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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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mit Freuden solchen Zweck zu fördern bereit sein würden -- liegt das gesammte
Rohmaterial vor.

Schwieriger zu bewältigen ist die zweite Forderung, die wir erheben. Eine
kritische Goetheausgnbe kann nur dnrch das einmütige Zusammenwirken mehrerer
gleichstrebenden und sicher geschulten Genossen zustande kommen. In der so¬
genannten Hcmpelschen Ausgabe liegt ein nicht zu unterschätzender erster Versuch
vor. Aber jeder tiefer i" das Goethestudium Eingedrungen" weiß, daß nur die
Arbeiten, die G. v. Loeper, W. v. Biedermann und Kalischer für dieselbe ge¬
liefert haben, stichhaltig sind. Zudem hat die Hampelsche Ausgabe den Goethe¬
text, wie er in der Ausgabe letzter Hand vorliegt, gewissermaßen dämonisirt, und
in Bezug auf die Orthographie ist sie ganz den modernen Prinzipien gefolgt.
Da ursprünglich nur beabsichtigt war, einen Text zu geben, der -- im geraden
Gegensatz zu den Cottaschen Ausgaben, die von Jahr zu Jahr an größeren Ver¬
derbnissen litten, bis auch hier Karl Goedeke heilend eingriff -- möglichst fehler¬
frei sein sollte, die Ausgabe zudem dem Bedürfnis aller Gebildeten in unserm
Volke zu Gute kommen sollte, so konnte auch wohl kaum anders vorgegangen
werden. Es fragt sich aber, ob bei einer durchaus kritischen Ausgabe derselbe
Weg innegehalten iverdcn kann. Ein zweifaches Verfahren für die Wiedergabe
des Textes läßt sich denken. Man kann entweder die erste Gestalt eines Werkes
dem Text zu Grunde legen und die Abweichungen der spätern Drucke oder Um¬
arbeitungen in den Noten beibringen, oder man giebt umgekehrt die Gestalt,
die das betreffende Werk noch zu Goethes Lebzeiten zuletzt erhalten, im Text
und die Abweichungen der frühern Rezensionen in den Noten, und zwar so,
daß die erste Form in denselben an letzter Stelle verzeichnet wird. Beides wird
seine Berechtigung habe", beides aber noch nicht ausreichen. Um ein bestimmtes
Beispiel zu wählen: bei der "Iphigenie" ließe sich nur durch ein Ncbeneiucmder-
drncken der älteren prosaischen Gestalt und der in fünffüßigen Jamben geschrie¬
benen ein Überblick ermöglichen. Beiden Texten müßten dann wiederum Bari¬
anten beigegeben werden; hier, bei dem prosaischen, die Abweichungen der zweiten
und dritten Bearbeitung, dort, bei der in Versen geschriebenen, die der ursprüng¬
lichen rhythmischen, freilich bis auf den heutigem Tag noch verborgenen Gestalt.
Bei andern Werken wird selbst ein solches Verfahren unmöglich sein. Wir wissen,
daß die erste Gestalt, welche die "Mitschuldigen" hatten (auch diese Handschrift
ist noch nicht aus ihrem Gewahrsam in Privatbauten gelöst), ganz kurz, die
Handlung in einen Akt zusammengedrängt war. Der Text im "Jungen Goethe"
zeigt schon eine Verteilung auf drei Akte. Eine Gegenüberstellung der Texte
wird hier ganz unmöglich fein, wir würden eine stattliche Anzahl leerer Ko¬
lumnen oder Seiten neben der zweiten Gestalt erhalten. Genug, die kritische
Ausgabe wird für jeden Fall zu erwägen haben, wie im Besondern vorzugehen
sei. Die von Goedeke besorgte kritische Ausgabe der Werke Schillers wird hier
gewiß Anleitung geben, meistenteils sogar Vorbild sein können. Das Richtige


mit Freuden solchen Zweck zu fördern bereit sein würden — liegt das gesammte
Rohmaterial vor.

