein Vorschlag des Engländers Thomas Hare. der von


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0071" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86192"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_249" prev="#ID_248"> und Gelehrten müßte ferner die Gemeinde als unterste Stufe der Staatspyra¬<lb/>
mide herangezogen werden. &#x201E;Die Gemeindevertreter werden, dafern nur die<lb/>
Bürgerschaft in rechter Wahrung ihrer eignen Interessen wählt, die dnrch das<lb/>
bewußte und begründete Vertrauen sämmtlicher Gemeindeglieder gewählten Männer<lb/>
sein. Sollte nicht ein großer Teil der Gemeindewähler geneigt sein, den von<lb/>
ihm gewählten Gemeindevertretern auch die Besorgung der Land- und Reichs¬<lb/>
tagswahlen anzuvertrauen? ... Die Zahl der Vertreter jeder einzelnen Be¬<lb/>
rufsgenossenschaft würde sich auf Grund der Statistik bestimme» lassen. Das<lb/>
Listeuskrutinium würde für diese Wahlen die geeignetste Form sein."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_250"> Nach dem Plane des Verfassers würde das allgemeine Wahlrecht unbe¬<lb/>
schränkt fortbestehen, &#x201E;sofern jeder stimmberechtigte sein Wahlrecht als Glied<lb/>
einer Vernfsgenossenschaft behielte. Der ans diese Weise stimmberechtigte würde<lb/>
aber noch eine zweite Stimme abgeben können, wenn er zu deu Gemeinde-<lb/>
Wahlen stimmberechtigt wäre. Ein Industrieller, welcher zugleich Grundbesitzer<lb/>
und Gcmeindebürger wäre, könnte sein Wahlrecht mehrfach ausüben, je nachdem<lb/>
seine persönlichen Interessen bei dem Interesse des Staatsganzen in mehrfacher<lb/>
Richtung in Frage kämen. Ein solches mehrfaches Wahlrecht würde der Be¬<lb/>
deutung des Wählers für den Staat nur angemessen sein. Der Reichstag würde<lb/>
durch dieses organische Wahlsystem eine veränderte Gestalt erhalten. Der Hälfte<lb/>
der Abgeordneten, durch das direkte allgemeine Stimmrecht von ihren Berufs-<lb/>
«.enossen gewählt, würde in erster Linie als Aufgabe zufallen, als Sachverstän¬<lb/>
dige in Sachen ihres Berufes zu wirken, die Bedeutung desselben für den Staat<lb/>
und die Allgemeinheit darzustellen und den Weg anzudeuten, wie die Interessen<lb/>
ihres Berufs mit denen der Allgemeinheit in Einklang zu bringen seien. . . .<lb/>
Die andre Hälfte der Abgeordneten, hervorgegangen aus der Wahl des untersten<lb/>
Glieds des Staatsorganismus, aus der Wahl der Vertrauensmänner der Ge¬<lb/>
meinde, würde sich in einer weit günstigeren Lage befinden als gegenwärtig die<lb/>
Reichstagslnitglieder. Gegenwärtig soll ein Reichstagsabgeordneter alles ver¬<lb/>
stehen. . . . Aber diese scheinbare Allwissenheit genügt noch nicht, er muß auch<lb/>
die innersten Spezialinteressen des ihm in Wahrheit völlig fremden Gegenstandes<lb/>
in die Schablone seiner Parteigrundsätze einpassen. . . . Alle diese Sorgen<lb/>
würden verschwinden, und die Parteien, von der Angst befreit, dnrch Rücksichten<lb/>
auf die materiellen Interessen der Wähler gesprengt zu werden, würden ganz<lb/>
den idealen Gruudsützeu der höheren Politik folgen können."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_251"> Hinsichtlich der Motivirung dieser Vorschläge verweisen wir auf die Schrift<lb/>
selbst. Manches von den Gedanken des Verfassers läßt sich sehr wohl hören,<lb/>
im ganzen freilich erscheint sein Plan zu komplizirt, auch glauben wir uicht,<lb/>
daß mit seiner Modifikation des jetzt Bestehenden den oben angeführten<lb/>
