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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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kauutlich die Selbstverwaltung. "Nur auf dieser Basis ist eine gedeihliche Re¬
form möglich" -- solche und ähnliche Nedenscirteu kann mau überall bis zum
Überdruß hören. Selbstverwaltung ist und bleibt das große Schlagwort des
Tages. Die komplizirtesten technische" Fragen mögen zur Diskussion stehen,
irgend jemand spricht das große Wort von der Selbstverwaltung gelassen aus,
und das erlösende Wort ist gefallen, die Sache ist erledigt. Und doch, wollte
mau bei der großen Masse derer, welche den Ruf nach Selbstverwaltung, sei
es an der Bierbank oder in Leitartikeln, so laut ertönen lassen, ernstliche Nach¬
frage halten, was denn eigentlich darunter zu verstehen sei, so ist tausend gegen
eins zu wetten, daß weitaus in den meisten Fällen beredtes Schweigen oder
ein endloser Wust allgemeiner Redensarten, der naturgemäße Ausdruck unklarer
Vorstellungen, die Antwort sein würde. Was Gneist von den Zeiten des Be¬
ginnes der Reformbewegung sagt: "Alles war einverstanden über Selbstver¬
waltung, verband aber damit entgegengesetzte, unvereinbare Ziele" gilt in geringer
Abschwächung noch hente. Kein Wunder; denn "eben da, wo die Begriffe
fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein." Ist doch selbst die Wissen¬
schaft bisher "och nicht duzn gelaugt, den Begriff so vollständig durchzuarbeiten,
daß er bereits Gemeingut der ganzen Nation hätte werde" können. Gerade
Greises eigne, für die ganze hier in Rede stehende Bewegung erst Bahn
brechende Schriften über das englische Selfgovernment tragen nicht zum
kleinsten Teile die Schuld an diesem Zustande. Das klingt paradox, ist aber
nichtsdestoweniger richtig. Unter dem gewaltigen Eindrucke, welchen seine
Darstellungen überall hervorriefen, war mau mir zu geneigt, in der eng¬
lische" Selbstverwciltuug überhaupt das Ideal aller Selbstverwaltung zu er¬
blicken, und man übersah demgemäß bei der Jmportirung des Begriffes "ach
Deutschland, daß mau alle englisch-nationalen Elemente hätte ausscheiden, von
allen Zufälligkeiten der aus dem langwierigen Gange eines geschichtlichen Ent¬
wicklungsprozesses allmählich herausgewachsenen, positiv geltenden Gestaltung
hätte abstrahiren müssen, um den reinen Begriff der staatsrechtliche" Theorie
zu gewinnen. Mit andern Worten, der Liberalismus hat hier einmal seiner
sonstigen Neigung zum Generalisiren entgegen die besondre geschichtliche Er¬
scheinungsform mit dem nllgemeiugiltigeu Typus verwechselt. Eben weil aber
das Wort Selbstverwaltung für uns noch keinen historisch gegebenen Inhalt hat,
so bedarf es der Definition. Und da stellt sich denn, wie Friedberg ("Be¬
steuerung der Gemeinden") sehr treffend nachweist, heraus, "daß mau gemeinig¬
lich uuter Selbstverwaltung zwei vollständig disparate Begriffe zu vereinige"
sucht: die Teilnahme der Staatsbürger a" der Staatsverwaltung i" Form des
vom Staate verliehenen Ehrenamtes einerseits, die selbständige Verwaltung der
örtlichen Interessen durch die Gemeinde andrerseits." Mu" muß sich diese
Doppelbedeutuug des Wortes stets gegenwärtig halten, um den heillose" Wirr¬
warr, de" eS ""gerichtet hat, z" begreife". Da es sich ohnehi" um Verband-


kauutlich die Selbstverwaltung. „Nur auf dieser Basis ist eine gedeihliche Re¬
form möglich" — solche und ähnliche Nedenscirteu kann mau überall bis zum
Überdruß hören. Selbstverwaltung ist und bleibt das große Schlagwort des
Tages. Die komplizirtesten technische» Fragen mögen zur Diskussion stehen,
irgend jemand spricht das große Wort von der Selbstverwaltung gelassen aus,
und das erlösende Wort ist gefallen, die Sache ist erledigt. Und doch, wollte
mau bei der großen Masse derer, welche den Ruf nach Selbstverwaltung, sei
es an der Bierbank oder in Leitartikeln, so laut ertönen lassen, ernstliche Nach¬
frage halten, was denn eigentlich darunter zu verstehen sei, so ist tausend gegen
eins zu wetten, daß weitaus in den meisten Fällen beredtes Schweigen oder
ein endloser Wust allgemeiner Redensarten, der naturgemäße Ausdruck unklarer
Vorstellungen, die Antwort sein würde. Was Gneist von den Zeiten des Be¬
ginnes der Reformbewegung sagt: „Alles war einverstanden über Selbstver¬
waltung, verband aber damit entgegengesetzte, unvereinbare Ziele" gilt in geringer
Abschwächung noch hente. Kein Wunder; denn „eben da, wo die Begriffe
fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein." Ist doch selbst die Wissen¬
schaft bisher »och nicht duzn gelaugt, den Begriff so vollständig durchzuarbeiten,
daß er bereits Gemeingut der ganzen Nation hätte werde» können. Gerade
Greises eigne, für die ganze hier in Rede stehende Bewegung erst Bahn
