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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Zu Goethes funfzigjährigen Todestage.

Was ist das, ein Rosenaltar? Die Szene stellt eine Einsiedelei in Stellas Garten
vor, die genaue Schilderung derselben wird von der Postmeisterin im ersten
Akte gegeben: "Sie hatte ein Kind; es starb ihr bald. Im Garten ist sein
Grab, nur von Rasen, und seit der Herr weg ist, hat sie eine Einsiedelei drum
angelegt und ihr Grab dazu bestellen lassen," Es ist klar, das Grab des
Kindes und Stellas selbst ist der Altar, über den die Nosenzweige herabhängen.
Durch Hinzufügung eines kleinen Strichleins erhalten wir die richtige Lesart:
"Rasenaltar." Aber der Fehler ist ein alter, entstanden aus Goethes eigen¬
tümlicher Schreibweise, die a und o fast gleich bildete. Der Schreiber der vor¬
liegenden Handschrift, die noch im Jahre 1775 aus dem Autograph abgeschrieben
sein muß, schrieb denn auch wirklich Nosenaltar ab, Goethe aber hat das Wort
selbst gebessert. Eine der uusern sehr ähnliche, entschieden von demselben Schreiber
angefertigte Kopie des Urexemplars wurde als Druckvorlage benutzt, und hier
ist das kleine Verderbnis übersehen, das auf diese Weise sich in die erste
Ausgabe einfchlich und seitdem in allen Drucken der "Stella" stehen ge¬
blieben ist.

Eine weitere eigentümliche Stelle findet sich im ersten Akt beim Auftreten
Fernandos. Der Bediente sagt: "Soll ich gleich wieder einspannen und ihre
Sachen aufpacken lassen?" Fernando erwiedert ihm: "Du sollst's herein bringen,
sag' ich dir; herein." Dort der Plural: "Sachen," hier der Singular: "Du
sollst es herein bringen." Wie verträgt sich das? Es ist die Lesart aller Aus¬
gabe", und niemand hat bis jetzt Anstoß daran genommen. Einer meiner
Freunde meinte sogar, als ich ihn auf die Ungenauigkeit des Ausdrucks auf¬
merksam machte, hier liege gerade eine jener aus dem Leben des Volkes ge¬
schöpften Redensarten vor, die Goethe so trefflich zu verwerten gewußt habe;
darau rütteln zu wollen, sei Silbenstccherei. Daß ich es offen gestehe, der
Freund bekehrte mich nicht, ich stolperte stets von neuem über diesen Stein des
Anstoßes. Die Handschrift giebt eine überaus einfache Lösung des Rätsels. Der
Bediente hatte anfangs zu sagen: "Der andre Wagen ist schon da. Soll ich
ihr Felleisen nicht aufpacken lassen?" Goethe zog später vor, seinen Helden
nicht mit der gewöhnlichen, sondern mit Extrapost ankommen zu lassen, ein
simples Felleisen schien ihm für einen Mann, der sich den Luxus eines Bedienten
gönnen kann, zu wenig. Daher die Änderung. Aber dabei übersah er das
"sollst's!" Es blieb stehen und hat sich seitdem unangetastet erhalte". Der
Dichter war eben ein schlechter Korrektor, oder vielmehr er hat viele seiner erste"
Schriften gar nicht selbst korrigirt, gewiß auch die "Stella" nicht, die zudem in
demi fernen Berlin gedruckt wurde.

Noch manches könnte ich aus dem Manuskript der "Stella" mitteilen. Doch
genug der Beispiele; die angeführten werden genügen, um den Beweis zu liefern,
daß die Handschriften bei der Textkonstruktion nicht ohne Erfolg herangezogen
werden können.


Zu Goethes funfzigjährigen Todestage.

Was ist das, ein Rosenaltar? Die Szene stellt eine Einsiedelei in Stellas Garten
vor, die genaue Schilderung derselben wird von der Postmeisterin im ersten
Akte gegeben: „Sie hatte ein Kind; es starb ihr bald. Im Garten ist sein
Grab, nur von Rasen, und seit der Herr weg ist, hat sie eine Einsiedelei drum
angelegt und ihr Grab dazu bestellen lassen," Es ist klar, das Grab des
Kindes und Stellas selbst ist der Altar, über den die Nosenzweige herabhängen.
Durch Hinzufügung eines kleinen Strichleins erhalten wir die richtige Lesart:
„Rasenaltar." Aber der Fehler ist ein alter, entstanden aus Goethes eigen¬
tümlicher Schreibweise, die a und o fast gleich bildete. Der Schreiber der vor¬
liegenden Handschrift, die noch im Jahre 1775 aus dem Autograph abgeschrieben
sein muß, schrieb denn auch wirklich Nosenaltar ab, Goethe aber hat das Wort
selbst gebessert. Eine der uusern sehr ähnliche, entschieden von demselben Schreiber
angefertigte Kopie des Urexemplars wurde als Druckvorlage benutzt, und hier
ist das kleine Verderbnis übersehen, das auf diese Weise sich in die erste
Ausgabe einfchlich und seitdem in allen Drucken der „Stella" stehen ge¬
blieben ist.

