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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Das Wahlrecht.

Wir vermute", so lange, als sie die VerwaltungSmaschine kräftig auf die Wahlen
in der Provinz wirken zu lassen imstande sein wird, und so lange ein unab¬
hängiger Senat neben der Deputirtenkammer sich zu erhalten vermag.

In Deutschland wurde das allgemeine Wahlrecht erst 1867 und 1871
eingeführt. Die Frankfurter Nationalversammlung war weder ans Grund des¬
selben zusammengetreten, noch nahm sie es in die Verfassung oder die Grund¬
rechte auf. Das Wahlgesetz von 1849 schloß in seinem Entwurf alle Dienst-
lwten, Handwerksgchilfen. Fabrikarbeiter und Tagelöhner von der Berechtigung
zum Wählen aus. Dies wurde im Berichte des Verfassungsausschusses unge¬
fähr folgendermaßen motivirt: das politische Recht sei kein solches, welches der
Person unmittelbar und eigentümlich anhafte, vielmehr müsse das Beste der Ge¬
sammtheit bestimmen, wer geeignet sei, als Träger dieses Rechts zu erscheinen.
Keine Staatsordnung werde zu irgendwelcher Stetigkeit gelangen können, wenn
die Entscheidung aller politischen Fragen in die Hände der großen Masse gelegt
werde, die sich nur zu oft willenlos leiten lasse und launenhaft Tag um Tag
dem einen oder dem andern Führer folge. Bei den Verhandlungen über die
Vorlage wurde geltend gemacht: "Das Wahlgesetz ist die eigentliche Machtfrage;
denn die Majorität der Volksvertretung herrscht, und diese Majorität hängt vou
den Ergebnissen des Wahlgesetzes ab. Da aber nun bei dem allgemeinen Wahl¬
rechte die Majorität stets in der Masse der ärmeren und ungebildeten Klasse
des Volkes liegt, so hat diese Masse die Herrschaft, sobald sie vereinigt wird.
Das ist gleichbedeutend, als wenn man dein wohlhabenderen und gebildeteren
Teile des Volkes das Wahlrecht gänzlich entzöge." Diese Vorlage wurde zwar
"ach langen und heftigen Debatten verworfen und eine andre angenommen, nach
welcher uur solche Personen unfähig zum Wähle" sein sollten, welche uuter Vor-
"uittdschaft stünden, oder über dere" Vermögen gerichtlich Konkurs eröffnet worden
sei, oder welche Armenunterstiitzung aus öffentliche" Mitteln bezögen. Allein das
w Frankfurt beschlossene Reichswahlgesetz hat nie Gesetzeskraft erlangt und ist
nirgends zur Anwendung gekommen.

Am 9. April 1866 beantragte Preußen beim Bundestage Znsammenbcr"f""g
einer deutschen Volksvertretung auf breitester Basis, d. h. auf Grundlage des
allgemeinen Stimmrechts und mit direkten Wahlen. Das erschien den mittcl-
stnatlichen Regierungen als blinder Schreckschuß und Versuch, sich bei den deutsche"
Liberale" beliebt zu macheu. Es war aber mehr: der konstitnirendc Reichstag
Norddeutschlands wurde wirklich auf Grund des allgemeine" Wahlrechts einbe¬
rufe", und der demselben vorgelegte Verfassungseiitwnrf enthielt dieses Recht im
21. Artikel in radikalster Form. Es war ein kecker Griff, gewagt infolge des
Wunsches, der Demokratie ein Non plus mit-rs. entgegenzuhalten und dem neuen
Reichstag Ansehen beim Volte z" verschaffen. Graf Bismarck begründete den
^nannten Bcrfassnngsentwnrfs-Nrtikel folgendermaßen: "Das allgemeine Stimm¬
recht ist uns als Erbteil in der Entwicklung der deutschen Einheitsbestrebungen


Das Wahlrecht.

Wir vermute», so lange, als sie die VerwaltungSmaschine kräftig auf die Wahlen
in der Provinz wirken zu lassen imstande sein wird, und so lange ein unab¬
hängiger Senat neben der Deputirtenkammer sich zu erhalten vermag.

In Deutschland wurde das allgemeine Wahlrecht erst 1867 und 1871
eingeführt. Die Frankfurter Nationalversammlung war weder ans Grund des¬
selben zusammengetreten, noch nahm sie es in die Verfassung oder die Grund¬
rechte auf. Das Wahlgesetz von 1849 schloß in seinem Entwurf alle Dienst-
lwten, Handwerksgchilfen. Fabrikarbeiter und Tagelöhner von der Berechtigung
zum Wählen aus. Dies wurde im Berichte des Verfassungsausschusses unge¬
fähr folgendermaßen motivirt: das politische Recht sei kein solches, welches der
Person unmittelbar und eigentümlich anhafte, vielmehr müsse das Beste der Ge¬
sammtheit bestimmen, wer geeignet sei, als Träger dieses Rechts zu erscheinen.
Keine Staatsordnung werde zu irgendwelcher Stetigkeit gelangen können, wenn
die Entscheidung aller politischen Fragen in die Hände der großen Masse gelegt
werde, die sich nur zu oft willenlos leiten lasse und launenhaft Tag um Tag
dem einen oder dem andern Führer folge. Bei den Verhandlungen über die
Vorlage wurde geltend gemacht: „Das Wahlgesetz ist die eigentliche Machtfrage;
denn die Majorität der Volksvertretung herrscht, und diese Majorität hängt vou
den Ergebnissen des Wahlgesetzes ab. Da aber nun bei dem allgemeinen Wahl¬
rechte die Majorität stets in der Masse der ärmeren und ungebildeten Klasse
des Volkes liegt, so hat diese Masse die Herrschaft, sobald sie vereinigt wird.
Das ist gleichbedeutend, als wenn man dein wohlhabenderen und gebildeteren
Teile des Volkes das Wahlrecht gänzlich entzöge." Diese Vorlage wurde zwar
"ach langen und heftigen Debatten verworfen und eine andre angenommen, nach
welcher uur solche Personen unfähig zum Wähle» sein sollten, welche uuter Vor-
»uittdschaft stünden, oder über dere» Vermögen gerichtlich Konkurs eröffnet worden
sei, oder welche Armenunterstiitzung aus öffentliche» Mitteln bezögen. Allein das
w Frankfurt beschlossene Reichswahlgesetz hat nie Gesetzeskraft erlangt und ist
nirgends zur Anwendung gekommen.

Am 9. April 1866 beantragte Preußen beim Bundestage Znsammenbcr»f»»g
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allgemeinen Stimmrechts und mit direkten Wahlen. Das erschien den mittcl-
stnatlichen Regierungen als blinder Schreckschuß und Versuch, sich bei den deutsche»
Liberale» beliebt zu macheu. Es war aber mehr: der konstitnirendc Reichstag
Norddeutschlands wurde wirklich auf Grund des allgemeine» Wahlrechts einbe¬
rufe», und der demselben vorgelegte Verfassungseiitwnrf enthielt dieses Recht im
21. Artikel in radikalster Form. Es war ein kecker Griff, gewagt infolge des
Wunsches, der Demokratie ein Non plus mit-rs. entgegenzuhalten und dem neuen
Reichstag Ansehen beim Volte z» verschaffen. Graf Bismarck begründete den
^nannten Bcrfassnngsentwnrfs-Nrtikel folgendermaßen: „Das allgemeine Stimm¬
recht ist uns als Erbteil in der Entwicklung der deutschen Einheitsbestrebungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/67>, abgerufen am 01.07.2024.