brechende Schriften über das englische Selfgovernment tragen nicht zum
kleinsten Teile die Schuld an diesem Zustande. Das klingt paradox, ist aber
nichtsdestoweniger richtig. Unter dem gewaltigen Eindrucke, welchen seine
Darstellungen überall hervorriefen, war mau mir zu geneigt, in der eng¬
lische« Selbstverwciltuug überhaupt das Ideal aller Selbstverwaltung zu er¬
blicken, und man übersah demgemäß bei der Jmportirung des Begriffes »ach
Deutschland, daß mau alle englisch-nationalen Elemente hätte ausscheiden, von
allen Zufälligkeiten der aus dem langwierigen Gange eines geschichtlichen Ent¬
wicklungsprozesses allmählich herausgewachsenen, positiv geltenden Gestaltung
hätte abstrahiren müssen, um den reinen Begriff der staatsrechtliche» Theorie
zu gewinnen. Mit andern Worten, der Liberalismus hat hier einmal seiner
sonstigen Neigung zum Generalisiren entgegen die besondre geschichtliche Er¬
scheinungsform mit dem nllgemeiugiltigeu Typus verwechselt. Eben weil aber
das Wort Selbstverwaltung für uns noch keinen historisch gegebenen Inhalt hat,
so bedarf es der Definition. Und da stellt sich denn, wie Friedberg („Be¬
steuerung der Gemeinden") sehr treffend nachweist, heraus, „daß mau gemeinig¬
lich uuter Selbstverwaltung zwei vollständig disparate Begriffe zu vereinige»
sucht: die Teilnahme der Staatsbürger a» der Staatsverwaltung i» Form des
vom Staate verliehenen Ehrenamtes einerseits, die selbständige Verwaltung der
örtlichen Interessen durch die Gemeinde andrerseits." Mu» muß sich diese
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[0544] kauutlich die Selbstverwaltung. „Nur auf dieser Basis ist eine gedeihliche Re¬ form möglich" — solche und ähnliche Nedenscirteu kann mau überall bis zum Überdruß hören. Selbstverwaltung ist und bleibt das große Schlagwort des Tages. Die komplizirtesten technische» Fragen mögen zur Diskussion stehen, irgend jemand spricht das große Wort von der Selbstverwaltung gelassen aus, und das erlösende Wort ist gefallen, die Sache ist erledigt. Und doch, wollte mau bei der großen Masse derer, welche den Ruf nach Selbstverwaltung, sei es an der Bierbank oder in Leitartikeln, so laut ertönen lassen, ernstliche Nach¬ frage halten, was denn eigentlich darunter zu verstehen sei, so ist tausend gegen eins zu wetten, daß weitaus in den meisten Fällen beredtes Schweigen oder ein endloser Wust allgemeiner Redensarten, der naturgemäße Ausdruck unklarer Vorstellungen, die Antwort sein würde. Was Gneist von den Zeiten des Be¬ ginnes der Reformbewegung sagt: „Alles war einverstanden über Selbstver¬ waltung, verband aber damit entgegengesetzte, unvereinbare Ziele" gilt in geringer Abschwächung noch hente. Kein Wunder; denn „eben da, wo die Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein." Ist doch selbst die Wissen¬ schaft bisher »och nicht duzn gelaugt, den Begriff so vollständig durchzuarbeiten, daß er bereits Gemeingut der ganzen Nation hätte werde» können. Gerade Greises eigne, für die ganze hier in Rede stehende Bewegung erst Bahn brechende Schriften über das englische Selfgovernment tragen nicht zum kleinsten Teile die Schuld an diesem Zustande. Das klingt paradox, ist aber nichtsdestoweniger richtig. Unter dem gewaltigen Eindrucke, welchen seine Darstellungen überall hervorriefen, war mau mir zu geneigt, in der eng¬ lische« Selbstverwciltuug überhaupt das Ideal aller Selbstverwaltung zu er¬ blicken, und man übersah demgemäß bei der Jmportirung des Begriffes »ach Deutschland, daß mau alle englisch-nationalen Elemente hätte ausscheiden, von allen Zufälligkeiten der aus dem langwierigen Gange eines geschichtlichen Ent¬ wicklungsprozesses allmählich herausgewachsenen, positiv geltenden Gestaltung hätte abstrahiren müssen, um den reinen Begriff der staatsrechtliche» Theorie zu gewinnen. Mit andern Worten, der Liberalismus hat hier einmal seiner sonstigen Neigung zum Generalisiren entgegen die besondre geschichtliche Er¬ scheinungsform mit dem nllgemeiugiltigeu Typus verwechselt. Eben weil aber das Wort Selbstverwaltung für uns noch keinen historisch gegebenen Inhalt hat, so bedarf es der Definition. Und da stellt sich denn, wie Friedberg („Be¬ steuerung der Gemeinden") sehr treffend nachweist, heraus, „daß mau gemeinig¬ lich uuter Selbstverwaltung zwei vollständig disparate Begriffe zu vereinige» sucht: die Teilnahme der Staatsbürger a» der Staatsverwaltung i» Form des vom Staate verliehenen Ehrenamtes einerseits, die selbständige Verwaltung der örtlichen Interessen durch die Gemeinde andrerseits." Mu» muß sich diese Doppelbedeutuug des Wortes stets gegenwärtig halten, um den heillose» Wirr¬ warr, de» eS «»gerichtet hat, z» begreife». Da es sich ohnehi» um Verband-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/544>, abgerufen am 26.06.2024.