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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Zu Goethes funfzigjährigen Todestage.

grundlegende Arbeit von Michael Bernays "Über Kritik und Geschichte des
Goethescheu Textes/' Hier, und zwar mit Hilfe der von Hirzel gesammelten
Drucke, wurde dargelegt, wie der Goetyetext, vornehmlich der der Jugendwerke,
von Ausgabe zu Ausgabe mehr verderbt worden, hier aber auch mit sicherem
Blick und sorgsamer Hand Heilung der Schäden geboten. Im Spätsommer des
Jahres 1866 wurde Bernays' Arbeit gedruckt. Die neu erwachende deutsche
Bewegung spiegelt sich in den tief empfundenen Schlußworten wieder. Wir,
die wir jetzt im neuen Deutschen Reiche leben, wir, denen über Bitten und Ver¬
stehen der volle Lebensinhalt gegeben ist, ein Kaiser und ein Staat, wir wissen
jetzt, wie die großen Geister unsrer Nation, allen voran Goethe, der Einheit
und Herrlichkeit des deutschen Volkes vorgearbeitet haben.

In solch froher Wissensznversicht wollen wir denn auch unsre Goethearbeit
fortsetzen, denn wer Goethe dient, dient Deutschland. Und unendlich viel ist
noch für unsern Dichter zu thun. Drei Hauptaufgaben hat die Goethephilo¬
logie noch zu bewältigen. Wir verlangen -- oder dürfen wir nur sagen: wir
wünschen? --.- 1) ein Verzeichnis sämmtlicher von Goethe ausgegan¬
genen Briefe, womöglich eine vollständige Sammlung derselben;
2) eine kritische Ausgabe seiner Werke; 3) ein Leben Goethes. Mit
kurzen Worten wollen wir diese drei Hauptaufgaben betrachten.

Gemeinsame Voraussetzung für alle drei ist, daß das Archiv des Goethe¬
hauses in Weimar endlich der Forschung erschlossen werde. Was in seinen
Räumen noch verborgen liegt, weiß kein Mensch. Möglich, daß unsre Erwar¬
tungen allzu hoch gespannt sind. Gleichviel: die Erwartungen um sich sind
berechtigt und müssen über kurz oder lang doch befriedigt werden. An Ver¬
suchen, die Sammlungen des Goethehauses sür die deutsche Nation zu erwerben,
hat es weder in den Zeiten des selig entschlafenen Deutschen Bundes, noch in
unsern Tagen gefehlt. Sie find sämmtlich kläglich an dem Widerstand der beiden
Enkel des Dichters, den beiden letzten Trägern des Namens Goethe, gescheitert.
Und doch haben sich diese beiden Enkel nicht gescheut, mit den kostbarsten Reliquien
des Hauses Handel zu treiben! Die Originale des Schiller-Goethescher Brief¬
wechsels entgingen der Verzettelung an Autographenhändler oder der Wanderung
nach dem Auslande nur durch das Dazwischentreten der Cottaschen Buchhand¬
lung, welche diesen Schatz für sich erwarb. Die erste Gestalt des "Götz von
Berlichingen" lag, als das Goethehans noch geöffnet war, im Arbeitszimmer
des Dichters aus. Als die lange verschlossenen Pforten dem deutschen Schrift¬
stellertage vor etwa zwei Jahren erschlossen waren, wo war da die kostbare
Handschrift geblieben? Schon lauge vor diesem Tage konnte man in Lvepers
Kommentar zu "Dichtung und Wahrheit" die Andeutung finden, der König von
Baiern sei jetzt der Hüter dieses Schatzes! Aus Riemers "Mitteilungen über
Goethe," aus Eckermanns "Gesprächen" mit dem Dichter kann man ein statt¬
liches Verzeichnis von Goethemanuskripten aufstellen, die notwendigerweise im


Zu Goethes funfzigjährigen Todestage.

grundlegende Arbeit von Michael Bernays „Über Kritik und Geschichte des
Goethescheu Textes/' Hier, und zwar mit Hilfe der von Hirzel gesammelten
Drucke, wurde dargelegt, wie der Goetyetext, vornehmlich der der Jugendwerke,
von Ausgabe zu Ausgabe mehr verderbt worden, hier aber auch mit sicherem
Blick und sorgsamer Hand Heilung der Schäden geboten. Im Spätsommer des
Jahres 1866 wurde Bernays' Arbeit gedruckt. Die neu erwachende deutsche
Bewegung spiegelt sich in den tief empfundenen Schlußworten wieder. Wir,
die wir jetzt im neuen Deutschen Reiche leben, wir, denen über Bitten und Ver¬
stehen der volle Lebensinhalt gegeben ist, ein Kaiser und ein Staat, wir wissen
jetzt, wie die großen Geister unsrer Nation, allen voran Goethe, der Einheit
und Herrlichkeit des deutschen Volkes vorgearbeitet haben.

In solch froher Wissensznversicht wollen wir denn auch unsre Goethearbeit
fortsetzen, denn wer Goethe dient, dient Deutschland. Und unendlich viel ist
noch für unsern Dichter zu thun. Drei Hauptaufgaben hat die Goethephilo¬
logie noch zu bewältigen. Wir verlangen — oder dürfen wir nur sagen: wir
wünschen? —.- 1) ein Verzeichnis sämmtlicher von Goethe ausgegan¬
genen Briefe, womöglich eine vollständige Sammlung derselben;
2) eine kritische Ausgabe seiner Werke; 3) ein Leben Goethes. Mit
kurzen Worten wollen wir diese drei Hauptaufgaben betrachten.

