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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Das Wahlrecht,

als alle gewaltige" Reden, Antrüge und Schachzüge mächtiger Fraktionen: die
fortgesetzte Unterminirnng der innern Gesinnung, die Verwirrung der politischen,
kirchlichen und sozialen Begriffe des ganzen Volkes, die langsame und indirekte,
aller zweifellose Revolutionirung der Massen durch die Agitation, und das ist
die hauptsächlichste Wirkung unseres jetzigen Wahlsystems."

Nach der Aufregung des Wahlkampfes tritt allerdings Ruhe ein, aber die
von den Agitatoren gestreute Saat von pomphaften Phrasen, von Schmeicheleien,
von Hoffnungen erhält sich, geht auf und überwuchert die den Wählern durch Natur
lind Erziehung eingepflanzten Vorstellungen von Pflicht und Recht, Sitte und
Ehre in bedenklichster Weise. War der ehrsame Bürger bisher der Meinung,
daß jedem Rechte eine Pflicht entsprechen müsse, so erfährt er jetzt, daß das
Wahlgesetz für die Ausübung des wichtigsten politischen Rechts nichts weiter
verlangt, als daß er keine Frau sei, daß er fünfundzwanzig Jahre alt sei und
daß er nicht ins Zuchthaus gehöre oder gehört habe. Der Agitator stellt ihm
die Wichtigkeit seiner Person als Wähler vor und sagt ihm, daß er Mitinhaber
der Volkssouveränetät sei, daß er berufen sei, über das Wohl der Nation in¬
direkt mitzuentscheiden. Kann ich das, sagte er sich dann leicht, habe ich so viel
politische Macht als der Herr Pastor oder der Herr Baron, so sollte ich auch
so essen, so wohnen, mich so kleiden wie diese, und so ist er in Gefahr, vom
politischen Kommunismus zum wirtschaftlichen zu gelangen. Jedenfalls wird
durch das allgemeine Wahlrecht der Keim des schädlichsten Größenwahns in Tau¬
sende von Gemütern gelegt. Dem Rausche folgt nach den Wahlen die Ernüch¬
terung, die Enttäuschung und das Mißbehagen darüber, daß die bescheidne wirt¬
schaftliche Lage des Wählers aus unbemittelter Klasse seiner vom Agitator
gerühmten politischen Bedeutung nicht entspricht. Daraus entwickelt sich Neid
gegenüber den besser sitnirteu Klassen der Gesellschaft, und damit verbindet sich
der Gedanke, daß es anders werden, daß die wirtschaftliche Ungleichheit aufge¬
hoben werden müsse wie die politische, entweder dnrch gesetzliche Umgestaltung
oder durch gewaltsamen Umsturz des Bestehenden.

"Wissen Sie etwas besseres?" fragte 1867 der Reichskanzler. Der Ver¬
fasser unsrer Schrift glaubt das bejahen zu können. Er raisonnirt etwa fol¬
gendermaßen. Der zivilisirte Mensch wird vor allem von dem Streben nach wirt¬
schaftlichem Wohlstand beseelt. Alle idealen Richtungen des Staatslebens, Freiheit,
Ordnung haben für ihn nur insofern Bedeutung, als er dadurch sein wirt¬
schaftliches Wohlbefinden gefördert, seine gesellschaftliche Stellung gesichert zu
sehen hofft. Jenem Streben dienen unsre Parteien und Fraktionen mit ihren
politischen Programmen nicht. Es bedarf dazu einer Vertretung der materiellen
Interessen, und diese wird am besten dnrch die Bildung von Organen aus Leuten,
gleicher Lage im Reiche, gleichen Berufs- und Lebenszieles geschaffen. Neben
einer aus Berufsgenossenschaften hervorgehenden Vertretung der Arbeiter, der
Handwerker, des Handels und der Großindustrie, der Landwirtschaft, der Künstler


Das Wahlrecht,

als alle gewaltige» Reden, Antrüge und Schachzüge mächtiger Fraktionen: die
fortgesetzte Unterminirnng der innern Gesinnung, die Verwirrung der politischen,
kirchlichen und sozialen Begriffe des ganzen Volkes, die langsame und indirekte,
aller zweifellose Revolutionirung der Massen durch die Agitation, und das ist
die hauptsächlichste Wirkung unseres jetzigen Wahlsystems."

Nach der Aufregung des Wahlkampfes tritt allerdings Ruhe ein, aber die
von den Agitatoren gestreute Saat von pomphaften Phrasen, von Schmeicheleien,
von Hoffnungen erhält sich, geht auf und überwuchert die den Wählern durch Natur
lind Erziehung eingepflanzten Vorstellungen von Pflicht und Recht, Sitte und
Ehre in bedenklichster Weise. War der ehrsame Bürger bisher der Meinung,
daß jedem Rechte eine Pflicht entsprechen müsse, so erfährt er jetzt, daß das
Wahlgesetz für die Ausübung des wichtigsten politischen Rechts nichts weiter
verlangt, als daß er keine Frau sei, daß er fünfundzwanzig Jahre alt sei und
daß er nicht ins Zuchthaus gehöre oder gehört habe. Der Agitator stellt ihm
die Wichtigkeit seiner Person als Wähler vor und sagt ihm, daß er Mitinhaber
der Volkssouveränetät sei, daß er berufen sei, über das Wohl der Nation in¬
direkt mitzuentscheiden. Kann ich das, sagte er sich dann leicht, habe ich so viel
politische Macht als der Herr Pastor oder der Herr Baron, so sollte ich auch
so essen, so wohnen, mich so kleiden wie diese, und so ist er in Gefahr, vom
politischen Kommunismus zum wirtschaftlichen zu gelangen. Jedenfalls wird
durch das allgemeine Wahlrecht der Keim des schädlichsten Größenwahns in Tau¬
sende von Gemütern gelegt. Dem Rausche folgt nach den Wahlen die Ernüch¬
terung, die Enttäuschung und das Mißbehagen darüber, daß die bescheidne wirt¬
schaftliche Lage des Wählers aus unbemittelter Klasse seiner vom Agitator
gerühmten politischen Bedeutung nicht entspricht. Daraus entwickelt sich Neid
gegenüber den besser sitnirteu Klassen der Gesellschaft, und damit verbindet sich
der Gedanke, daß es anders werden, daß die wirtschaftliche Ungleichheit aufge¬
hoben werden müsse wie die politische, entweder dnrch gesetzliche Umgestaltung
oder durch gewaltsamen Umsturz des Bestehenden.

