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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Dunkel des Hausarchives liegen müssen. So vermissen wir bis auf den heutigen
Tag die erste Gestalt der "Lehrjahre Wilhelm Meisters," die den Titel "Wil¬
helm Meisters theatralische Sendung" hatte und weit größer angelegt war als
das später veröffentlichte Werk. Wir vermissen die prosaische Form des "Tasso,"
die ursprüngliche Gestalt der meisten kleinen, in den zehn ersten Weimarer Jahren
für das herzogliche Liebhabertheater geschriebenen Stücke. Wir vermissen die
Tagebücher, die Goethe mit seltener Gewissenhaftigkeit bis an sein Lebensende
geführt hat. Wir vermissen die zahlreichen, von dem Dichter geführten Korre¬
spondenzen, von jenen zwei aus Straßburg an den Frankfurter Jugendfreund
geschriebenen Briefen an bis auf die letzten Lebensjahre. Denn was uns bisher
im Auftrage der Goethescher Erben geboten worden, ist nur karge Gabe, ein
Bettelgroschen. Niemand kann freilich die Erben Goethes zwingen, die ihrer
Obhut anvertrauten Schriftstücke allgemein zugänglich zu machen, ein Gesetz
dafür giebt es in Deutschland nicht. Wohl aber giebt es eine Ehrenpflicht, die
den Trägern eines großen Namens obliegt. Das haben die Nachkommen
Schillers gewußt -- wissen es die beiden Herren von Goethe wirklich nicht?

Trotz alledem ist wissenschaftliche Arbeit in großem Umfange an und für
Goethe möglich. Irren wir nicht, so hat schon Wilhelm Scherer einmal darauf
hingewiesen, daß es unumgänglich notwendig sei, die Briefe Goethes in ihrer
Gesammtheit zu verzeichnen und herauszugeben. Zwei ältere Arbeiten der Art
besitzen wir, beide unvollständig, und was schlimmer ist, beide ohne wissenschaft¬
liches Verständnis gemacht; die Texte sind lückenhaft und von Fehlern der
gröbsten Art entstellt. Seit dem Schluß des vergangenen Jahres hat Strehlke
sich der Aufgabe unterzogen, ein Verzeichnis der sämmtlichen Briefe zu geben.
Er hat überdies in den bis jetzt erschienenen fünf Heftchen das Material aus
ungedruckten Hilfsmitteln reich vermehren können. Aber seine Arbeit leidet an
einem falschen Prinzip. Er giebt die Briefe nach den alphabetisch geordneten
Empfängern, verzeichnet die Druckorte, die Anfangsworte der einzelnen Schreiben,
läßt aber den Inhalt derselben gänzlich unberücksichtigt. Seine Arbeit leidet
außerdem an Flüchtigkeitssehlern schlimmster Art -- um nicht einen härtern
Ausdruck zu brauchen. Was uns notthut, ist dies. Nach dem Vorbilde der
mittelalterlichen Nrkundenregesten siud auch die Briefe Goethes -- beiläufig ge¬
sagt, sind gegen 10 000 Stück jetzt durch den Druck bekannt -- chronologisch
zu verzeichnen. Kann dabei ans der reichhaltigen Literatur ein Jtinerar Goethes
gegeben werden, so würde die Arbeit an inneren Werte ungemein gewinnen.
Aber auch ohne ein solches wäre sie fördernd, ja zum genauern Verständnis
unerläßlich. Hier kann eine unsrer deutschen Akademien, die wir fast nur zu
sehr im grauen Altertum wandeln zu sehen gewohnt sind, sich ein großes und
bleibendes Verdienst durch Stellung einer dahin zielenden Preisaufgabe erwerben.
Auch ist die Aufgabe nicht allzu schwer, in der Hirzelschen Goethebibliothek, in
den Sammlungen von Loepers und Wvldemars von Biedermann -- die gewiß


Dunkel des Hausarchives liegen müssen. So vermissen wir bis auf den heutigen
Tag die erste Gestalt der „Lehrjahre Wilhelm Meisters," die den Titel „Wil¬
helm Meisters theatralische Sendung" hatte und weit größer angelegt war als
das später veröffentlichte Werk. Wir vermissen die prosaische Form des „Tasso,"
die ursprüngliche Gestalt der meisten kleinen, in den zehn ersten Weimarer Jahren
für das herzogliche Liebhabertheater geschriebenen Stücke. Wir vermissen die
Tagebücher, die Goethe mit seltener Gewissenhaftigkeit bis an sein Lebensende
geführt hat. Wir vermissen die zahlreichen, von dem Dichter geführten Korre¬
spondenzen, von jenen zwei aus Straßburg an den Frankfurter Jugendfreund
geschriebenen Briefen an bis auf die letzten Lebensjahre. Denn was uns bisher
im Auftrage der Goethescher Erben geboten worden, ist nur karge Gabe, ein
Bettelgroschen. Niemand kann freilich die Erben Goethes zwingen, die ihrer
Obhut anvertrauten Schriftstücke allgemein zugänglich zu machen, ein Gesetz
dafür giebt es in Deutschland nicht. Wohl aber giebt es eine Ehrenpflicht, die
den Trägern eines großen Namens obliegt. Das haben die Nachkommen
Schillers gewußt — wissen es die beiden Herren von Goethe wirklich nicht?