Schwieriger zu bewältigen ist die zweite Forderung, die wir erheben. Eine
kritische Goetheausgnbe kann nur dnrch das einmütige Zusammenwirken mehrerer
gleichstrebenden und sicher geschulten Genossen zustande kommen. In der so¬
genannten Hcmpelschen Ausgabe liegt ein nicht zu unterschätzender erster Versuch
vor. Aber jeder tiefer i» das Goethestudium Eingedrungen« weiß, daß nur die
Arbeiten, die G. v. Loeper, W. v. Biedermann und Kalischer für dieselbe ge¬
liefert haben, stichhaltig sind. Zudem hat die Hampelsche Ausgabe den Goethe¬
text, wie er in der Ausgabe letzter Hand vorliegt, gewissermaßen dämonisirt, und
in Bezug auf die Orthographie ist sie ganz den modernen Prinzipien gefolgt.
Da ursprünglich nur beabsichtigt war, einen Text zu geben, der — im geraden
Gegensatz zu den Cottaschen Ausgaben, die von Jahr zu Jahr an größeren Ver¬
derbnissen litten, bis auch hier Karl Goedeke heilend eingriff — möglichst fehler¬
frei sein sollte, die Ausgabe zudem dem Bedürfnis aller Gebildeten in unserm
Volke zu Gute kommen sollte, so konnte auch wohl kaum anders vorgegangen
werden. Es fragt sich aber, ob bei einer durchaus kritischen Ausgabe derselbe
Weg innegehalten iverdcn kann. Ein zweifaches Verfahren für die Wiedergabe
des Textes läßt sich denken. Man kann entweder die erste Gestalt eines Werkes
dem Text zu Grunde legen und die Abweichungen der spätern Drucke oder Um¬
arbeitungen in den Noten beibringen, oder man giebt umgekehrt die Gestalt,
die das betreffende Werk noch zu Goethes Lebzeiten zuletzt erhalten, im Text
und die Abweichungen der frühern Rezensionen in den Noten, und zwar so,
daß die erste Form in denselben an letzter Stelle verzeichnet wird. Beides wird
seine Berechtigung habe», beides aber noch nicht ausreichen. Um ein bestimmtes
Beispiel zu wählen: bei der „Iphigenie" ließe sich nur durch ein Ncbeneiucmder-
drncken der älteren prosaischen Gestalt und der in fünffüßigen Jamben geschrie¬
benen ein Überblick ermöglichen. Beiden Texten müßten dann wiederum Bari¬
anten beigegeben werden; hier, bei dem prosaischen, die Abweichungen der zweiten
und dritten Bearbeitung, dort, bei der in Versen geschriebenen, die der ursprüng¬
lichen rhythmischen, freilich bis auf den heutigem Tag noch verborgenen Gestalt.
Bei andern Werken wird selbst ein solches Verfahren unmöglich sein. Wir wissen,
daß die erste Gestalt, welche die „Mitschuldigen" hatten (auch diese Handschrift
ist noch nicht aus ihrem Gewahrsam in Privatbauten gelöst), ganz kurz, die
Handlung in einen Akt zusammengedrängt war. Der Text im „Jungen Goethe"
zeigt schon eine Verteilung auf drei Akte. Eine Gegenüberstellung der Texte
wird hier ganz unmöglich fein, wir würden eine stattliche Anzahl leerer Ko¬
lumnen oder Seiten neben der zweiten Gestalt erhalten. Genug, die kritische
Ausgabe wird für jeden Fall zu erwägen haben, wie im Besondern vorzugehen
sei. Die von Goedeke besorgte kritische Ausgabe der Werke Schillers wird hier
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[0641] mit Freuden solchen Zweck zu fördern bereit sein würden — liegt das gesammte Rohmaterial vor. Schwieriger zu bewältigen ist die zweite Forderung, die wir erheben. Eine kritische Goetheausgnbe kann nur dnrch das einmütige Zusammenwirken mehrerer gleichstrebenden und sicher geschulten Genossen zustande kommen. In der so¬ genannten Hcmpelschen Ausgabe liegt ein nicht zu unterschätzender erster Versuch vor. Aber jeder tiefer i» das Goethestudium Eingedrungen« weiß, daß nur die Arbeiten, die G. v. Loeper, W. v. Biedermann und Kalischer für dieselbe ge¬ liefert haben, stichhaltig sind. Zudem hat die Hampelsche Ausgabe den Goethe¬ text, wie er in der Ausgabe letzter Hand vorliegt, gewissermaßen dämonisirt, und in Bezug auf die Orthographie ist sie ganz den modernen Prinzipien gefolgt. Da ursprünglich nur beabsichtigt war, einen Text zu geben, der — im geraden Gegensatz zu den Cottaschen Ausgaben, die von Jahr zu Jahr an größeren Ver¬ derbnissen litten, bis auch hier Karl Goedeke heilend eingriff — möglichst fehler¬ frei sein sollte, die Ausgabe zudem dem Bedürfnis aller Gebildeten in unserm Volke zu Gute kommen sollte, so konnte auch wohl kaum anders vorgegangen werden. Es fragt sich aber, ob bei einer durchaus kritischen Ausgabe derselbe Weg innegehalten iverdcn kann. Ein zweifaches Verfahren für die Wiedergabe des Textes läßt sich denken. Man kann entweder die erste Gestalt eines Werkes dem Text zu Grunde legen und die Abweichungen der spätern Drucke oder Um¬ arbeitungen in den Noten beibringen, oder man giebt umgekehrt die Gestalt, die das betreffende Werk noch zu Goethes Lebzeiten zuletzt erhalten, im Text und die Abweichungen der frühern Rezensionen in den Noten, und zwar so, daß die erste Form in denselben an letzter Stelle verzeichnet wird. Beides wird seine Berechtigung habe», beides aber noch nicht ausreichen. Um ein bestimmtes Beispiel zu wählen: bei der „Iphigenie" ließe sich nur durch ein Ncbeneiucmder- drncken der älteren prosaischen Gestalt und der in fünffüßigen Jamben geschrie¬ benen ein Überblick ermöglichen. Beiden Texten müßten dann wiederum Bari¬ anten beigegeben werden; hier, bei dem prosaischen, die Abweichungen der zweiten und dritten Bearbeitung, dort, bei der in Versen geschriebenen, die der ursprüng¬ lichen rhythmischen, freilich bis auf den heutigem Tag noch verborgenen Gestalt. Bei andern Werken wird selbst ein solches Verfahren unmöglich sein. Wir wissen, daß die erste Gestalt, welche die „Mitschuldigen" hatten (auch diese Handschrift ist noch nicht aus ihrem Gewahrsam in Privatbauten gelöst), ganz kurz, die Handlung in einen Akt zusammengedrängt war. Der Text im „Jungen Goethe" zeigt schon eine Verteilung auf drei Akte. Eine Gegenüberstellung der Texte wird hier ganz unmöglich fein, wir würden eine stattliche Anzahl leerer Ko¬ lumnen oder Seiten neben der zweiten Gestalt erhalten. Genug, die kritische Ausgabe wird für jeden Fall zu erwägen haben, wie im Besondern vorzugehen sei. Die von Goedeke besorgte kritische Ausgabe der Werke Schillers wird hier gewiß Anleitung geben, meistenteils sogar Vorbild sein können. Das Richtige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/641>, abgerufen am 26.06.2024.