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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Zu Goethes funfzigjährigen Todestage.

Es ist erstaunlich, was die beiden letztverflossenen Jahrzehnte zum Studium
Goethes beigetragen haben. Eine eigne "Goethephilologie" hat sich gebildet.
Sie findet ihre Vertreter in den verschiedensten Berufsständen. Sie bietet, wie
die altklassische Philologie, Gelegenheit zu tief angelegten Untersuchungen, zu
Wortknaupeleien, zur Konjekturalkritik. Sie hat geistesfreie Jünger, die kühnen
Sinnes den geheimen oder verschlungenen Wegen des schaffenden Dichtergenius
nachgehen, in der Forschung wohl manchmal irren, aber stets fördern. Sie hat
Jünger, die mit Scheere und Leimtopf arbeiten, Wert ans Werk zusammen¬
kleben, die niemals irren, aber auch nie beleben. Sie gewährt auch dem Dilet¬
tanten Gelegenheit, billige Lorbern zu pflücken. Mag auch der strenge Forscher
dieselben arg zerzausen, nur allzu oft den geliehenen Flitterstaat von solchem
Bettelrock schonungslos herunterreißen, er wird den Nimbus der Leute, die mit
dem großen erborgten Namen prunkend prahlen und das "Sand in die Augen
werfen" so meisterlich verstehen, nicht ausrotten. Und wozu auch! Der Tisch,
der hier bereitet ist, ist so herrlich bestellt, daß eine gute Anzahl Schmarotzer
von den Brosamen, die ihm entfallen, mit gesättigt werden kann.

Daß eine Goethephilologie heute möglich ist, das ist vor allem einem
Manne zu danken: Salomon Hirzel. Er war vielleicht der feinfühligste Kenner
des Dichters, der je gelebt. Er war der Sammler der herrlichen Goethebiblio¬
thek, die, sein großartiges Vermächtnis an die Universität Leipzig, den Grundstock
für alle Arbeiten über den Dichter abgiebt und abgeben wird. Sein "neuestes
Verzeichnis" dieser Bibliothek war eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges.
Denn hier war das kritische Material, soweit es in Drucken vorliegt (nur
weniges fehlt), zum erstenmale in seiner Vollständigkeit zu überblicken, hier
mußte es klar werden, daß der Text des Dichters dieselbe philologische Arbeit
verlange, wie sie an den Schriftwerken des griechischen und römischen Alter¬
tums seit langem so erfolgreich geübt wird. Aus diesen reichen Schätzen gingen
die drei Bände hervor, die die Werke "des jungen Goethe in ihrer originalen,
fast unbekannt gewordenen Gestalt brachten. Die Ausgabe ist durchweg von
Salomon Hirzel selbst besorgt, der in der tiefen Bescheidenheit, die ihn während
seines ganzen Lebens auszeichnete, es verschmähte, seinen Namen ans den Titel
zu setzen, es verschmähte, in der Vorrede, die er einem andern zu schreiben
überließ, Rechenschaft über die eingeschlagene Methode der Textesanswahl und
Textesrekonstruktion zu geben. Es ist wirklich nicht bloß ein Abdruck der ersten
Ausgabe", der im "Jungen Goethe" uns geboten wird; überall zeigt sich Fein¬
fühligkeit, sicheres Treffen des Echten, kurz alles das, was den großen kritischen
Herausgeber macht. Der "Junge Goethe" hat denn auch zu regem Arbeiten
ermuntert. Man kaun sagen, daß die ersten Jahre dichterischen Schaffens
jetzt die bestgekannten ans dem ganzen Leben Goethes sind.

Noch etwas andres hat Salomon Hirzel, wenn auch uicht angeregt, so
doch gefördert, ja vielleicht erst ermöglicht. Wir meinen die ein für allemal


Zu Goethes funfzigjährigen Todestage.

Es ist erstaunlich, was die beiden letztverflossenen Jahrzehnte zum Studium
Goethes beigetragen haben. Eine eigne „Goethephilologie" hat sich gebildet.
Sie findet ihre Vertreter in den verschiedensten Berufsständen. Sie bietet, wie
die altklassische Philologie, Gelegenheit zu tief angelegten Untersuchungen, zu
Wortknaupeleien, zur Konjekturalkritik. Sie hat geistesfreie Jünger, die kühnen
Sinnes den geheimen oder verschlungenen Wegen des schaffenden Dichtergenius
nachgehen, in der Forschung wohl manchmal irren, aber stets fördern. Sie hat
Jünger, die mit Scheere und Leimtopf arbeiten, Wert ans Werk zusammen¬
kleben, die niemals irren, aber auch nie beleben. Sie gewährt auch dem Dilet¬
tanten Gelegenheit, billige Lorbern zu pflücken. Mag auch der strenge Forscher
dieselben arg zerzausen, nur allzu oft den geliehenen Flitterstaat von solchem
Bettelrock schonungslos herunterreißen, er wird den Nimbus der Leute, die mit
dem großen erborgten Namen prunkend prahlen und das „Sand in die Augen
werfen" so meisterlich verstehen, nicht ausrotten. Und wozu auch! Der Tisch,
der hier bereitet ist, ist so herrlich bestellt, daß eine gute Anzahl Schmarotzer
von den Brosamen, die ihm entfallen, mit gesättigt werden kann.