üblen Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts gründlich vorgebeugt werden<lb/>
könnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_252" next="#ID_253"> Praktischer scheint ein Vorschlag des Engländers Thomas Hare. der von</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0071] und Gelehrten müßte ferner die Gemeinde als unterste Stufe der Staatspyra¬ mide herangezogen werden. „Die Gemeindevertreter werden, dafern nur die Bürgerschaft in rechter Wahrung ihrer eignen Interessen wählt, die dnrch das bewußte und begründete Vertrauen sämmtlicher Gemeindeglieder gewählten Männer sein. Sollte nicht ein großer Teil der Gemeindewähler geneigt sein, den von ihm gewählten Gemeindevertretern auch die Besorgung der Land- und Reichs¬ tagswahlen anzuvertrauen? ... Die Zahl der Vertreter jeder einzelnen Be¬ rufsgenossenschaft würde sich auf Grund der Statistik bestimme» lassen. Das Listeuskrutinium würde für diese Wahlen die geeignetste Form sein." Nach dem Plane des Verfassers würde das allgemeine Wahlrecht unbe¬ schränkt fortbestehen, „sofern jeder stimmberechtigte sein Wahlrecht als Glied einer Vernfsgenossenschaft behielte. Der ans diese Weise stimmberechtigte würde aber noch eine zweite Stimme abgeben können, wenn er zu deu Gemeinde- Wahlen stimmberechtigt wäre. Ein Industrieller, welcher zugleich Grundbesitzer und Gcmeindebürger wäre, könnte sein Wahlrecht mehrfach ausüben, je nachdem seine persönlichen Interessen bei dem Interesse des Staatsganzen in mehrfacher Richtung in Frage kämen. Ein solches mehrfaches Wahlrecht würde der Be¬ deutung des Wählers für den Staat nur angemessen sein. Der Reichstag würde durch dieses organische Wahlsystem eine veränderte Gestalt erhalten. Der Hälfte der Abgeordneten, durch das direkte allgemeine Stimmrecht von ihren Berufs- «.enossen gewählt, würde in erster Linie als Aufgabe zufallen, als Sachverstän¬ dige in Sachen ihres Berufes zu wirken, die Bedeutung desselben für den Staat und die Allgemeinheit darzustellen und den Weg anzudeuten, wie die Interessen ihres Berufs mit denen der Allgemeinheit in Einklang zu bringen seien. . . . Die andre Hälfte der Abgeordneten, hervorgegangen aus der Wahl des untersten Glieds des Staatsorganismus, aus der Wahl der Vertrauensmänner der Ge¬ meinde, würde sich in einer weit günstigeren Lage befinden als gegenwärtig die Reichstagslnitglieder. Gegenwärtig soll ein Reichstagsabgeordneter alles ver¬ stehen. . . . Aber diese scheinbare Allwissenheit genügt noch nicht, er muß auch die innersten Spezialinteressen des ihm in Wahrheit völlig fremden Gegenstandes in die Schablone seiner Parteigrundsätze einpassen. . . . Alle diese Sorgen würden verschwinden, und die Parteien, von der Angst befreit, dnrch Rücksichten auf die materiellen Interessen der Wähler gesprengt zu werden, würden ganz den idealen Gruudsützeu der höheren Politik folgen können." Hinsichtlich der Motivirung dieser Vorschläge verweisen wir auf die Schrift selbst. Manches von den Gedanken des Verfassers läßt sich sehr wohl hören, im ganzen freilich erscheint sein Plan zu komplizirt, auch glauben wir uicht, daß mit seiner Modifikation des jetzt Bestehenden den oben angeführten üblen Wirkungen des allgemeinen Wahlrechts gründlich vorgebeugt werden könnte. Praktischer scheint ein Vorschlag des Engländers Thomas Hare. der von

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/71
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/71>, abgerufen am 01.07.2024.