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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Das Wahlrecht,

geben hätte, so würde die furchtbare Folge auf die Massen, dieses Anfachen des
Hasses gegen die staatliche Autorität bis in die letzte Hütte nicht stattgefunden
haben," Allerdings zeigte der Reichstag nach der Wahl von 1877 keine demo¬
kratische Majorität, aber trotzdem mußte das Resultat dieser Wahl erschrecken.
1874 waren circa 350 000, drei Jahre später schon 485 122 Stimmen für
Sozialdemokraten abgegeben worden, die Berliner Wahlen von 1874 hatten
13 500, die von 1877 rund 81500 sozialistische Stimmzettel geliefert. "Die
Zahl der Stimmen, welche auf entschiedne Gegner der Regierung gefallen waren,
betrug 2 835 088, weit über die Hälfte der abgegebenen. . . . Die Stimmen
der zweifelhaften Freunde der Regierung waren mit etwa einer Million anzu¬
nehmen. ... In jedem parlamentarischen Staate wären dnrch eine solche Äuße¬
rung der Volksmeinung die leitenden Staatsmänner zum Rücktritte genötigt
gewesen, und hielt in unserm deutschen Staatswesen der eherne Fels des mo¬
narchischen Prinzips gegen das Andringen der parlamentarischen Flut Stand,
so war doch die Aufregung in allen regierungsfreundlichen Kreisen groß und
das allgemeine Wahlrecht wurde ans das Heftigste angeklagt. Die "Nordd. Allgem.
Zeitung" sagte: "Die Intelligenz fühlt sich gedemütigt, der Steuerzahler geschä¬
digt. Wie kommen in dem Volke von Denkern solche, die kaum lesen und schreiben,
noch weniger denken und am wenigsten politisch denken gelernt haben, dazu, daß
sie über das Schicksal des Staates entscheiden sollen?" Und an einer andern
Stelle sagte das offiziöse Blatt: "Fürst Bismarck ist nicht der Mann, sich ans
einem Prinzip, das nichts mehr nützt, festznrciten. Wenn die traurigen Folgen
des jetzigen fakultativen allgemeinen und direkten Wahlrechts noch schärfer zu
Tage treten sollten, was bliebe übrig, als hier eine Remedur eintreten zu lassen?
Der Zweck der Agitation sänke um zwei Drittel des Wertes, sobald die Ab¬
stimmung obligatorisch und öffentlich wäre." Wird der Reichskanzler sich in
dem Gedanken für immer beruhigen, daß es nicht nur ihm, sondern auch seinen
Nachfolgern stets gelingen werde, der Hydra der Opposition das Haupt zu zer¬
treten? so fragten schon damals besorgte Gemüter."

Und welches Resultat zeigen die neuesten Wahlen? Wachstum der Oppo¬
sition auf Kosten der Mittelparteien, Verstärkung der Sozialdemokraten und der
Fortschrittspartei im Reichstage, eine Zusammensetzung des letzteren, vor der die
Nefvrmarbeit der Regierung eine Sisyphusarbeit sein wird. Und ist etwa dieses
Wahlergebniß ein getreues Abbild des wirklichen Denkens und Strebens der
Nation? "Wer wüßte nicht, daß in mehr als einem Wahlbezirke die Gesinnung
der Mehrheit eine ganz andre ist als die des Erwählten, daß nicht der poli¬
tische Geist die Wahlen entschieden hat, sondern die größere Geschicklichkeit und
Rührigkeit der Agitatoren? . . . Den Reichstag kann man, wenn er durch seine
Beschlüsse eine regierungsfeindliche Richtung kundgiebt. durch mancherlei Mittel
auf einen andern Weg leiten, und wenn nichts anderes übrig bleibt, auflösen....
Aber es giebt eine Gefahr, die größer ist als alle parlamentarische Opposition,


Das Wahlrecht,

geben hätte, so würde die furchtbare Folge auf die Massen, dieses Anfachen des
Hasses gegen die staatliche Autorität bis in die letzte Hütte nicht stattgefunden
haben," Allerdings zeigte der Reichstag nach der Wahl von 1877 keine demo¬
kratische Majorität, aber trotzdem mußte das Resultat dieser Wahl erschrecken.
1874 waren circa 350 000, drei Jahre später schon 485 122 Stimmen für
Sozialdemokraten abgegeben worden, die Berliner Wahlen von 1874 hatten
13 500, die von 1877 rund 81500 sozialistische Stimmzettel geliefert. „Die
Zahl der Stimmen, welche auf entschiedne Gegner der Regierung gefallen waren,
betrug 2 835 088, weit über die Hälfte der abgegebenen. . . . Die Stimmen
der zweifelhaften Freunde der Regierung waren mit etwa einer Million anzu¬
nehmen. ... In jedem parlamentarischen Staate wären dnrch eine solche Äuße¬
rung der Volksmeinung die leitenden Staatsmänner zum Rücktritte genötigt
gewesen, und hielt in unserm deutschen Staatswesen der eherne Fels des mo¬
narchischen Prinzips gegen das Andringen der parlamentarischen Flut Stand,
so war doch die Aufregung in allen regierungsfreundlichen Kreisen groß und
das allgemeine Wahlrecht wurde ans das Heftigste angeklagt. Die »Nordd. Allgem.
Zeitung« sagte: »Die Intelligenz fühlt sich gedemütigt, der Steuerzahler geschä¬
digt. Wie kommen in dem Volke von Denkern solche, die kaum lesen und schreiben,
noch weniger denken und am wenigsten politisch denken gelernt haben, dazu, daß
sie über das Schicksal des Staates entscheiden sollen?« Und an einer andern
Stelle sagte das offiziöse Blatt: »Fürst Bismarck ist nicht der Mann, sich ans
einem Prinzip, das nichts mehr nützt, festznrciten. Wenn die traurigen Folgen
des jetzigen fakultativen allgemeinen und direkten Wahlrechts noch schärfer zu
Tage treten sollten, was bliebe übrig, als hier eine Remedur eintreten zu lassen?
Der Zweck der Agitation sänke um zwei Drittel des Wertes, sobald die Ab¬
stimmung obligatorisch und öffentlich wäre.« Wird der Reichskanzler sich in
dem Gedanken für immer beruhigen, daß es nicht nur ihm, sondern auch seinen
Nachfolgern stets gelingen werde, der Hydra der Opposition das Haupt zu zer¬
treten? so fragten schon damals besorgte Gemüter."

Und welches Resultat zeigen die neuesten Wahlen? Wachstum der Oppo¬
sition auf Kosten der Mittelparteien, Verstärkung der Sozialdemokraten und der
Fortschrittspartei im Reichstage, eine Zusammensetzung des letzteren, vor der die
Nefvrmarbeit der Regierung eine Sisyphusarbeit sein wird. Und ist etwa dieses
Wahlergebniß ein getreues Abbild des wirklichen Denkens und Strebens der
Nation? „Wer wüßte nicht, daß in mehr als einem Wahlbezirke die Gesinnung
der Mehrheit eine ganz andre ist als die des Erwählten, daß nicht der poli¬
tische Geist die Wahlen entschieden hat, sondern die größere Geschicklichkeit und
Rührigkeit der Agitatoren? . . . Den Reichstag kann man, wenn er durch seine
Beschlüsse eine regierungsfeindliche Richtung kundgiebt. durch mancherlei Mittel
auf einen andern Weg leiten, und wenn nichts anderes übrig bleibt, auflösen....
Aber es giebt eine Gefahr, die größer ist als alle parlamentarische Opposition,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/69>, abgerufen am 01.07.2024.