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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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wird sein, bei Werken, die Goethe selbst einer durchgreifenden Umarbeitung unter¬
zog, die einzelnen Formen gesondert zu behandeln. Damit ist zugleich die Not¬
wendigkeit einer chronologischen Anordnung gegeben. Freilich nicht etwa in der
Art, daß die Gedichte z. B. in allen Bänden zerstreut werden. Es wird sich
wohl im Gegenteil empfehlen, die sämmtlichen Gedichte in einer Abteilung zu
vereinigen, ebenso die naturwissenschaftlichen Arbeiten. Die andern Werke können
dann, wie dies schon für die Jugendzeit im "Jungen Goethe" durchgeführt worden
ist, in streng chronologischer Reihenfolge gegeben werden.

Goethe hat selbst öfters auf die Reinheit der Texte sein Augenmerk gewandt.
Wir wissen jetzt, inwieweit dies bei der Ausgabe letzter Hand, für die Göttling
gewonnen wurde, der Fall gewesen ist. Wir lernen aber auch zugleich die Grund¬
sätze kennen, die Goethe dabei befolgt wissen wollte. Sie gehen sämmtlich darauf
hinaus, kleinere Sprachunebeuheiteu und orthographische Seltsamkeiten zu tilgen.
Was uns dagegen als das höchste Resultat der wissenschaftlichen Kritik erscheint,
die Darlegung der verschiedenen Phasen im Entstehen des Dichterwerks -- das
hat Goethe nicht geben wollen, vielleicht nicht einmal geben können. Er hat
Göttling gegenüber es geradezu ausgesprochen, daß "keine Codices zu tolla-
tioniren" seien, daß "die früheren Ausgaben hier nur kümmerliche Nachweisung
geben würden." Daß er sich hierin geirrt, wissen wir dnrch die Arbeit von
Bernays, denn inwiefern bei der Feststellung des Textes auf die ersten Aus¬
gaben zurückgegangen werden muß, ist jetzt allgemein bekannt. Wichtiger ist die
Frage, ob und in welchem Grade die Handschriften bei der Textkonstruktion
heranzuziehen seien. Es ist deren eine ganz beträchtliche Zahl, teils ini Privat¬
besitz, teils im Besitz von öffentlichen Bibliotheken vorhanden. Aus ihnen er¬
halten wir bisweilen ganz neue, unbekannte Redaktionen, zumal bei Werken aus
den Jahren von 1773 bis vor der Italienischen Reise, auf welcher bekanntlich
zum Behuf der ersten bei Göschen erschienenen Gesammtausgabe eine ganze
Anzahl derselben der gründlichsten Umarbeitung vom Dichter unterzogen wurden.
Ans deu Handschriften können wir aber auch bisweilen grobe Fehler und Ver¬
schen, die vom ersten Druck an sich durch alle Ausgaben fortgeschlichen haben,
nachweisen und tilgen.

In den "Vögeln" sind z.B. gegen den Schluß des Stückes einige Zeilen
ausgefallen,*) die notwendig ergänzt werden müssen, um einen vernünftigen Sinn
zu erhalten. Ein böses Zeichen für unsre Gocthekritikcr ist es, daß man diese
Lücke nicht schon lange bemerkt hat, zumal da Aristophanes hier zum Vorbilde
gedient hat. Einige andre Beispiele aus " Stell"," vou der mir jüngst eine von
Goethe eigenhändig durchkorrigirte Handschrift vorgelegen, sind folgende. In
dem Monolog Stellas, der den vierten Akt eröffnet, finden sich die Worte:
"Hier soll er mich finden, hier an meinem Rosenaltar, unter meinen Rosenzweigen."



*) Vergleiche das Goethe-Jahrbuch 1881, S, 223.

wird sein, bei Werken, die Goethe selbst einer durchgreifenden Umarbeitung unter¬
zog, die einzelnen Formen gesondert zu behandeln. Damit ist zugleich die Not¬
wendigkeit einer chronologischen Anordnung gegeben. Freilich nicht etwa in der
Art, daß die Gedichte z. B. in allen Bänden zerstreut werden. Es wird sich
wohl im Gegenteil empfehlen, die sämmtlichen Gedichte in einer Abteilung zu
vereinigen, ebenso die naturwissenschaftlichen Arbeiten. Die andern Werke können
dann, wie dies schon für die Jugendzeit im „Jungen Goethe" durchgeführt worden
ist, in streng chronologischer Reihenfolge gegeben werden.

Goethe hat selbst öfters auf die Reinheit der Texte sein Augenmerk gewandt.
Wir wissen jetzt, inwieweit dies bei der Ausgabe letzter Hand, für die Göttling
gewonnen wurde, der Fall gewesen ist. Wir lernen aber auch zugleich die Grund¬
sätze kennen, die Goethe dabei befolgt wissen wollte. Sie gehen sämmtlich darauf
hinaus, kleinere Sprachunebeuheiteu und orthographische Seltsamkeiten zu tilgen.
Was uns dagegen als das höchste Resultat der wissenschaftlichen Kritik erscheint,
die Darlegung der verschiedenen Phasen im Entstehen des Dichterwerks — das
hat Goethe nicht geben wollen, vielleicht nicht einmal geben können. Er hat
Göttling gegenüber es geradezu ausgesprochen, daß „keine Codices zu tolla-
tioniren" seien, daß „die früheren Ausgaben hier nur kümmerliche Nachweisung
geben würden." Daß er sich hierin geirrt, wissen wir dnrch die Arbeit von
Bernays, denn inwiefern bei der Feststellung des Textes auf die ersten Aus¬
gaben zurückgegangen werden muß, ist jetzt allgemein bekannt. Wichtiger ist die
Frage, ob und in welchem Grade die Handschriften bei der Textkonstruktion
heranzuziehen seien. Es ist deren eine ganz beträchtliche Zahl, teils ini Privat¬
besitz, teils im Besitz von öffentlichen Bibliotheken vorhanden. Aus ihnen er¬
halten wir bisweilen ganz neue, unbekannte Redaktionen, zumal bei Werken aus
den Jahren von 1773 bis vor der Italienischen Reise, auf welcher bekanntlich
zum Behuf der ersten bei Göschen erschienenen Gesammtausgabe eine ganze
Anzahl derselben der gründlichsten Umarbeitung vom Dichter unterzogen wurden.
Ans deu Handschriften können wir aber auch bisweilen grobe Fehler und Ver¬
schen, die vom ersten Druck an sich durch alle Ausgaben fortgeschlichen haben,
nachweisen und tilgen.