Gemeinsame Voraussetzung für alle drei ist, daß das Archiv des Goethe¬
hauses in Weimar endlich der Forschung erschlossen werde. Was in seinen
Räumen noch verborgen liegt, weiß kein Mensch. Möglich, daß unsre Erwar¬
tungen allzu hoch gespannt sind. Gleichviel: die Erwartungen um sich sind
berechtigt und müssen über kurz oder lang doch befriedigt werden. An Ver¬
suchen, die Sammlungen des Goethehauses sür die deutsche Nation zu erwerben,
hat es weder in den Zeiten des selig entschlafenen Deutschen Bundes, noch in
unsern Tagen gefehlt. Sie find sämmtlich kläglich an dem Widerstand der beiden
Enkel des Dichters, den beiden letzten Trägern des Namens Goethe, gescheitert.
Und doch haben sich diese beiden Enkel nicht gescheut, mit den kostbarsten Reliquien
des Hauses Handel zu treiben! Die Originale des Schiller-Goethescher Brief¬
wechsels entgingen der Verzettelung an Autographenhändler oder der Wanderung
nach dem Auslande nur durch das Dazwischentreten der Cottaschen Buchhand¬
lung, welche diesen Schatz für sich erwarb. Die erste Gestalt des „Götz von
Berlichingen" lag, als das Goethehans noch geöffnet war, im Arbeitszimmer
des Dichters aus. Als die lange verschlossenen Pforten dem deutschen Schrift¬
stellertage vor etwa zwei Jahren erschlossen waren, wo war da die kostbare
Handschrift geblieben? Schon lauge vor diesem Tage konnte man in Lvepers
Kommentar zu „Dichtung und Wahrheit" die Andeutung finden, der König von
Baiern sei jetzt der Hüter dieses Schatzes! Aus Riemers „Mitteilungen über
Goethe," aus Eckermanns „Gesprächen" mit dem Dichter kann man ein statt¬
liches Verzeichnis von Goethemanuskripten aufstellen, die notwendigerweise im


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[0639] Zu Goethes funfzigjährigen Todestage. grundlegende Arbeit von Michael Bernays „Über Kritik und Geschichte des Goethescheu Textes/' Hier, und zwar mit Hilfe der von Hirzel gesammelten Drucke, wurde dargelegt, wie der Goetyetext, vornehmlich der der Jugendwerke, von Ausgabe zu Ausgabe mehr verderbt worden, hier aber auch mit sicherem Blick und sorgsamer Hand Heilung der Schäden geboten. Im Spätsommer des Jahres 1866 wurde Bernays' Arbeit gedruckt. Die neu erwachende deutsche Bewegung spiegelt sich in den tief empfundenen Schlußworten wieder. Wir, die wir jetzt im neuen Deutschen Reiche leben, wir, denen über Bitten und Ver¬ stehen der volle Lebensinhalt gegeben ist, ein Kaiser und ein Staat, wir wissen jetzt, wie die großen Geister unsrer Nation, allen voran Goethe, der Einheit und Herrlichkeit des deutschen Volkes vorgearbeitet haben. In solch froher Wissensznversicht wollen wir denn auch unsre Goethearbeit fortsetzen, denn wer Goethe dient, dient Deutschland. Und unendlich viel ist noch für unsern Dichter zu thun. Drei Hauptaufgaben hat die Goethephilo¬ logie noch zu bewältigen. Wir verlangen — oder dürfen wir nur sagen: wir wünschen? —.- 1) ein Verzeichnis sämmtlicher von Goethe ausgegan¬ genen Briefe, womöglich eine vollständige Sammlung derselben; 2) eine kritische Ausgabe seiner Werke; 3) ein Leben Goethes. Mit kurzen Worten wollen wir diese drei Hauptaufgaben betrachten. Gemeinsame Voraussetzung für alle drei ist, daß das Archiv des Goethe¬ hauses in Weimar endlich der Forschung erschlossen werde. Was in seinen Räumen noch verborgen liegt, weiß kein Mensch. Möglich, daß unsre Erwar¬ tungen allzu hoch gespannt sind. Gleichviel: die Erwartungen um sich sind berechtigt und müssen über kurz oder lang doch befriedigt werden. An Ver¬ suchen, die Sammlungen des Goethehauses sür die deutsche Nation zu erwerben, hat es weder in den Zeiten des selig entschlafenen Deutschen Bundes, noch in unsern Tagen gefehlt. Sie find sämmtlich kläglich an dem Widerstand der beiden Enkel des Dichters, den beiden letzten Trägern des Namens Goethe, gescheitert. Und doch haben sich diese beiden Enkel nicht gescheut, mit den kostbarsten Reliquien des Hauses Handel zu treiben! Die Originale des Schiller-Goethescher Brief¬ wechsels entgingen der Verzettelung an Autographenhändler oder der Wanderung nach dem Auslande nur durch das Dazwischentreten der Cottaschen Buchhand¬ lung, welche diesen Schatz für sich erwarb. Die erste Gestalt des „Götz von Berlichingen" lag, als das Goethehans noch geöffnet war, im Arbeitszimmer des Dichters aus. Als die lange verschlossenen Pforten dem deutschen Schrift¬ stellertage vor etwa zwei Jahren erschlossen waren, wo war da die kostbare Handschrift geblieben? Schon lauge vor diesem Tage konnte man in Lvepers Kommentar zu „Dichtung und Wahrheit" die Andeutung finden, der König von Baiern sei jetzt der Hüter dieses Schatzes! Aus Riemers „Mitteilungen über Goethe," aus Eckermanns „Gesprächen" mit dem Dichter kann man ein statt¬ liches Verzeichnis von Goethemanuskripten aufstellen, die notwendigerweise im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/639>, abgerufen am 26.06.2024.