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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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ihnen sind in sich völlig abgerundete kleine Kunstwerke, nirgends etwas Zerhacktes,
Zerrissenes, aber auch nichts Erkünsteltes, Practentiöses, sondern alles in unge¬
zwungener Leichtigkeit dahinfließend -- Muster eines gemütlich plaudernde"
Briefstils.

In Detmold, wo neun Jahre vor ihm der unglückliche Grabbe geboren
wurde, hatte Freiligmth am 17. Juni 1810 das Licht der Welt erblickt. Sein
Vater, ein Schullehrer, ein einfacher, aber tüchtiger Mann, ließ ihm eine
sorgfältige Erziehung zu Teil werden, aber Rücksichten auf eine baldige Ver¬
sorgung bestimmten ihn, deu befähigten Sohn schon mit dem Is. Lebensjahre
dem Ghmuasium seiner Vaterstadt zu entnehmen und nach Soest zu einem Oheim
in die kaufmännische Lehre zu schicken. Diese Wendung, die über des Dichters
Lebensschicksal entschied und ihn später in einen so tief empfundenen Zwiespalt
zwischen seiner äußern Stellung und seinem innern Beruf brachte, scheint ihn
anfangs nicht unglücklich gemacht zu haben. Ju einem Briefe an einen Schul¬
freund spottet der neunzehnjährige Jüngling selber über dies Mißverhältnis und
sucht sich mit berühmten Vorbildern darüber zu trösten: "Wie? höre ich dich
rufen, ein Kübiosaktcs*) und Literatur? Ein im Öl-, Thran-, Herings-, Stock¬
fisch-, Kaffee- ?c. Duft versauerter Ladenjnnge und Poesie? El um, Freund!
war nicht Bretzner, der außer vielen andern Operntcxten auch den zu Belmonte und
Constanze dichtete, ein Kaufmann? Ist nicht W. Gerhard, dessen Gedichte (vor¬
züglich seine Wila oder Übersetzung serbischer Volkslieder) in den besten kri¬
tischen Instituten verdiente Anerkennung finden, ein Kaufmann? War nicht
Nicolai, der berühmte Nicolai, ein (freilich Buch-) Händler? Also, ich dichte!"
Dies geschah aber zunächst mir verstohlen, da die Prinzipale des jungen Kauf¬
manns dies Poetisiren mißbilligten, so daß er die Soester Wochenblätter, welche
die Erstlinge seiner Muße, natürlich anonhm, brachten, verstecken mußte.

Zwei Richtungen gehen in diesen Produkten der Soester Zeit in merk¬
würdiger Weise neben einander her: eine in Empfindnngs- und Ausdrucksweise
sich an die Vorbilder von Holls und Matthison anschließende sentimentale, so
daß Grabbe den junge" Dichter nicht mit Unrecht "unsern Matthison" nennen
konnte; daneben regt sich aber bereits jene kühne, weit in die Ferne schweifende
Phantasie, die bereits den echten Freiligrnth kennzeichnet. Schon das 1826 ent¬
standene, jetzt die Gedichtsammlung eröffnende "Moosthec" verrät in überraschender
Weise die charakteristische Eigentümlichkeit der Freiligrathschcn Lyrik. Mit diesen
seinen ureigensten Schöpfungen wagte freilich damals der junge Dichter noch
nicht an die Öffentlichkeit zu treten. Er sah sie selber, wie auch noch später,
als tolle Überspanntheiten an. "Lauter dummes Zeug" und ähnliche Urteile
über sie kehren öfter wieder. Und bei Überreichung von Vachmanus "Gnnlvda,
Westfälisches Taschenbuch für 1833," worin mehrere seiner Gedichte abgedruckt



*) Griechisch: Salzfischhcindler.

ihnen sind in sich völlig abgerundete kleine Kunstwerke, nirgends etwas Zerhacktes,
Zerrissenes, aber auch nichts Erkünsteltes, Practentiöses, sondern alles in unge¬
zwungener Leichtigkeit dahinfließend — Muster eines gemütlich plaudernde»
Briefstils.

In Detmold, wo neun Jahre vor ihm der unglückliche Grabbe geboren
wurde, hatte Freiligmth am 17. Juni 1810 das Licht der Welt erblickt. Sein
Vater, ein Schullehrer, ein einfacher, aber tüchtiger Mann, ließ ihm eine
sorgfältige Erziehung zu Teil werden, aber Rücksichten auf eine baldige Ver¬
sorgung bestimmten ihn, deu befähigten Sohn schon mit dem Is. Lebensjahre
dem Ghmuasium seiner Vaterstadt zu entnehmen und nach Soest zu einem Oheim
in die kaufmännische Lehre zu schicken. Diese Wendung, die über des Dichters
Lebensschicksal entschied und ihn später in einen so tief empfundenen Zwiespalt
zwischen seiner äußern Stellung und seinem innern Beruf brachte, scheint ihn
anfangs nicht unglücklich gemacht zu haben. Ju einem Briefe an einen Schul¬
freund spottet der neunzehnjährige Jüngling selber über dies Mißverhältnis und
sucht sich mit berühmten Vorbildern darüber zu trösten: „Wie? höre ich dich
rufen, ein Kübiosaktcs*) und Literatur? Ein im Öl-, Thran-, Herings-, Stock¬
fisch-, Kaffee- ?c. Duft versauerter Ladenjnnge und Poesie? El um, Freund!
war nicht Bretzner, der außer vielen andern Operntcxten auch den zu Belmonte und
Constanze dichtete, ein Kaufmann? Ist nicht W. Gerhard, dessen Gedichte (vor¬
züglich seine Wila oder Übersetzung serbischer Volkslieder) in den besten kri¬
tischen Instituten verdiente Anerkennung finden, ein Kaufmann? War nicht
Nicolai, der berühmte Nicolai, ein (freilich Buch-) Händler? Also, ich dichte!"
Dies geschah aber zunächst mir verstohlen, da die Prinzipale des jungen Kauf¬
manns dies Poetisiren mißbilligten, so daß er die Soester Wochenblätter, welche
die Erstlinge seiner Muße, natürlich anonhm, brachten, verstecken mußte.

Zwei Richtungen gehen in diesen Produkten der Soester Zeit in merk¬
würdiger Weise neben einander her: eine in Empfindnngs- und Ausdrucksweise
sich an die Vorbilder von Holls und Matthison anschließende sentimentale, so
daß Grabbe den junge« Dichter nicht mit Unrecht „unsern Matthison" nennen
konnte; daneben regt sich aber bereits jene kühne, weit in die Ferne schweifende
Phantasie, die bereits den echten Freiligrnth kennzeichnet. Schon das 1826 ent¬
standene, jetzt die Gedichtsammlung eröffnende „Moosthec" verrät in überraschender
Weise die charakteristische Eigentümlichkeit der Freiligrathschcn Lyrik. Mit diesen
seinen ureigensten Schöpfungen wagte freilich damals der junge Dichter noch
nicht an die Öffentlichkeit zu treten. Er sah sie selber, wie auch noch später,
als tolle Überspanntheiten an. „Lauter dummes Zeug" und ähnliche Urteile
über sie kehren öfter wieder. Und bei Überreichung von Vachmanus „Gnnlvda,
Westfälisches Taschenbuch für 1833," worin mehrere seiner Gedichte abgedruckt



*) Griechisch: Salzfischhcindler.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/607>, abgerufen am 26.06.2024.