Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Wahlrecht.

Sammlung. Vergeblich sucht oft das Auge in ihrer Mitte nach einem berühmten
Manne. Fast alle ihre Mitglieder sind obscure Persönlichkeiten." So Toaucvillc
in seinem klassischen Werke über die Demokraten in Amerika.

Das ist aber nur eine von den unmittelbaren Wirkungen deS allgemeinen
Wahlrechts; die mittelbaren sind uoch unerfreulicher. Der Trieb des Nivellirens,
dessen Werkzeug es ist, drückt nicht nnr alles Bedeutende nieder, sondern erhebt
die öffentliche Meinung, d. h. die Majoritnr der großen Masse, der Oberfläch¬
lichen und Gemeinen, zur Herrscherin, die nichts aufkommen und gelten läßt, was
nicht mit ihr übereinstimmt. Man hat keine Censur, aber auch keine Mähre Pre߬
freiheit; denn wer sich der gerade herrschenden öffentlichen Meinung in der oder
jener Frage nicht anschließen wollte, würde wie ein Geächteter sein, und von
einer politischen Wirksamkeit ist gar nicht die Rede, es sei denn, man überläßt
sich der Strömung. Das gilt wie von der Presse so auch von den Abgeordneten
und den Staatsmännern der Exekutive; alle blicken auf die Masse des Volkes
herab, schmeicheln ihr und fragen: Was sollen wir thu", um euch zu gefallen?
Alle gehorchen der öffentlichen Meinung, statt sie zu leiten und sie in ihrer
Seichtheit, ihren Vorurteilen, ihren falschen Bestrebungen zu rektifizircn.

Wenden wir uns hiernächst Frankreich zu. Dort wurde im Jahre 1848
das allgemeine Wahlrecht mit direkter und geheimer Abstimmung eingeführt, aber
schon die erste ans Grund dieser Neuerung gewählte gesetzgebende Versammlung
beschloß Beschränkungen, welche gegen drei Millionen französischer Staatsange¬
hörigen das Wahlrecht wieder nahmen. Napoleon stellte die frühere Einrichtung
in Betreff der Wahlen zum gesetzgebenden Körper wieder her, vielleicht in der
Absicht, den vierten Stand ohne Revolution ins staatliche Leben einzuführen,
wahrscheinlicher, weil er seiue persönliche Macht besser auf die Massen als auf
die intelligentere Minorität der Nation gründen zu können meinte, und sein
Versuch gelang für einige Zeit, da die zentralisirte Verwaltung, energisch geübt,
die Mehrheit der Wahlen im Sinne der Negierung ausfallen ließ und Stantsrat
und Senat ein hinreichendes Gegengewicht gegen die vom Volte gesandten Ver¬
treter bildeten. Zuletzt, im Frühjahr 1870, mußte die Nation dem Kaiser sogar
ein direktes Vertrnnensvotnm in Bezug auf seine Politik ausstellen. Aber dann
zeigte sich doch, daß sich mittels des allgemeinen Stimmrechts wohl eine kurze
Diktatur, aber keine dauernde Gewalt herstellen lasse. Noch weniger hatte sich
mit seiner Hilfe die soziale Frage friedlich lösen lassen; denn es stellt nicht die
Gleichheit aller Klassen der Gesellschaft her, sondern giebt allmählich dem vierten
Stande die Übermacht, mit der sich derselbe gegen jede Autorität und gegen alle
staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu kehren gewohnt ist. Napoleon hatte
die Geister der Unterwelt zu sich emporgerufen, sie dankten ihm mit Unterstützung
einer Revolution, die ihn stürzte und mit der Kommune und der Nicderbrennnng
seines Pariser Schlosses endigte. Wie lange es die jetzt in der französischen
Republik herrschende Bourgeoisie mit dem allgemeinen Stimmrechte treiben wird?


Das Wahlrecht.