Daß eine Goethephilologie heute möglich ist, das ist vor allem einem
Manne zu danken: Salomon Hirzel. Er war vielleicht der feinfühligste Kenner
des Dichters, der je gelebt. Er war der Sammler der herrlichen Goethebiblio¬
thek, die, sein großartiges Vermächtnis an die Universität Leipzig, den Grundstock
für alle Arbeiten über den Dichter abgiebt und abgeben wird. Sein „neuestes
Verzeichnis" dieser Bibliothek war eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges.
Denn hier war das kritische Material, soweit es in Drucken vorliegt (nur
weniges fehlt), zum erstenmale in seiner Vollständigkeit zu überblicken, hier
mußte es klar werden, daß der Text des Dichters dieselbe philologische Arbeit
verlange, wie sie an den Schriftwerken des griechischen und römischen Alter¬
tums seit langem so erfolgreich geübt wird. Aus diesen reichen Schätzen gingen
die drei Bände hervor, die die Werke "des jungen Goethe in ihrer originalen,
fast unbekannt gewordenen Gestalt brachten. Die Ausgabe ist durchweg von
Salomon Hirzel selbst besorgt, der in der tiefen Bescheidenheit, die ihn während
seines ganzen Lebens auszeichnete, es verschmähte, seinen Namen ans den Titel
zu setzen, es verschmähte, in der Vorrede, die er einem andern zu schreiben
überließ, Rechenschaft über die eingeschlagene Methode der Textesanswahl und
Textesrekonstruktion zu geben. Es ist wirklich nicht bloß ein Abdruck der ersten
Ausgabe», der im „Jungen Goethe" uns geboten wird; überall zeigt sich Fein¬
fühligkeit, sicheres Treffen des Echten, kurz alles das, was den großen kritischen
Herausgeber macht. Der „Junge Goethe" hat denn auch zu regem Arbeiten
ermuntert. Man kaun sagen, daß die ersten Jahre dichterischen Schaffens
jetzt die bestgekannten ans dem ganzen Leben Goethes sind.

Noch etwas andres hat Salomon Hirzel, wenn auch uicht angeregt, so
doch gefördert, ja vielleicht erst ermöglicht. Wir meinen die ein für allemal


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[0638] Zu Goethes funfzigjährigen Todestage. Es ist erstaunlich, was die beiden letztverflossenen Jahrzehnte zum Studium Goethes beigetragen haben. Eine eigne „Goethephilologie" hat sich gebildet. Sie findet ihre Vertreter in den verschiedensten Berufsständen. Sie bietet, wie die altklassische Philologie, Gelegenheit zu tief angelegten Untersuchungen, zu Wortknaupeleien, zur Konjekturalkritik. Sie hat geistesfreie Jünger, die kühnen Sinnes den geheimen oder verschlungenen Wegen des schaffenden Dichtergenius nachgehen, in der Forschung wohl manchmal irren, aber stets fördern. Sie hat Jünger, die mit Scheere und Leimtopf arbeiten, Wert ans Werk zusammen¬ kleben, die niemals irren, aber auch nie beleben. Sie gewährt auch dem Dilet¬ tanten Gelegenheit, billige Lorbern zu pflücken. Mag auch der strenge Forscher dieselben arg zerzausen, nur allzu oft den geliehenen Flitterstaat von solchem Bettelrock schonungslos herunterreißen, er wird den Nimbus der Leute, die mit dem großen erborgten Namen prunkend prahlen und das „Sand in die Augen werfen" so meisterlich verstehen, nicht ausrotten. Und wozu auch! Der Tisch, der hier bereitet ist, ist so herrlich bestellt, daß eine gute Anzahl Schmarotzer von den Brosamen, die ihm entfallen, mit gesättigt werden kann. Daß eine Goethephilologie heute möglich ist, das ist vor allem einem Manne zu danken: Salomon Hirzel. Er war vielleicht der feinfühligste Kenner des Dichters, der je gelebt. Er war der Sammler der herrlichen Goethebiblio¬ thek, die, sein großartiges Vermächtnis an die Universität Leipzig, den Grundstock für alle Arbeiten über den Dichter abgiebt und abgeben wird. Sein „neuestes Verzeichnis" dieser Bibliothek war eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges. Denn hier war das kritische Material, soweit es in Drucken vorliegt (nur weniges fehlt), zum erstenmale in seiner Vollständigkeit zu überblicken, hier mußte es klar werden, daß der Text des Dichters dieselbe philologische Arbeit verlange, wie sie an den Schriftwerken des griechischen und römischen Alter¬ tums seit langem so erfolgreich geübt wird. Aus diesen reichen Schätzen gingen die drei Bände hervor, die die Werke "des jungen Goethe in ihrer originalen, fast unbekannt gewordenen Gestalt brachten. Die Ausgabe ist durchweg von Salomon Hirzel selbst besorgt, der in der tiefen Bescheidenheit, die ihn während seines ganzen Lebens auszeichnete, es verschmähte, seinen Namen ans den Titel zu setzen, es verschmähte, in der Vorrede, die er einem andern zu schreiben überließ, Rechenschaft über die eingeschlagene Methode der Textesanswahl und Textesrekonstruktion zu geben. Es ist wirklich nicht bloß ein Abdruck der ersten Ausgabe», der im „Jungen Goethe" uns geboten wird; überall zeigt sich Fein¬ fühligkeit, sicheres Treffen des Echten, kurz alles das, was den großen kritischen Herausgeber macht. Der „Junge Goethe" hat denn auch zu regem Arbeiten ermuntert. Man kaun sagen, daß die ersten Jahre dichterischen Schaffens jetzt die bestgekannten ans dem ganzen Leben Goethes sind. Noch etwas andres hat Salomon Hirzel, wenn auch uicht angeregt, so doch gefördert, ja vielleicht erst ermöglicht. Wir meinen die ein für allemal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/638>, abgerufen am 26.06.2024.