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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Bakchen und Thyrsosträger.

also der Charakter eines tüchtigen Staatsbürgers, brauche nicht erlernt zu werden,
sondern sei angeboren, so daß ich also durchaus nicht allein stehe mit meiner
Meinung. Sogar die größten Männer der Geschichte, nicht nur das Volt, geben
mir thatsächlich Recht. Denn ich habe nie gehört, daß sie ihre Söhne in dem
hätten unterrichten lassen, worin sie selbst groß waren, nämlich im Charakter.
Ja, man ist mit Recht erstaunt, wenn einmal ein Sohn seinem großen Vater
an Charaktergröße gleichkommt, deun nur zu häufig findet mau, daß die große"
Mäuner unbedeutende Söhne habe". Denken Sie an das alte Sprichwort:
tlvroum nul nvxso. Wie freilich auch oft nichtswürdige Väter Söhne habe",
welche musterhafte nud großartige Staatsbürger sind.

Mein Bester, sagte der Anthropologe, Sie verwechseln da wohl die Begriffe.
Die hervorragenden Genies kann man freilich nicht als Produkte der Erziehung,
wenigstens nicht im engern Sinne, betrachten. Von denen habe ich auch nicht
gesprochen, sondern nur von jenen Eigenschaften, die einem jeden guten Staats¬
bürger zukommen: Ehrenhaftigkeit, echte Sittlichkeit, Wahrheitsliebe, Gerechtig¬
keit und dergleichen; und die lassen sich allerdings lernen, die sind in ihrer Ge¬
sammtheit ein Produkt der Erziehung.

Der Professor warf sich bei diesen Worten in die Brust, denn er kam auf
sein Lieblingsthema, und hielt einen langen Vortrag, in welchem er entwickelte,
daß der Kampf ums Dasein den Menschen zu dem gemacht habe, was er sei.
Während die Natur alle Arten der Tiere mit den ihnen eigentümlichen Schutz-
und Hilfsmitteln zur Erhaltung und Fortpflanzung ausgerüstet habe, habe sie
dem Menschen als Entgelt für so vieles ihm Mangelnde einen kostbaren Ersatz in
der Vernunft gegeben, und diese habe er allmählich ausgebildet und sie, fort¬
schreitend in der Erkenntnis, gebraucht, um sich aus anfänglich wilden und ge¬
setzlosen Zuständen, wie noch jetzt entlegene unglückliche Völkerstämme sie zeigten,
zu Sitte und Kultur hindurchzuarbeiten.

Wie aber kommt es nun, so schloß er, daß -- wie es den Anschein hat --
oft ein ausgezeichneter, rechtschaffener Vater einen wahren Taugenichts von Sohn
hat, und daß auch der umgekehrte Fall eintritt? Diese Erscheinung beruht ge¬
wissermaßen auf einer optischen Täuschung, indem uns der richtige Maßstab der
Vergleichung nicht immer zur Hand ist. Deshalb sind Sie auch auf die Idee
verfallen, im Reichstage redeten und regierten Leute, welche von den Angelegen¬
heiten des Staates nichts verstünden. Es ist das eine unfreiwillige Selbst¬
täuschung über die Bedeutung unsrer Kultur.

Glauben Sie mir, lieber Doktor, ein Mensch, der Ihnen jetzt bei uns als
unwissend oder gar als ein vollendeter Taugenichts erscheint, hier, wo allgemeine
Bildung und Sittlichkeit herrschen, der würde Ihnen wohl, wenn Sie ihm in
Afrika unter den Kaffern oder auch in Afghanistan begegneten, als ein wahrer
Mustermensch, als der Ausbund aller Tilgenden erscheinen. Ich vermute, mein
lieber Doktor, Sie würden sich, wenn Sie bei der Gesandtschaft des Majors


Bakchen und Thyrsosträger.

also der Charakter eines tüchtigen Staatsbürgers, brauche nicht erlernt zu werden,
sondern sei angeboren, so daß ich also durchaus nicht allein stehe mit meiner
Meinung. Sogar die größten Männer der Geschichte, nicht nur das Volt, geben
mir thatsächlich Recht. Denn ich habe nie gehört, daß sie ihre Söhne in dem
hätten unterrichten lassen, worin sie selbst groß waren, nämlich im Charakter.
Ja, man ist mit Recht erstaunt, wenn einmal ein Sohn seinem großen Vater
an Charaktergröße gleichkommt, deun nur zu häufig findet mau, daß die große»
Mäuner unbedeutende Söhne habe». Denken Sie an das alte Sprichwort:
tlvroum nul nvxso. Wie freilich auch oft nichtswürdige Väter Söhne habe»,
welche musterhafte nud großartige Staatsbürger sind.

Mein Bester, sagte der Anthropologe, Sie verwechseln da wohl die Begriffe.
Die hervorragenden Genies kann man freilich nicht als Produkte der Erziehung,
wenigstens nicht im engern Sinne, betrachten. Von denen habe ich auch nicht
gesprochen, sondern nur von jenen Eigenschaften, die einem jeden guten Staats¬
bürger zukommen: Ehrenhaftigkeit, echte Sittlichkeit, Wahrheitsliebe, Gerechtig¬
keit und dergleichen; und die lassen sich allerdings lernen, die sind in ihrer Ge¬
sammtheit ein Produkt der Erziehung.