Sammlung. Vergeblich sucht oft das Auge in ihrer Mitte nach einem berühmten
Manne. Fast alle ihre Mitglieder sind obscure Persönlichkeiten." So Toaucvillc
in seinem klassischen Werke über die Demokraten in Amerika.

Das ist aber nur eine von den unmittelbaren Wirkungen deS allgemeinen
Wahlrechts; die mittelbaren sind uoch unerfreulicher. Der Trieb des Nivellirens,
dessen Werkzeug es ist, drückt nicht nnr alles Bedeutende nieder, sondern erhebt
die öffentliche Meinung, d. h. die Majoritnr der großen Masse, der Oberfläch¬
lichen und Gemeinen, zur Herrscherin, die nichts aufkommen und gelten läßt, was
nicht mit ihr übereinstimmt. Man hat keine Censur, aber auch keine Mähre Pre߬
freiheit; denn wer sich der gerade herrschenden öffentlichen Meinung in der oder
jener Frage nicht anschließen wollte, würde wie ein Geächteter sein, und von
einer politischen Wirksamkeit ist gar nicht die Rede, es sei denn, man überläßt
sich der Strömung. Das gilt wie von der Presse so auch von den Abgeordneten
und den Staatsmännern der Exekutive; alle blicken auf die Masse des Volkes
herab, schmeicheln ihr und fragen: Was sollen wir thu», um euch zu gefallen?
Alle gehorchen der öffentlichen Meinung, statt sie zu leiten und sie in ihrer
Seichtheit, ihren Vorurteilen, ihren falschen Bestrebungen zu rektifizircn.

Wenden wir uns hiernächst Frankreich zu. Dort wurde im Jahre 1848
das allgemeine Wahlrecht mit direkter und geheimer Abstimmung eingeführt, aber
schon die erste ans Grund dieser Neuerung gewählte gesetzgebende Versammlung
beschloß Beschränkungen, welche gegen drei Millionen französischer Staatsange¬
hörigen das Wahlrecht wieder nahmen. Napoleon stellte die frühere Einrichtung
in Betreff der Wahlen zum gesetzgebenden Körper wieder her, vielleicht in der
Absicht, den vierten Stand ohne Revolution ins staatliche Leben einzuführen,
wahrscheinlicher, weil er seiue persönliche Macht besser auf die Massen als auf
die intelligentere Minorität der Nation gründen zu können meinte, und sein
Versuch gelang für einige Zeit, da die zentralisirte Verwaltung, energisch geübt,
die Mehrheit der Wahlen im Sinne der Negierung ausfallen ließ und Stantsrat
und Senat ein hinreichendes Gegengewicht gegen die vom Volte gesandten Ver¬
treter bildeten. Zuletzt, im Frühjahr 1870, mußte die Nation dem Kaiser sogar
ein direktes Vertrnnensvotnm in Bezug auf seine Politik ausstellen. Aber dann
zeigte sich doch, daß sich mittels des allgemeinen Stimmrechts wohl eine kurze
Diktatur, aber keine dauernde Gewalt herstellen lasse. Noch weniger hatte sich
mit seiner Hilfe die soziale Frage friedlich lösen lassen; denn es stellt nicht die
Gleichheit aller Klassen der Gesellschaft her, sondern giebt allmählich dem vierten
Stande die Übermacht, mit der sich derselbe gegen jede Autorität und gegen alle
staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu kehren gewohnt ist. Napoleon hatte
die Geister der Unterwelt zu sich emporgerufen, sie dankten ihm mit Unterstützung
einer Revolution, die ihn stürzte und mit der Kommune und der Nicderbrennnng
seines Pariser Schlosses endigte. Wie lange es die jetzt in der französischen
Republik herrschende Bourgeoisie mit dem allgemeinen Stimmrechte treiben wird?