Eine weitere eigentümliche Stelle findet sich im ersten Akt beim Auftreten
Fernandos. Der Bediente sagt: „Soll ich gleich wieder einspannen und ihre
Sachen aufpacken lassen?" Fernando erwiedert ihm: „Du sollst's herein bringen,
sag' ich dir; herein." Dort der Plural: „Sachen," hier der Singular: „Du
sollst es herein bringen." Wie verträgt sich das? Es ist die Lesart aller Aus¬
gabe», und niemand hat bis jetzt Anstoß daran genommen. Einer meiner
Freunde meinte sogar, als ich ihn auf die Ungenauigkeit des Ausdrucks auf¬
merksam machte, hier liege gerade eine jener aus dem Leben des Volkes ge¬
schöpften Redensarten vor, die Goethe so trefflich zu verwerten gewußt habe;
darau rütteln zu wollen, sei Silbenstccherei. Daß ich es offen gestehe, der
Freund bekehrte mich nicht, ich stolperte stets von neuem über diesen Stein des
Anstoßes. Die Handschrift giebt eine überaus einfache Lösung des Rätsels. Der
Bediente hatte anfangs zu sagen: „Der andre Wagen ist schon da. Soll ich
ihr Felleisen nicht aufpacken lassen?" Goethe zog später vor, seinen Helden
nicht mit der gewöhnlichen, sondern mit Extrapost ankommen zu lassen, ein
simples Felleisen schien ihm für einen Mann, der sich den Luxus eines Bedienten
gönnen kann, zu wenig. Daher die Änderung. Aber dabei übersah er das
„sollst's!" Es blieb stehen und hat sich seitdem unangetastet erhalte». Der
Dichter war eben ein schlechter Korrektor, oder vielmehr er hat viele seiner erste»
Schriften gar nicht selbst korrigirt, gewiß auch die „Stella" nicht, die zudem in
demi fernen Berlin gedruckt wurde.

Noch manches könnte ich aus dem Manuskript der „Stella" mitteilen. Doch
genug der Beispiele; die angeführten werden genügen, um den Beweis zu liefern,
daß die Handschriften bei der Textkonstruktion nicht ohne Erfolg herangezogen
werden können.


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[0643] Zu Goethes funfzigjährigen Todestage. Was ist das, ein Rosenaltar? Die Szene stellt eine Einsiedelei in Stellas Garten vor, die genaue Schilderung derselben wird von der Postmeisterin im ersten Akte gegeben: „Sie hatte ein Kind; es starb ihr bald. Im Garten ist sein Grab, nur von Rasen, und seit der Herr weg ist, hat sie eine Einsiedelei drum angelegt und ihr Grab dazu bestellen lassen," Es ist klar, das Grab des Kindes und Stellas selbst ist der Altar, über den die Nosenzweige herabhängen. Durch Hinzufügung eines kleinen Strichleins erhalten wir die richtige Lesart: „Rasenaltar." Aber der Fehler ist ein alter, entstanden aus Goethes eigen¬ tümlicher Schreibweise, die a und o fast gleich bildete. Der Schreiber der vor¬ liegenden Handschrift, die noch im Jahre 1775 aus dem Autograph abgeschrieben sein muß, schrieb denn auch wirklich Nosenaltar ab, Goethe aber hat das Wort selbst gebessert. Eine der uusern sehr ähnliche, entschieden von demselben Schreiber angefertigte Kopie des Urexemplars wurde als Druckvorlage benutzt, und hier ist das kleine Verderbnis übersehen, das auf diese Weise sich in die erste Ausgabe einfchlich und seitdem in allen Drucken der „Stella" stehen ge¬ blieben ist. Eine weitere eigentümliche Stelle findet sich im ersten Akt beim Auftreten Fernandos. Der Bediente sagt: „Soll ich gleich wieder einspannen und ihre Sachen aufpacken lassen?" Fernando erwiedert ihm: „Du sollst's herein bringen, sag' ich dir; herein." Dort der Plural: „Sachen," hier der Singular: „Du sollst es herein bringen." Wie verträgt sich das? Es ist die Lesart aller Aus¬ gabe», und niemand hat bis jetzt Anstoß daran genommen. Einer meiner Freunde meinte sogar, als ich ihn auf die Ungenauigkeit des Ausdrucks auf¬ merksam machte, hier liege gerade eine jener aus dem Leben des Volkes ge¬ schöpften Redensarten vor, die Goethe so trefflich zu verwerten gewußt habe; darau rütteln zu wollen, sei Silbenstccherei. Daß ich es offen gestehe, der Freund bekehrte mich nicht, ich stolperte stets von neuem über diesen Stein des Anstoßes. Die Handschrift giebt eine überaus einfache Lösung des Rätsels. Der Bediente hatte anfangs zu sagen: „Der andre Wagen ist schon da. Soll ich ihr Felleisen nicht aufpacken lassen?" Goethe zog später vor, seinen Helden nicht mit der gewöhnlichen, sondern mit Extrapost ankommen zu lassen, ein simples Felleisen schien ihm für einen Mann, der sich den Luxus eines Bedienten gönnen kann, zu wenig. Daher die Änderung. Aber dabei übersah er das „sollst's!" Es blieb stehen und hat sich seitdem unangetastet erhalte». Der Dichter war eben ein schlechter Korrektor, oder vielmehr er hat viele seiner erste» Schriften gar nicht selbst korrigirt, gewiß auch die „Stella" nicht, die zudem in demi fernen Berlin gedruckt wurde. Noch manches könnte ich aus dem Manuskript der „Stella" mitteilen. Doch genug der Beispiele; die angeführten werden genügen, um den Beweis zu liefern, daß die Handschriften bei der Textkonstruktion nicht ohne Erfolg herangezogen werden können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/643>, abgerufen am 26.06.2024.