In den „Vögeln" sind z.B. gegen den Schluß des Stückes einige Zeilen
ausgefallen,*) die notwendig ergänzt werden müssen, um einen vernünftigen Sinn
zu erhalten. Ein böses Zeichen für unsre Gocthekritikcr ist es, daß man diese
Lücke nicht schon lange bemerkt hat, zumal da Aristophanes hier zum Vorbilde
gedient hat. Einige andre Beispiele aus „ Stell«," vou der mir jüngst eine von
Goethe eigenhändig durchkorrigirte Handschrift vorgelegen, sind folgende. In
dem Monolog Stellas, der den vierten Akt eröffnet, finden sich die Worte:
„Hier soll er mich finden, hier an meinem Rosenaltar, unter meinen Rosenzweigen."



*) Vergleiche das Goethe-Jahrbuch 1881, S, 223.
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[0642] wird sein, bei Werken, die Goethe selbst einer durchgreifenden Umarbeitung unter¬ zog, die einzelnen Formen gesondert zu behandeln. Damit ist zugleich die Not¬ wendigkeit einer chronologischen Anordnung gegeben. Freilich nicht etwa in der Art, daß die Gedichte z. B. in allen Bänden zerstreut werden. Es wird sich wohl im Gegenteil empfehlen, die sämmtlichen Gedichte in einer Abteilung zu vereinigen, ebenso die naturwissenschaftlichen Arbeiten. Die andern Werke können dann, wie dies schon für die Jugendzeit im „Jungen Goethe" durchgeführt worden ist, in streng chronologischer Reihenfolge gegeben werden. Goethe hat selbst öfters auf die Reinheit der Texte sein Augenmerk gewandt. Wir wissen jetzt, inwieweit dies bei der Ausgabe letzter Hand, für die Göttling gewonnen wurde, der Fall gewesen ist. Wir lernen aber auch zugleich die Grund¬ sätze kennen, die Goethe dabei befolgt wissen wollte. Sie gehen sämmtlich darauf hinaus, kleinere Sprachunebeuheiteu und orthographische Seltsamkeiten zu tilgen. Was uns dagegen als das höchste Resultat der wissenschaftlichen Kritik erscheint, die Darlegung der verschiedenen Phasen im Entstehen des Dichterwerks — das hat Goethe nicht geben wollen, vielleicht nicht einmal geben können. Er hat Göttling gegenüber es geradezu ausgesprochen, daß „keine Codices zu tolla- tioniren" seien, daß „die früheren Ausgaben hier nur kümmerliche Nachweisung geben würden." Daß er sich hierin geirrt, wissen wir dnrch die Arbeit von Bernays, denn inwiefern bei der Feststellung des Textes auf die ersten Aus¬ gaben zurückgegangen werden muß, ist jetzt allgemein bekannt. Wichtiger ist die Frage, ob und in welchem Grade die Handschriften bei der Textkonstruktion heranzuziehen seien. Es ist deren eine ganz beträchtliche Zahl, teils ini Privat¬ besitz, teils im Besitz von öffentlichen Bibliotheken vorhanden. Aus ihnen er¬ halten wir bisweilen ganz neue, unbekannte Redaktionen, zumal bei Werken aus den Jahren von 1773 bis vor der Italienischen Reise, auf welcher bekanntlich zum Behuf der ersten bei Göschen erschienenen Gesammtausgabe eine ganze Anzahl derselben der gründlichsten Umarbeitung vom Dichter unterzogen wurden. Ans deu Handschriften können wir aber auch bisweilen grobe Fehler und Ver¬ schen, die vom ersten Druck an sich durch alle Ausgaben fortgeschlichen haben, nachweisen und tilgen. In den „Vögeln" sind z.B. gegen den Schluß des Stückes einige Zeilen ausgefallen,*) die notwendig ergänzt werden müssen, um einen vernünftigen Sinn zu erhalten. Ein böses Zeichen für unsre Gocthekritikcr ist es, daß man diese Lücke nicht schon lange bemerkt hat, zumal da Aristophanes hier zum Vorbilde gedient hat. Einige andre Beispiele aus „ Stell«," vou der mir jüngst eine von Goethe eigenhändig durchkorrigirte Handschrift vorgelegen, sind folgende. In dem Monolog Stellas, der den vierten Akt eröffnet, finden sich die Worte: „Hier soll er mich finden, hier an meinem Rosenaltar, unter meinen Rosenzweigen." *) Vergleiche das Goethe-Jahrbuch 1881, S, 223.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/642>, abgerufen am 26.06.2024.