„Wissen Sie etwas besseres?" fragte 1867 der Reichskanzler. Der Ver¬
fasser unsrer Schrift glaubt das bejahen zu können. Er raisonnirt etwa fol¬
gendermaßen. Der zivilisirte Mensch wird vor allem von dem Streben nach wirt¬
schaftlichem Wohlstand beseelt. Alle idealen Richtungen des Staatslebens, Freiheit,
Ordnung haben für ihn nur insofern Bedeutung, als er dadurch sein wirt¬
schaftliches Wohlbefinden gefördert, seine gesellschaftliche Stellung gesichert zu
sehen hofft. Jenem Streben dienen unsre Parteien und Fraktionen mit ihren
politischen Programmen nicht. Es bedarf dazu einer Vertretung der materiellen
Interessen, und diese wird am besten dnrch die Bildung von Organen aus Leuten,
gleicher Lage im Reiche, gleichen Berufs- und Lebenszieles geschaffen. Neben
einer aus Berufsgenossenschaften hervorgehenden Vertretung der Arbeiter, der
Handwerker, des Handels und der Großindustrie, der Landwirtschaft, der Künstler


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[0070] Das Wahlrecht, als alle gewaltige» Reden, Antrüge und Schachzüge mächtiger Fraktionen: die fortgesetzte Unterminirnng der innern Gesinnung, die Verwirrung der politischen, kirchlichen und sozialen Begriffe des ganzen Volkes, die langsame und indirekte, aller zweifellose Revolutionirung der Massen durch die Agitation, und das ist die hauptsächlichste Wirkung unseres jetzigen Wahlsystems." Nach der Aufregung des Wahlkampfes tritt allerdings Ruhe ein, aber die von den Agitatoren gestreute Saat von pomphaften Phrasen, von Schmeicheleien, von Hoffnungen erhält sich, geht auf und überwuchert die den Wählern durch Natur lind Erziehung eingepflanzten Vorstellungen von Pflicht und Recht, Sitte und Ehre in bedenklichster Weise. War der ehrsame Bürger bisher der Meinung, daß jedem Rechte eine Pflicht entsprechen müsse, so erfährt er jetzt, daß das Wahlgesetz für die Ausübung des wichtigsten politischen Rechts nichts weiter verlangt, als daß er keine Frau sei, daß er fünfundzwanzig Jahre alt sei und daß er nicht ins Zuchthaus gehöre oder gehört habe. Der Agitator stellt ihm die Wichtigkeit seiner Person als Wähler vor und sagt ihm, daß er Mitinhaber der Volkssouveränetät sei, daß er berufen sei, über das Wohl der Nation in¬ direkt mitzuentscheiden. Kann ich das, sagte er sich dann leicht, habe ich so viel politische Macht als der Herr Pastor oder der Herr Baron, so sollte ich auch so essen, so wohnen, mich so kleiden wie diese, und so ist er in Gefahr, vom politischen Kommunismus zum wirtschaftlichen zu gelangen. Jedenfalls wird durch das allgemeine Wahlrecht der Keim des schädlichsten Größenwahns in Tau¬ sende von Gemütern gelegt. Dem Rausche folgt nach den Wahlen die Ernüch¬ terung, die Enttäuschung und das Mißbehagen darüber, daß die bescheidne wirt¬ schaftliche Lage des Wählers aus unbemittelter Klasse seiner vom Agitator gerühmten politischen Bedeutung nicht entspricht. Daraus entwickelt sich Neid gegenüber den besser sitnirteu Klassen der Gesellschaft, und damit verbindet sich der Gedanke, daß es anders werden, daß die wirtschaftliche Ungleichheit aufge¬ hoben werden müsse wie die politische, entweder dnrch gesetzliche Umgestaltung oder durch gewaltsamen Umsturz des Bestehenden. „Wissen Sie etwas besseres?" fragte 1867 der Reichskanzler. Der Ver¬ fasser unsrer Schrift glaubt das bejahen zu können. Er raisonnirt etwa fol¬ gendermaßen. Der zivilisirte Mensch wird vor allem von dem Streben nach wirt¬ schaftlichem Wohlstand beseelt. Alle idealen Richtungen des Staatslebens, Freiheit, Ordnung haben für ihn nur insofern Bedeutung, als er dadurch sein wirt¬ schaftliches Wohlbefinden gefördert, seine gesellschaftliche Stellung gesichert zu sehen hofft. Jenem Streben dienen unsre Parteien und Fraktionen mit ihren politischen Programmen nicht. Es bedarf dazu einer Vertretung der materiellen Interessen, und diese wird am besten dnrch die Bildung von Organen aus Leuten, gleicher Lage im Reiche, gleichen Berufs- und Lebenszieles geschaffen. Neben einer aus Berufsgenossenschaften hervorgehenden Vertretung der Arbeiter, der Handwerker, des Handels und der Großindustrie, der Landwirtschaft, der Künstler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/70>, abgerufen am 01.07.2024.