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0066" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86187"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Wahlrecht.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_236" prev="#ID_235"> Sammlung. Vergeblich sucht oft das Auge in ihrer Mitte nach einem berühmten<lb/>
Manne. Fast alle ihre Mitglieder sind obscure Persönlichkeiten." So Toaucvillc<lb/>
in seinem klassischen Werke über die Demokraten in Amerika.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_237"> Das ist aber nur eine von den unmittelbaren Wirkungen deS allgemeinen<lb/>
Wahlrechts; die mittelbaren sind uoch unerfreulicher. Der Trieb des Nivellirens,<lb/>
dessen Werkzeug es ist, drückt nicht nnr alles Bedeutende nieder, sondern erhebt<lb/>
die öffentliche Meinung, d. h. die Majoritnr der großen Masse, der Oberfläch¬<lb/>
lichen und Gemeinen, zur Herrscherin, die nichts aufkommen und gelten läßt, was<lb/>
nicht mit ihr übereinstimmt. Man hat keine Censur, aber auch keine Mähre Pre߬<lb/>
freiheit; denn wer sich der gerade herrschenden öffentlichen Meinung in der oder<lb/>
jener Frage nicht anschließen wollte, würde wie ein Geächteter sein, und von<lb/>
einer politischen Wirksamkeit ist gar nicht die Rede, es sei denn, man überläßt<lb/>
sich der Strömung. Das gilt wie von der Presse so auch von den Abgeordneten<lb/>
und den Staatsmännern der Exekutive; alle blicken auf die Masse des Volkes<lb/>
herab, schmeicheln ihr und fragen: Was sollen wir thu», um euch zu gefallen?<lb/>
Alle gehorchen der öffentlichen Meinung, statt sie zu leiten und sie in ihrer<lb/>
Seichtheit, ihren Vorurteilen, ihren falschen Bestrebungen zu rektifizircn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_238" next="#ID_239"> Wenden wir uns hiernächst Frankreich zu. Dort wurde im Jahre 1848<lb/>
das allgemeine Wahlrecht mit direkter und geheimer Abstimmung eingeführt, aber<lb/>
schon die erste ans Grund dieser Neuerung gewählte gesetzgebende Versammlung<lb/>
beschloß Beschränkungen, welche gegen drei Millionen französischer Staatsange¬<lb/>
hörigen das Wahlrecht wieder nahmen. Napoleon stellte die frühere Einrichtung<lb/>
in Betreff der Wahlen zum gesetzgebenden Körper wieder her, vielleicht in der<lb/>
Absicht, den vierten Stand ohne Revolution ins staatliche Leben einzuführen,<lb/>
wahrscheinlicher, weil er seiue persönliche Macht besser auf die Massen als auf<lb/>
die intelligentere Minorität der Nation gründen zu können meinte, und sein<lb/>
Versuch gelang für einige Zeit, da die zentralisirte Verwaltung, energisch geübt,<lb/>
die Mehrheit der Wahlen im Sinne der Negierung ausfallen ließ und Stantsrat<lb/>
und Senat ein hinreichendes Gegengewicht gegen die vom Volte gesandten Ver¬<lb/>
treter bildeten. Zuletzt, im Frühjahr 1870, mußte die Nation dem Kaiser sogar<lb/>
ein direktes Vertrnnensvotnm in Bezug auf seine Politik ausstellen. Aber dann<lb/>
zeigte sich doch, daß sich mittels des allgemeinen Stimmrechts wohl eine kurze<lb/>
Diktatur, aber keine dauernde Gewalt herstellen lasse. Noch weniger hatte sich<lb/>
mit seiner Hilfe die soziale Frage friedlich lösen lassen; denn es stellt nicht die<lb/>
Gleichheit aller Klassen der Gesellschaft her, sondern giebt allmählich dem vierten<lb/>
Stande die Übermacht, mit der sich derselbe gegen jede Autorität und gegen alle<lb/>
staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu kehren gewohnt ist. Napoleon hatte<lb/>
die Geister der Unterwelt zu sich emporgerufen, sie dankten ihm mit Unterstützung<lb/>
einer Revolution, die ihn stürzte und mit der Kommune und der Nicderbrennnng<lb/>
