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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Das Wahlrecht.

überkommen. Wir huben es in der Reichsverfassung von Frankfurt gehabt.
Wir haben es 1863 den damaligen Bestrebungen Österreichs (ans dein Fürsten-
tage) entgegengesetzt, und ich kann einfach sagen, ich kenne kein besseres Wahl¬
gesetz. Es hat eine große Anzahl von Mängeln, welche bewirken, daß auch
dieses Gesetz die wirklich besonnene und berechtigte öffentliche Meinung eines
Volkes nicht vollständig photographiren wird. Die Verbündeten Regierungen
kleben an diesem Gesetze nicht in dem Maße, daß sie nicht jedes andre acceptiren
sollten, dessen Vorzüge vor diesem nachgewiesen würden. Bisher ist unsrer Vorlage
aber keins gegenübergestellt worden ... Wir haben einfach genommen, was vorlag,
und wovon wir glaubten, daß es am leichtesten Annahme finden würde. Was
wollen nun die Herren, welche das allgemeine Wahlrecht anfechten, mit der Be¬
schleunigung, deren wir bedürfen, um dessen Stelle setzen? Etwa das Dreiklassen-
systcm? Wer dessen Wirkung in der Nähe gesehen hat, der wird sagen: Ein
elenderes Wahlgesetz ist nirgends in einem Staate gewesen." Der Redner sprach
dann noch gegen den Census und die ständische Wahlfvrm und wies darauf hiu,
daß jedes Wahlgesetz uuter denselben äußern Eindrücken dasselbe Resultat erzielt.
Die ganze Debatte dauerte nur etwa sechs Stunden. Dann erfolgte die An¬
nahme des Negicruugseutwurfs mit einigen Amendements, und der Reichstag
ging fortan ans allgemeinen, direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor.
Politische Gründe, Opportunitätsrücksichten, die noch frische Erinnerung an die
Confliktsperiode in dein nach dem Dreiklasscnshstcine gewählten preußischen Ab¬
geordnetenhause, das günstige Ergebnis, welches das allgemeine Wahlrecht in der
Zusammensetzung des kvnstitnirenden Reichstags geliefert hatte, das alles zu¬
sammengehalten mit dem Satze: "Jedes Wahlgesetz giebt unter denselben Ein¬
flüssen und Eindrücken dieselben Resultate" erkläre" die große Majorität, mit
welcher der betreffende Verfassuugsartikel angenommen wurde.

Fragen wir nnn: Welche Folgen hat das Neichsmahlgesetz auf die Zu¬
sammensetzung des Reichstags und mittelbar auf die Gesetzgebung sowie andrer¬
seits auf die Wähler gehabt? Eine uns vorliegende Schrift: Kommunismus
oder Wahlreform von einem Ungenannten, der sich als "alter Abgeordneter"'
bezeichnet (Leipzig, Noßbcrg, 1882), antwortet darauf nach Anführung der Wahl¬
statistik der letzten Jahre ungefähr wie folgt: Die Zahl der Ceutrumsmitgliedcr
hat sich von 1871 bis 1877 fast verdoppelt, die der Sozialdemokraten versechs¬
facht, während die Konservativen und die Fortschrittspartei erheblich schwächer
geworden siud. Die Verdoppelung der klerikalen Fraktion ist allerdings durch
eiuen äußern Einfluß gefördert worden, sie erfolgte unmittelbar nach Erlaß der
preußischen Maigesetze; die Opposition des ultramontanen Geistes hätte aber
schwerlich ohne die Handhabe des allgemeinen Wahlrechts eine solche Ausdeh¬
nung und Kraft gewinnen können. Ähnliches gilt von dem Anschwellen der
Sozialdemokraten im Reichstage. "Aber auch angenommen, daß ein anderes
Wahlgesetz dieselbe Zusammensetzung der parlamentarischem Körperschaften er-


Das Wahlrecht.

überkommen. Wir huben es in der Reichsverfassung von Frankfurt gehabt.
Wir haben es 1863 den damaligen Bestrebungen Österreichs (ans dein Fürsten-
tage) entgegengesetzt, und ich kann einfach sagen, ich kenne kein besseres Wahl¬
gesetz. Es hat eine große Anzahl von Mängeln, welche bewirken, daß auch
dieses Gesetz die wirklich besonnene und berechtigte öffentliche Meinung eines
Volkes nicht vollständig photographiren wird. Die Verbündeten Regierungen
kleben an diesem Gesetze nicht in dem Maße, daß sie nicht jedes andre acceptiren
sollten, dessen Vorzüge vor diesem nachgewiesen würden. Bisher ist unsrer Vorlage
aber keins gegenübergestellt worden ... Wir haben einfach genommen, was vorlag,
und wovon wir glaubten, daß es am leichtesten Annahme finden würde. Was
wollen nun die Herren, welche das allgemeine Wahlrecht anfechten, mit der Be¬
schleunigung, deren wir bedürfen, um dessen Stelle setzen? Etwa das Dreiklassen-
systcm? Wer dessen Wirkung in der Nähe gesehen hat, der wird sagen: Ein
elenderes Wahlgesetz ist nirgends in einem Staate gewesen." Der Redner sprach
dann noch gegen den Census und die ständische Wahlfvrm und wies darauf hiu,
daß jedes Wahlgesetz uuter denselben äußern Eindrücken dasselbe Resultat erzielt.
Die ganze Debatte dauerte nur etwa sechs Stunden. Dann erfolgte die An¬
nahme des Negicruugseutwurfs mit einigen Amendements, und der Reichstag
ging fortan ans allgemeinen, direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor.
Politische Gründe, Opportunitätsrücksichten, die noch frische Erinnerung an die
Confliktsperiode in dein nach dem Dreiklasscnshstcine gewählten preußischen Ab¬
geordnetenhause, das günstige Ergebnis, welches das allgemeine Wahlrecht in der
Zusammensetzung des kvnstitnirenden Reichstags geliefert hatte, das alles zu¬
sammengehalten mit dem Satze: „Jedes Wahlgesetz giebt unter denselben Ein¬
flüssen und Eindrücken dieselben Resultate" erkläre» die große Majorität, mit
welcher der betreffende Verfassuugsartikel angenommen wurde.

Fragen wir nnn: Welche Folgen hat das Neichsmahlgesetz auf die Zu¬
sammensetzung des Reichstags und mittelbar auf die Gesetzgebung sowie andrer¬
seits auf die Wähler gehabt? Eine uns vorliegende Schrift: Kommunismus
oder Wahlreform von einem Ungenannten, der sich als „alter Abgeordneter"'
bezeichnet (Leipzig, Noßbcrg, 1882), antwortet darauf nach Anführung der Wahl¬
statistik der letzten Jahre ungefähr wie folgt: Die Zahl der Ceutrumsmitgliedcr
hat sich von 1871 bis 1877 fast verdoppelt, die der Sozialdemokraten versechs¬
facht, während die Konservativen und die Fortschrittspartei erheblich schwächer
geworden siud. Die Verdoppelung der klerikalen Fraktion ist allerdings durch
eiuen äußern Einfluß gefördert worden, sie erfolgte unmittelbar nach Erlaß der
preußischen Maigesetze; die Opposition des ultramontanen Geistes hätte aber
schwerlich ohne die Handhabe des allgemeinen Wahlrechts eine solche Ausdeh¬
nung und Kraft gewinnen können. Ähnliches gilt von dem Anschwellen der
Sozialdemokraten im Reichstage. „Aber auch angenommen, daß ein anderes
Wahlgesetz dieselbe Zusammensetzung der parlamentarischem Körperschaften er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/68>, abgerufen am 01.07.2024.