Der Professor warf sich bei diesen Worten in die Brust, denn er kam auf
sein Lieblingsthema, und hielt einen langen Vortrag, in welchem er entwickelte,
daß der Kampf ums Dasein den Menschen zu dem gemacht habe, was er sei.
Während die Natur alle Arten der Tiere mit den ihnen eigentümlichen Schutz-
und Hilfsmitteln zur Erhaltung und Fortpflanzung ausgerüstet habe, habe sie
dem Menschen als Entgelt für so vieles ihm Mangelnde einen kostbaren Ersatz in
der Vernunft gegeben, und diese habe er allmählich ausgebildet und sie, fort¬
schreitend in der Erkenntnis, gebraucht, um sich aus anfänglich wilden und ge¬
setzlosen Zuständen, wie noch jetzt entlegene unglückliche Völkerstämme sie zeigten,
zu Sitte und Kultur hindurchzuarbeiten.

Wie aber kommt es nun, so schloß er, daß — wie es den Anschein hat —
oft ein ausgezeichneter, rechtschaffener Vater einen wahren Taugenichts von Sohn
hat, und daß auch der umgekehrte Fall eintritt? Diese Erscheinung beruht ge¬
wissermaßen auf einer optischen Täuschung, indem uns der richtige Maßstab der
Vergleichung nicht immer zur Hand ist. Deshalb sind Sie auch auf die Idee
verfallen, im Reichstage redeten und regierten Leute, welche von den Angelegen¬
heiten des Staates nichts verstünden. Es ist das eine unfreiwillige Selbst¬
täuschung über die Bedeutung unsrer Kultur.

Glauben Sie mir, lieber Doktor, ein Mensch, der Ihnen jetzt bei uns als
unwissend oder gar als ein vollendeter Taugenichts erscheint, hier, wo allgemeine
Bildung und Sittlichkeit herrschen, der würde Ihnen wohl, wenn Sie ihm in
Afrika unter den Kaffern oder auch in Afghanistan begegneten, als ein wahrer
Mustermensch, als der Ausbund aller Tilgenden erscheinen. Ich vermute, mein
lieber Doktor, Sie würden sich, wenn Sie bei der Gesandtschaft des Majors


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[0672] Bakchen und Thyrsosträger. also der Charakter eines tüchtigen Staatsbürgers, brauche nicht erlernt zu werden, sondern sei angeboren, so daß ich also durchaus nicht allein stehe mit meiner Meinung. Sogar die größten Männer der Geschichte, nicht nur das Volt, geben mir thatsächlich Recht. Denn ich habe nie gehört, daß sie ihre Söhne in dem hätten unterrichten lassen, worin sie selbst groß waren, nämlich im Charakter. Ja, man ist mit Recht erstaunt, wenn einmal ein Sohn seinem großen Vater an Charaktergröße gleichkommt, deun nur zu häufig findet mau, daß die große» Mäuner unbedeutende Söhne habe». Denken Sie an das alte Sprichwort: tlvroum nul nvxso. Wie freilich auch oft nichtswürdige Väter Söhne habe», welche musterhafte nud großartige Staatsbürger sind. Mein Bester, sagte der Anthropologe, Sie verwechseln da wohl die Begriffe. Die hervorragenden Genies kann man freilich nicht als Produkte der Erziehung, wenigstens nicht im engern Sinne, betrachten. Von denen habe ich auch nicht gesprochen, sondern nur von jenen Eigenschaften, die einem jeden guten Staats¬ bürger zukommen: Ehrenhaftigkeit, echte Sittlichkeit, Wahrheitsliebe, Gerechtig¬ keit und dergleichen; und die lassen sich allerdings lernen, die sind in ihrer Ge¬ sammtheit ein Produkt der Erziehung. Der Professor warf sich bei diesen Worten in die Brust, denn er kam auf sein Lieblingsthema, und hielt einen langen Vortrag, in welchem er entwickelte, daß der Kampf ums Dasein den Menschen zu dem gemacht habe, was er sei. Während die Natur alle Arten der Tiere mit den ihnen eigentümlichen Schutz- und Hilfsmitteln zur Erhaltung und Fortpflanzung ausgerüstet habe, habe sie dem Menschen als Entgelt für so vieles ihm Mangelnde einen kostbaren Ersatz in der Vernunft gegeben, und diese habe er allmählich ausgebildet und sie, fort¬ schreitend in der Erkenntnis, gebraucht, um sich aus anfänglich wilden und ge¬ setzlosen Zuständen, wie noch jetzt entlegene unglückliche Völkerstämme sie zeigten, zu Sitte und Kultur hindurchzuarbeiten. Wie aber kommt es nun, so schloß er, daß — wie es den Anschein hat — oft ein ausgezeichneter, rechtschaffener Vater einen wahren Taugenichts von Sohn hat, und daß auch der umgekehrte Fall eintritt? Diese Erscheinung beruht ge¬ wissermaßen auf einer optischen Täuschung, indem uns der richtige Maßstab der Vergleichung nicht immer zur Hand ist. Deshalb sind Sie auch auf die Idee verfallen, im Reichstage redeten und regierten Leute, welche von den Angelegen¬ heiten des Staates nichts verstünden. Es ist das eine unfreiwillige Selbst¬ täuschung über die Bedeutung unsrer Kultur. Glauben Sie mir, lieber Doktor, ein Mensch, der Ihnen jetzt bei uns als unwissend oder gar als ein vollendeter Taugenichts erscheint, hier, wo allgemeine Bildung und Sittlichkeit herrschen, der würde Ihnen wohl, wenn Sie ihm in Afrika unter den Kaffern oder auch in Afghanistan begegneten, als ein wahrer Mustermensch, als der Ausbund aller Tilgenden erscheinen. Ich vermute, mein lieber Doktor, Sie würden sich, wenn Sie bei der Gesandtschaft des Majors

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/672>, abgerufen am 26.06.2024.