seines Pariser Schlosses endigte. Wie lange es die jetzt in der französischen<lb/>
Republik herrschende Bourgeoisie mit dem allgemeinen Stimmrechte treiben wird?</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0066] Das Wahlrecht. Sammlung. Vergeblich sucht oft das Auge in ihrer Mitte nach einem berühmten Manne. Fast alle ihre Mitglieder sind obscure Persönlichkeiten." So Toaucvillc in seinem klassischen Werke über die Demokraten in Amerika. Das ist aber nur eine von den unmittelbaren Wirkungen deS allgemeinen Wahlrechts; die mittelbaren sind uoch unerfreulicher. Der Trieb des Nivellirens, dessen Werkzeug es ist, drückt nicht nnr alles Bedeutende nieder, sondern erhebt die öffentliche Meinung, d. h. die Majoritnr der großen Masse, der Oberfläch¬ lichen und Gemeinen, zur Herrscherin, die nichts aufkommen und gelten läßt, was nicht mit ihr übereinstimmt. Man hat keine Censur, aber auch keine Mähre Pre߬ freiheit; denn wer sich der gerade herrschenden öffentlichen Meinung in der oder jener Frage nicht anschließen wollte, würde wie ein Geächteter sein, und von einer politischen Wirksamkeit ist gar nicht die Rede, es sei denn, man überläßt sich der Strömung. Das gilt wie von der Presse so auch von den Abgeordneten und den Staatsmännern der Exekutive; alle blicken auf die Masse des Volkes herab, schmeicheln ihr und fragen: Was sollen wir thu», um euch zu gefallen? Alle gehorchen der öffentlichen Meinung, statt sie zu leiten und sie in ihrer Seichtheit, ihren Vorurteilen, ihren falschen Bestrebungen zu rektifizircn. Wenden wir uns hiernächst Frankreich zu. Dort wurde im Jahre 1848 das allgemeine Wahlrecht mit direkter und geheimer Abstimmung eingeführt, aber schon die erste ans Grund dieser Neuerung gewählte gesetzgebende Versammlung beschloß Beschränkungen, welche gegen drei Millionen französischer Staatsange¬ hörigen das Wahlrecht wieder nahmen. Napoleon stellte die frühere Einrichtung in Betreff der Wahlen zum gesetzgebenden Körper wieder her, vielleicht in der Absicht, den vierten Stand ohne Revolution ins staatliche Leben einzuführen, wahrscheinlicher, weil er seiue persönliche Macht besser auf die Massen als auf die intelligentere Minorität der Nation gründen zu können meinte, und sein Versuch gelang für einige Zeit, da die zentralisirte Verwaltung, energisch geübt, die Mehrheit der Wahlen im Sinne der Negierung ausfallen ließ und Stantsrat und Senat ein hinreichendes Gegengewicht gegen die vom Volte gesandten Ver¬ treter bildeten. Zuletzt, im Frühjahr 1870, mußte die Nation dem Kaiser sogar ein direktes Vertrnnensvotnm in Bezug auf seine Politik ausstellen. Aber dann zeigte sich doch, daß sich mittels des allgemeinen Stimmrechts wohl eine kurze Diktatur, aber keine dauernde Gewalt herstellen lasse. Noch weniger hatte sich mit seiner Hilfe die soziale Frage friedlich lösen lassen; denn es stellt nicht die Gleichheit aller Klassen der Gesellschaft her, sondern giebt allmählich dem vierten Stande die Übermacht, mit der sich derselbe gegen jede Autorität und gegen alle staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu kehren gewohnt ist. Napoleon hatte die Geister der Unterwelt zu sich emporgerufen, sie dankten ihm mit Unterstützung einer Revolution, die ihn stürzte und mit der Kommune und der Nicderbrennnng seines Pariser Schlosses endigte. Wie lange es die jetzt in der französischen Republik herrschende Bourgeoisie mit dem allgemeinen Stimmrechte treiben wird?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/66
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/66>, abgerufen am 01.07.2024.