Trotz alledem ist wissenschaftliche Arbeit in großem Umfange an und für
Goethe möglich. Irren wir nicht, so hat schon Wilhelm Scherer einmal darauf
hingewiesen, daß es unumgänglich notwendig sei, die Briefe Goethes in ihrer
Gesammtheit zu verzeichnen und herauszugeben. Zwei ältere Arbeiten der Art
besitzen wir, beide unvollständig, und was schlimmer ist, beide ohne wissenschaft¬
liches Verständnis gemacht; die Texte sind lückenhaft und von Fehlern der
gröbsten Art entstellt. Seit dem Schluß des vergangenen Jahres hat Strehlke
sich der Aufgabe unterzogen, ein Verzeichnis der sämmtlichen Briefe zu geben.
Er hat überdies in den bis jetzt erschienenen fünf Heftchen das Material aus
ungedruckten Hilfsmitteln reich vermehren können. Aber seine Arbeit leidet an
einem falschen Prinzip. Er giebt die Briefe nach den alphabetisch geordneten
Empfängern, verzeichnet die Druckorte, die Anfangsworte der einzelnen Schreiben,
läßt aber den Inhalt derselben gänzlich unberücksichtigt. Seine Arbeit leidet
außerdem an Flüchtigkeitssehlern schlimmster Art — um nicht einen härtern
Ausdruck zu brauchen. Was uns notthut, ist dies. Nach dem Vorbilde der
mittelalterlichen Nrkundenregesten siud auch die Briefe Goethes — beiläufig ge¬
sagt, sind gegen 10 000 Stück jetzt durch den Druck bekannt — chronologisch
zu verzeichnen. Kann dabei ans der reichhaltigen Literatur ein Jtinerar Goethes
gegeben werden, so würde die Arbeit an inneren Werte ungemein gewinnen.
Aber auch ohne ein solches wäre sie fördernd, ja zum genauern Verständnis
unerläßlich. Hier kann eine unsrer deutschen Akademien, die wir fast nur zu
sehr im grauen Altertum wandeln zu sehen gewohnt sind, sich ein großes und
bleibendes Verdienst durch Stellung einer dahin zielenden Preisaufgabe erwerben.
Auch ist die Aufgabe nicht allzu schwer, in der Hirzelschen Goethebibliothek, in
den Sammlungen von Loepers und Wvldemars von Biedermann — die gewiß


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[0640] Dunkel des Hausarchives liegen müssen. So vermissen wir bis auf den heutigen Tag die erste Gestalt der „Lehrjahre Wilhelm Meisters," die den Titel „Wil¬ helm Meisters theatralische Sendung" hatte und weit größer angelegt war als das später veröffentlichte Werk. Wir vermissen die prosaische Form des „Tasso," die ursprüngliche Gestalt der meisten kleinen, in den zehn ersten Weimarer Jahren für das herzogliche Liebhabertheater geschriebenen Stücke. Wir vermissen die Tagebücher, die Goethe mit seltener Gewissenhaftigkeit bis an sein Lebensende geführt hat. Wir vermissen die zahlreichen, von dem Dichter geführten Korre¬ spondenzen, von jenen zwei aus Straßburg an den Frankfurter Jugendfreund geschriebenen Briefen an bis auf die letzten Lebensjahre. Denn was uns bisher im Auftrage der Goethescher Erben geboten worden, ist nur karge Gabe, ein Bettelgroschen. Niemand kann freilich die Erben Goethes zwingen, die ihrer Obhut anvertrauten Schriftstücke allgemein zugänglich zu machen, ein Gesetz dafür giebt es in Deutschland nicht. Wohl aber giebt es eine Ehrenpflicht, die den Trägern eines großen Namens obliegt. Das haben die Nachkommen Schillers gewußt — wissen es die beiden Herren von Goethe wirklich nicht? Trotz alledem ist wissenschaftliche Arbeit in großem Umfange an und für Goethe möglich. Irren wir nicht, so hat schon Wilhelm Scherer einmal darauf hingewiesen, daß es unumgänglich notwendig sei, die Briefe Goethes in ihrer Gesammtheit zu verzeichnen und herauszugeben. Zwei ältere Arbeiten der Art besitzen wir, beide unvollständig, und was schlimmer ist, beide ohne wissenschaft¬ liches Verständnis gemacht; die Texte sind lückenhaft und von Fehlern der gröbsten Art entstellt. Seit dem Schluß des vergangenen Jahres hat Strehlke sich der Aufgabe unterzogen, ein Verzeichnis der sämmtlichen Briefe zu geben. Er hat überdies in den bis jetzt erschienenen fünf Heftchen das Material aus ungedruckten Hilfsmitteln reich vermehren können. Aber seine Arbeit leidet an einem falschen Prinzip. Er giebt die Briefe nach den alphabetisch geordneten Empfängern, verzeichnet die Druckorte, die Anfangsworte der einzelnen Schreiben, läßt aber den Inhalt derselben gänzlich unberücksichtigt. Seine Arbeit leidet außerdem an Flüchtigkeitssehlern schlimmster Art — um nicht einen härtern Ausdruck zu brauchen. Was uns notthut, ist dies. Nach dem Vorbilde der mittelalterlichen Nrkundenregesten siud auch die Briefe Goethes — beiläufig ge¬ sagt, sind gegen 10 000 Stück jetzt durch den Druck bekannt — chronologisch zu verzeichnen. Kann dabei ans der reichhaltigen Literatur ein Jtinerar Goethes gegeben werden, so würde die Arbeit an inneren Werte ungemein gewinnen. Aber auch ohne ein solches wäre sie fördernd, ja zum genauern Verständnis unerläßlich. Hier kann eine unsrer deutschen Akademien, die wir fast nur zu sehr im grauen Altertum wandeln zu sehen gewohnt sind, sich ein großes und bleibendes Verdienst durch Stellung einer dahin zielenden Preisaufgabe erwerben. Auch ist die Aufgabe nicht allzu schwer, in der Hirzelschen Goethebibliothek, in den Sammlungen von Loepers und Wvldemars von Biedermann — die gewiß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/640>, abgerufen am 26.06.2024.